Anliegen im 2. Halbjahr 2002

  • Übersetzung der Koordinationsgruppe Türkei

Verbindlich ist das Original: amnesty international Concerns in Europe and Central Asia July – December 2002: Turkey

Anliegen in Europa und Zentralasien Juli – Dezember 2002 TÜRKEI

Dieser Länderbericht ist dem Dokument CONCERNS IN EUROPE AND CENTRAL ASIA: July – December 2002 (AI Index: EUR 01/002/2003) entnommen, das amnesty international herausgegeben hat. Für Informationen über weitere Anliegen von amnesty international in Europa und Zentralasien sollte das vollständige Dokument herangezogen werden.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

In der zweiten Hälfte des Jahres 2002 verabschiedete das Parlament das dritte, als „Harmonisierungs-Gesetze“ bezeichnete Gesetzgebungs-Paket in diesem Jahr, das die Erfüllung der Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union zum Ziel hatte. Das Paket vom 3. August baute auf die Verfassungsänderungen vom 17. Oktober 2001 (Gesetz 4709) und die Gesetzgebungspakete vom Februar 2002 (Gesetz 4744) und März 2002 (Gesetz 4748) auf und enthielt verschiedene Schlüsselelemente zur Einführung gesetzlicher Garantien von Menschenrechten. Besonders erwähnenswert im August-Paket (das als Gesetz 4771 verabschiedet wurde) waren die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten und die Aufhebung von Beschränkungen bei Sprachkursen und Sendungen in Minderheitensprachen, wenn gleich die letzte Reform eine Reihe von Bestimmungen enthielt die in der Praxis wieder zu Einschränkungen führen. Die Verabschiedung weiterer Gesetze mit Bezug zu Menschenrechten wurde für 2003 erwartet.

Der Wahlsieg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter Vorsitz von Recep Tayyip Erdoğan am 3. November beendeten die Jahre der Koalitionsregierungen. Wegen einer Gefängnisstrafe, zu der er 1999 wegen des öffentlichen Vortrags eines Gedichtes in einer gewaltlosen Rede 1997 verurteilt worden war – weswegen er von ai als gewaltloser politischer Gefangener adoptiert wurde – konnte Tayyip Erdoğan nicht selbst für einen Sitz im Parlament kandidieren oder das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Nach der Wahl wurde Abdullah Gül zum Ministerpräsidenten ernannt. Die neue Regierung hat betont, dass sie eine Politik der “Null Toleranz” gegenüber der Folterpraxis im Polizeigewahrsam betreiben wird. Ob die neuen Gesetze und der öffentlich bekundete politische Willen, Menschenrechtsverletzungen nicht zu tolerieren Wirkung zeigen, wird sich in den kommenden Monate erweisen.

Der Ausnahmezustand wurde am 31. Juli in den Provinzen Tunceli und Hakkari und am 30. November in den Provinzen Diyarbakır und Şırnak offiziell aufgehoben.

Gesetzgebung während des Beitrittsprozesses zur EU

Das Gesetz 4771 besteht aus verschiedenen Elementen. Neue Bestimmungen im Gesetz über das Lernen und Unterrichten von Fremdsprachen und das Gesetz über die Einrichtung von Radio- und Fernsehkanälen und deren Sendungen erlauben “private Kurse” bzw. “Sendungen” in “verschiedenen Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gebraucht werden”. Dies beendet insbesondere das Verbot von kurdischsprachigen Sendungen und Kurdisch-Unterricht. In beiden Fällen ist jedoch auch die Bedingung enthalten, dass Sprachkurse und Sendungen in den verschiedenen Sprachen und Dialekten “nicht den grundlegenden Prinzipien der Türkischen Republik, wie sie in der Verfassung niedergelegt sind, und der unteilbaren Einheit des Staates in Territorium und Nation widersprechen dürfen”. Solche Formulierungen können – und wurden in der Vergangenheit – benutzt werden, um gewaltlose Aussagen zur Kurdenfrage oder zur Rolle des Islam in Politik und Gesellschaft zu kriminalisieren. Die Änderungen in beiden Gesetzen sind wichtige Schritte, die Umsetzung eines jeden ist jedoch restriktiv. Eine Verordnung vom 18. Dezember sieht nur zwei Stunden Fernsehsendungen pro Woche in “verschiedenen Sprachen und Dialekten” vor, und vier Stunden pro Woche im Radio. Die Sendungen dürfen ausschließlich von staatlichen Fernseh- und Radioanstalten ausgestrahlt werden; im Fall von Radiosendungen muss anschließend eine vollständige türkische Übersetzung des Programms folgen; Fernsehsendungen müssen mit türkischen Untertiteln versehen sein. Die Verordnungen zu Sprachkursen beschränken diese auf Wochenenden und Ferienzeiten. Sie können nur von Schülern mit abgeschlossener achtjähriger Grundschulerziehung besucht werden. Sendungen und Sprachkurse werden wohl frühestens in einigen Monaten beginnen können.

Eine weitere wichtige Änderung in den Harmonisierungsgesetzen, die Anfang 2003 umgesetzt werden soll, erlaubt auf Antrag die Wiederaufnahme von Zivil- und Strafprozessen, wenn der Europäischen Menschenrechtsgerichtshof abweichend zu den türkischen Gerichten entschieden hat. Dies eröffnet den Weg zur Wiederaufnahme einiger bekannter Fälle, darunter desjenigen der eingesperrten Parlamentsabgeordneten der Demokratie-Partei (DEP) – Leyla Zana, Hatip Dicle, Orhan Doğan und Selim Sadak – die von ai als gewaltlose politische Gefangene adopiert wurden.

Folter

Ein Teil der neuen Gesetze hatte zum Ziel, die Verfahrensvorschriften für Festnahme und Arrest in Übereinstimmung mit internationalen Standards zu bringen. Viele der Bedingungen, unter denen Folter und Misshandlung stattgefunden haben, bestehen jedoch weiterhin und haben sich durch die neuen Reformen nicht wesentlich geändert. Am 18. September wurden neue Verordnungen erlassen die die Polizei verpflichten, Festgenommenen ihre Rechte vorzulesen und sie, wenn sie in Gewahrsam genommen werden, über die Vorwürfe gegen sie zu informieren. Festgenommenen wurde das Recht zugesichert, einen Verwandten anzurufen und über die Festnahme zu informieren. Der Zeitraum für Polizei- und Gendarmeriehaft wurde auf vier Tage beschränkt und darf nur durch die Anordnung eines Gerichts verlängert werden. Weiterhin erhielten Festgenommene das ausdrückliche Recht, einen Arzt ohne Anwesenheit eines Sicherheitsbeamten zu konsultieren. Es gibt bisher wenig Anzeichen, dass diese Bestimmungen in der Praxis umgesetzt werden.

So wurde in der Theorie die Dauer der Incommunicado-Haft für Festgenommene, denen Verbrechen unter der Rechtsprechung der Staatssicherheitsgerichte vorgeworfen werden, auf 48 Stunden verkürzt. amnesty international hat jedoch erneut festgestellt, dass sie in der Praxis länger dauern kann und Foltergefahr sogar dann besteht, wenn die 48 Stunden eingehalten werden. amnesty international ist besorgt, dass in den meisten Fällen Folter ab den ersten Stunden nach der Festnahme angewendet wird, wie die unten beschriebenen Fälle von N.C. und S.Y. zeigen, die sich mehr als 48 Stunden in Incommunicado-Haft befanden. In Übereinstimmung mit den Empfehlungen des Europäischen Komitees für die Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment CPT) fordert amnesty international, dass die Zeitbeschränkungen vollständig abgeschafft anstatt eingeschränkt werden, und die Sicherung des Rechts auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Dieser Schritt könnte zum Verschwinden von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam beitragen.

Wie der Bericht Systematische Folter dauert auch Anfang 2002 an (AI Index: EUR/44/040/2002) belegt, wurden weiterhin Foltervorwürfe erhoben. Gleichzeitig wurde eine zunehmende Anwendung von Foltermethoden festgestellt, die keine sichtbaren Spuren am Körper hinterlassen. Personen, von denen angenommen werden kann, dass sie kaum Zugang zu juristischem und ärztlichen Beistand haben, waren jedoch weiterhin Folter-methoden wie Elektroschocks, Aufhängen an den Armen und falaka (Schläge auf die Fuß-sohlen) ausgesetzt. Festgenommenen wurden regelmäßig während der Verhöre die Augen verbunden. Andere regelmäßig berichtete Methoden von Folter und Misshandlung waren: Schwere Schläge, sexuelle Misshandlung, Abspritzen mit kaltem unter Druck stehendem Wasser, Entkleiden während der Verhöre, Drohung mit Ermordung oder Vergewaltigung, andere Formen psychologischer Folter, Entzug von Schlaf, Essen, Trinken und der Benutzung der Toilette. Nach Aussagen, die im Bericht Türkei: Sexuelle Gewalt gegen Frauen in Polizeihaft muss beendet werden! (AI Index: EUR 44/006/2003) doku-mentiert sind, wurden festgenommene Frauen häufig sexuell misshandelt, mit Vergewal-tigung bedroht und in einigen Fällen tatsächlich vergewaltigt.

Remzi Karaduman, Uğur Uşar und Reşat Uşar wurden am 26. Juli in Ankara von Beamten der Anti-Terror-Abteilung des Polizeihauptquartiers Ankara festgenommen (AI Index: EUR 44/035/2002). Ihnen wurden Verbindungen zur illegalen bewaffneten Organi-sation Hizbullah nachgesagt. Am 28. Juli wurden sie in die Anti-Terror-Abteilung des Polizeihauptquartiers in Diyarbakır überstellt und am 31. Juli vor ein Gericht gebracht. Die drei Männer berichteten anschließend, dass sie während dieser Zeit gefoltert und misshandelt wurden, unter anderem mit Schlägen und Elektroschocks bereits im Polizeigewahrsam in Ankara. Nach der Überstellung nach Diyarbakır wurde es noch schlimmer. Ihre Vorwürfe enthalten: Abspritzen mit kaltem unter Druck stehendem Wasser, Quetschen der Hoden, die Augen ständig verbunden, Elektroschocks an Füßen, Penis und Brustwarzen, Zwang zum ständigen Stehen, wobei die Handgelenke an einen erhöhten Punkt gefesselt waren, Verweigerung von Essen und Trinken. Durch Polizeibeamte, die auf ihren Schultern saßen, wurden ihre Köpfe zwischen die Beine gedrückt. Ein nicht genannter Richter notierte im Protokoll der Gerichtsverhandlung am 31. Juli, die Gefangenen wären “müde, erschöpft und nicht in der Lage zu gehen” und wies den Antrag des Gouverneurs für die Ausnahmezustands-Region zurück, den Zeitraum der Polizeihaft zu verlängern. Die drei Männer wurden daher in das E-Typ-Gefängnis in Diyarbakır verlegt. Am 1. August wurde die Entscheidung des Richters jedoch vom Staatssicherheitsgericht Nr. 4 in Diyarbakır aufgehoben und die Männer nach den Bestimmungen von Artikel 3/c des Dekrets 430 – nach dem im Ausnahmezustandsgebiet Personen vom Gefängnis in Polizeigewahrsam zurück überstellt werden können, um dort weitere zehn Tage verhört zu werden – wieder in Polizeihaft gebracht. amnesty international hat zahlreiche Berichte von Personen erhalten, die durch wiederholte Anwendung des Dekrets 430 längere Zeiträume in Polizeigewahrsam verbracht haben. Das Europäische Anti-Folter-Komitee (CPT) hat seine ernste Besorgnis über die Anwendung von Dekret 430 ausgedrückt als einer Vorschrift, welche die Wahrscheinlichkeit von Folter erhöhen kann. Ein anderer auffallender Aspekt in diesem Fall war die Tatsache, dass das Gerichtsmedizinische Institut in Diyarbakır, an dem die drei Männer am 1. August aufgrund ihrer Foltervorwürfe untersucht wurden, sie zur sofortigen weiteren und spezialisierteren Untersuchung an die Medizinische Fakultät der Universität Dicle überwies. Das geschah aber offensichtlich nicht, sondern die Männer wurden stattdessen sofort in Polizeigewahrsam zurück gebracht. Der Rechtsanwalt Vedat Karaduman, der seine Klienten am 4. August in der Anti-Terror-Abteilung des Polizeihauptquartiers in Diyarbakır aufsuchte hatte den starken Eindruck, dass sie gefoltert worden waren. Nachdem er wegen der Folter Anzeige erstattet hatte wurden die Festgenommenen mehr als zwei Wochen später – am 16. August – tatsächlich zur Untersuchung an die Fakultät für Medizin der Universität Dicle gebracht, wie es das Gerichtsmedizinische Institut am 1. August empfohlen hatte. Sowohl das Verfahren gegen die drei Männer wie der Versuch ihres Rechtsanwalts, ihre Foltervorwürfe strafrechtlich verfolgen zu lassen, werden fortgesetzt.

Sexuelle Folter weiblicher Festgenommener

Zwei aktuelle Fälle, bei denen Folterungen ähnlicher Art berichtet wurden, sind diejenigen von N.C. und S.Y., die unabhängig voneinander festgenommen wurden, N.C. am 23. September 2002 und S.Y. einen Tag später, beide wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in ille-galen Organisationen (EUR 44/006/2003). Beide wurden zur Anti-Terror-Abteilung im Istanbuler Polizeihauptquartier gebracht und am 27. September in ein Gefängnis überstellt. S.Y. berichtete über ihre Zeit in Polizeigewahrsam folgendes: Ihr wurden mehrfach die Augen verbunden und sie wurde ständig beschimpft. Wiederholt wurde sie gezwungen den Mund öffnen damit ein Polizeibeamter hineinspucken konnte. Wegen des Speichels in ihrem Mund musste S.Y. würgen. Während andere Beamte ihre Hände auf dem Rücken festhielten wurde sie mehrfach auf den Kopf geschlagen um zu verhindern, dass sie den Speichel ausspuckte, wodurch sie verwirrt und benommen wurde. Sie wurde an den Haaren gepackt und auf den Boden geworfen und mit Worten beschimpft wie “Hure, schau in welchem Zustand du bist. Was ist der Unterschied zwischen dir und einer Hure.” Sie sei gefragt worden, ob sie eine Jungfrau sei oder nicht, und beleidigt, weil sie Alevitin ist. Sie sagte aus, dass sie am Schlafen gehindert worden sei und nichts zu essen und zu trinken bekommen habe. Während ihr die Augen verbunden waren musste sie sich nackt ausziehen, worauf sie von den Polizisten beschimpft und verhöhnt wurde. Einer der Beamten zog sich ebenfalls aus und rieb seine Hände und seinen Penis an ihr. Anschließend sei sie nackt zur Toilette gebracht und mit kaltem, unter Druck stehendem Wasser abgespritzt worden. Am letzten Tag ihrer Polizeihaft sei sie wieder nackt ausgezogen und sexuell belästigt worden. Sie sagt aus, dass sie mit analer Vergewaltigung mittels des Hochdruckwasserschlauchs bedroht wurde, aus dem zuvor das Wasser auf sie gespritzt worden war. Die Polizisten hätten versucht ihr den Schlauch in den Anus einzuführen. Auch N.C. berichtete, dass sie in ähnlicher Weise wie S.Y. sexueller Folter unterworfen wurde. Unter anderem sei sie mit Vergewaltigung bedroht und an ihre eine Vergewaltigung vorgetäuscht worden, und ihr wäre ein Penis in den Mund eingeführt worden, während ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Beide Frauen berichteten anschließend über ungewöhnliche Blutungen und Schmerzen am Unterleib. Informationen, ob die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die beschuldigten mutmaßlichen Folterer aufnehmen wird, liegen noch nicht vor.

F-Typ Gefängnisse und verlängerte Einzelhaft

Isolation in Gefängnissen wurde weiterhin heftig debattiert. Die Behörden setzten den Bau und die Umwandlung vorhandener Gefängnisse in sogenannte F-Typ Gefängnisse fort, die aus kleinen Zellen bestehen und das Ende des Systems großer Säle bedeuten. Tausende Insassen von F-Typ Gefängnissen wurden in verlängerter Einzelhaft gehalten oder in “Kleingruppen”-Isolation, was sich zu grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung darstellen kann. Obwohl der Justizminister im Oktober die Bestimmung aufhob, dass Häftlinge sich nur dann zu privaten Gesprächen treffen konnten, wenn sie an Erzie-hungsprogrammen teilnahmen, sind solche Begegnungen noch auf fünf Stunden pro Woche beschränkt, was nicht den Empfehlungen des Europäischen Anti-Folter-Komitees entspricht. Es gab zahlreiche Berichte über Misshandlungen von Häftlingen in F-Typ-Gefängnissen, die auf Grund des beschränkten Zugangs jedoch nur sehr schwer überprüft werden können.

amnesty international war ebenfalls besorgt, dass dem verurteilten PKK-Führer Abdullah Öcalan, der sich seit 1999 in Einzelhaft in einem Gefängnis auf der Insel İmralı in der Marmara-Meer befindet, der Besuch seiner Rechtsanwälte und seiner Familie vorenthalten wurde. Ab dem 9. Oktober und wieder ab dem 27. November 2002 wurden die wöchentlichen Besuche der Rechtsanwälte und Familie von den Behörden verhindert, angeblich weil das Wetter die Reise zu der Insel in den zur Verfügung stehenden kleinen Booten nicht zuließ. Berichten zufolge waren die Behörden nicht willens, den Betroffenen den Transport zur Insel in einem stabileren Boot oder einem Hubschrauber zu ermöglichen. amnesty international drängte die türkischen Behörden, die Praxis der Einzelhaft bei allen Gefangenen zu beenden, und im Fall von Abdullah Öcalan unverzüglich Schritte zu unternehmen um den regelmäßigen Besuch seiner Rechtsanwälte und Familie zu gewährleisten.

Straflosigkeit

Die vom Parlament im Dezember verabschiedeten Gesetze bewirken, dass die Strafen für Folter und Vergewaltigung nicht länger in Geldstrafen umgewandelt und ausgesetzt werden können. amnesty international begrüßt diesen Schritt, auch wenn die Besorgnis darüber bleibt, dass nur sehr wenige Verfahren gegen der Folter und Misshandlung Beschuldigte auch zu Verurteilungen führen.

Eine positive Entwicklung war die Verurteilung von zehn Polizeibeamten zu Haft-strafen zwischen fünf und elf Jahren wegen Folterung der “Jugendlichen von Manisa” am 16. Oktober. In diesem in der Öffentlichkeit stark beachteten Fall ging es um 16 junge Leute zwischen 14 und 26 Jahren, die während des Gewahrsams im Polizeihauptquartier in Manisa (Westtürkei) zwischen Dezember 1995 und Januar 1996 gefoltert worden. Einzelheiten der Folterungen der “Jugendlichen von Manisa” – sie wurden wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer illegalen linksextremen Organisation festgenommen – lassen erschaudern. Die Opfer berichteten, dass sie im Polizeigewahrsam nackt ausgezogen, sexuell angegriffen, an den Armen aufgehängt und Elektroschocks unterworfen wurden.

Im Verlauf des Verfahrens hatte es so ausgesehen, als könnten die Verantwortlichen in den Genuss der Straflosigkeit kommen, von der in der Vergangenheit viele Folterer profi-tiert hatten – trotz ärztlicher Atteste und Augenzeugenberichten, welche die Foltervorwürfe der Opfer bestätigten. Zum Beispiel wurden die Beamten 1998 und 1999 freigesprochen, und der Staatsanwalt hatte versucht, die Anklage von Folter auf Misshandlung abzuschwächen, trotz der Schwere der zugefügten Schmerzen und Leiden. Wäre der Prozess und die damit zusammenhängenden Verfahren nicht in der Verhandlung am 16. Oktober beendet worden, wäre der Fall geschlossen worden. Die Zeit hätte nicht gereicht, um vor Juni 2003 vor das Berufungsgericht zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt wäre die Verjährung eingetreten. Diese Möglichkeit besteht auch noch weiterhin. Wenn das Berufungsgericht das Urteil nicht bis Juni 2003 bestätigt, wird das Verfahren aufgrund der Verjährung eingestellt.

Die Faktoren, die zu Straflosigkeit führen, blieben jedoch zum Großteil unverändert. In anderen, weniger prominenten Fällen wird den Opfern von Folter und Misshandlung Gerechtigkeit verweigert. Hacı İnan, Kamuran Kabul, Mehmet Kartal, Mehmet Baysal, Mehmet Ebuzeyitoğlu und Derviş Algül gehörten zu einer Gruppe von etwa 20 Personen, die am 21. März 2000 in Şırnak festgenommen und Berichten zufolge im Polizeihauptquartier von Şırnak gefoltert worden waren. Zu den Foltermethoden gehörten Elektroschocks, Schläge mit einem Schlagstock auf die Hände, und Abspritzen mit unter Druck stehendem Wasser. Auf dem Weg zu einer ärztlichen Untersuchung drohten die Polizeibeamten, die Festgenommenen zu töten falls sie die Folter erwähnen würden. Die meisten Ärzte hatten Angst zu dokumen-tieren was sie feststellten. Den Berichten zufolge sagte ein Arzt zu einem der Festgenommenen: “Wenn ich Folterwunden attestiere, werde ich selbst gefoltert.” Andere Ärzte erlaubten nicht, dass Polizeibeamte im Untersuchungsraum anwesend waren und einer bestätigte, dass Hacı İnan eine durch Schläge verursachte Wunde an der Hand hatte. Als die Gruppe nach 10 Tagen zum Gefängnis in Mardin gebracht wurde weigerte sich der Gefängnisdirektor wegen der Wunden, die Häftlinge aufzunehmen.

Die sechs Männer reichten wegen der Folterungen Klage ein. Am 18. Juli 2000 entschied der Staatsanwalt von Şırnak jedoch, den Fall nicht weiter zu verfolgen. Nachdem die Rechtsanwälte der Männer Beschwerde gegen diese Entscheidung eingelegt hatten, wurde am 25. September 2001 ein Verfahren vor dem Strafgericht in Şırnak eröffnet. Fünf Polizeibeamte wurden wegen Folter und sechs Ärzte wegen Fälschung von Dokumenten (weil sie die Verletzungen der sechs Männer nicht dokumentiert hatten) angeklagt. Am 12. September 2002 entschied das Gericht jedoch, die Angeklagten ausg “Mangel an Beweisen” freizusprechen – trotz vorhandener medizinischer Atteste, die mit den Foltervorwürfen überein stimmten.

Druck auf Menschenrechtsverteidiger und Einschränkungen der Redefreiheit

Die Menschenrechtsverteidiger in der Türkei sahen sich weiterhin juristischen Schikanen, Einschüchterungen und Strafverfolgung ausgesetzt.

Im Oktober wurde ein Verfahren gegen Sezgin Tanrıkulu, Eren Keskin und Pınar Selek eröffnet wegen Reden, die sie auf einem Menschenrechtssymposium gehalten hatten. Das Symposium am 8. Dezember 2001 war vom Menschenrechtsverein in Diyarbakır organisiert worden. Die Anklage lautet auf Beleidigung der türkischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte nach Artikel 159/1 des türkischen Strafgesetzbuches. In ihren Reden waren sie insbesondere auf die systematische Anwendung von Folter von Festgenommenen in der Türkei eingegangen.

Kiraz Biçici, Vorsitzende der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins in Istanbul, wurde am 5. November vom Staatssicherheitsgericht Istanbul wegen “Unterstützung einer illegalen Organisation” nach Artikel 169 des türkischen Strafgesetzbuches zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Die Anklage gegen Kiraz Biçici stützte sich auf Bemerkungen, die sie während der Teilnahme an einem Telefoninterview bei einer Fernsehsendung am 20. Dezember 2000 gemacht hatte. In der Sendung von Medya TV, einem kurdischen Sender mit Sitz in Brüssel, wurde die Gefängnisoperation (Erstürmung von Gefängnissen) der Sicherheitskräfte vom Vortag diskutiert, bei der ca. 30 Menschen zu Tode gekommen waren. Kiraz Biçici hatte den türkischen Staat wegen der Operation kritisiert, bei der Berichten zufolge direkt in die Reihen der Gefangenen gefeuert worden war. Der Staatsanwalt war der Auffassung, dass ihre Kommentare eine Unterstützung der Aktivitäten illegaler bewaffneter Oppositionsgruppen gegen die von den Sicherheitskräften durchgeführte Operation darstellten. In ihrer Verteidigung erklärte Kiraz Biçici, dass sie als Menschenrechtsverteidigerin zu ihren Aussagen über die Operation stehen würde und ihre Ziel nicht gewesen sei, irgendeine Organisation zu unterstützen. Sie wurde nicht festgenommen und legte anschließend Berufung gegen das Urteil ein.

Eren Keskin war in Verbindung mit ihren Menschenrechtsaktivitäten bereits in ca. 86 Verfahren angeklagt. Im November wurde sie direkt von der Istanbuler Anwaltskammer, der örtlichen Organisation der landesweiten Standesvertretung von Mitgliedern ihres eigenen Berufs, angegriffen. Bis dahin hatte diese den Ruf eines starken Verteidigers in Menschenrechtsprozessen in der Türkei. Unter Verweis auf ein Urteil gegen Eren Keskin, das 1997 verhängt und dann ausgesetzt worden war, entschied die Istanbuler Anwaltskammer unter Aufgabe der bisherigen Bemühungen, die Arbeit von Rechtsanwälten in Menschenrechtsfällen zu unterstützen, eine umstrittene Entscheidung der türkischen Vereinigung der Rechtsanwaltskammern umzusetzen und die Zulassung von Eren Keskin als Rechtsanwältin für ein Jahr auszusetzen. Diese besorgniserregende Abkehr vom bisherigen Verhalten kann ein neues Mittel der Zensur bedeuten. Eren Keskin kann nun vorläufig nicht mehr als Menschenrechtsanwältin arbeiten. Sie hat gegen das Urteil Berufung eingelegt.