Türkei
Memorandum an den türkischen Ministerpräsidenten anlässlich des Besuchs einer Delegation unter Leitung von Irene Khan, Generalsekretärin von amnesty international, Februar 2004
VOM PAPIER IN DIE PRAXIS: DEN WANDEL WIRKLICHKEIT WERDEN LASSEN
Die letzten zweieinhalb Jahre, besonders das Jahr 2003, haben eine Periode nie da gewesener gesetzgeberischer Reformen in der Türkei erlebt. Verfassungsänderungen gefolgt von legislativen Reformpaketen (die ‘Harmonisierungsgesetze’) wurden verabschiedet, um türkische Gesetze in Einklang mit internationalem Recht zu bringen und die Politischen Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, die für diejenigen Länder maßgeblich sind, welche der Europäischen Union (EU) beitreten wollen. Viele dieser Gesetzesreformen in der Zeit vor dem Beitritt betreffen den Schutz der Menschenrechte. Aus diesem Grund betrachtet amnesty international den zum Beitritt führenden Prozess als eigenständige positive Entwicklung für die Türkei, ihre Bürger und alle, die in diesem Rechtssystem leben. Der Status als Kandidatin für den EU-Beitritt bedeutet, dass die Nennung eines Datums für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für die Türkei eher eine Frage des ‘wann’ als des ‘ob’ ist. Der Beitrittsprozess und, sobald sie aufgenommen werden, die Beitrittsverhandlungen geben einen Zeitrahmen und Kriterien für den Wandel vor.
Für eine Organisation, die sich mit der Stärkung des Menschenrechtsschutzes überall auf der Welt befasst, genießen die Umsetzung von Gesetzesreformen in diesem Bereich und der Wille von Regierungen zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen höchste Priorität – unabhängig von ihrer Verbindung mit politischen Zielen wie dem Erreichen der Mitgliedschaft in der EU. amnesty international gibt keine Stellungnahmen ab für oder gegen die Mitgliedschaft eines Landes in einem politischen Block. Die Menschen überall in der Welt haben Anspruch auf die bestmöglichen Standards des Menschenrechtsschutzes. Organisationen der Zivilgesellschaft, Gewerkschafter, politische Aktivisten, Studenten und Intellektuelle haben in der Türkei einen langen Kampf mit großen Opfern für bessere Rechte für alle geführt. Die Selbstverpflichtung der türkischen Regierung zum EU-Beitrittsprozess baut auf ihrer langjährigen Arbeit auf.
amnesty international stellt fest, dass wirklicher, grundlegender Fortschritt beim Schutz der Menschenrechte in der Türkei erfordert, dass der gegenwärtige Elan von allen staatlichen Akteuren und allen Teilen der Gesellschaft verinnerlicht wird; es muss wesentlich mehr werden als die Erfüllung von außen auferlegter Kriterien. Die bisherigen Reformen waren ermutigend, aber tatsächlicher Wandel wird sich nur einstellen, wenn sie vollständig und nachhaltig umgesetzt werden.
Schwerste Menschenrechtsverletzungen sind in der jüngsten Geschichte der Türkei des öfteren vorgekommen. Auch in der Gegenwart gibt es Berichte über schwere Verletzungen. Zu oft wurde in der Türkei die „nationale Sicherheit“ von den Behörden auf Kosten der Menschenrechte betont. Maßnahmen, die vorgeblich der Verteidigung nationaler Interessen dienten, haben die Missachtung der Menschenrechte im türkischen Rechtssystem zur Folge gehabt.
Am 15. und 20. November 2003 sah sich die Türkei einer neuen, erschreckenden Bedrohung durch die Bombenanschläge auf zwei Synagogen, das Britische Konsulat und die Hauptgeschäftsstelle der HSBC Bank in Istanbul. amnesty international drückte ihr tiefes Mitgefühl aus und verurteilte die Angriffe, die 62 Menschenleben und Hunderte Verletzte forderten, in schärfster Form. Für jedes Land stellen Angriffe in solchem Ausmaß eine starke Herausforderung dar, die nicht unterschätzt werden kann. Doch aus eben diesem Grund ist amnesty international der Auffassung, dass in Zeiten wie diesen die Notwendigkeit der Beachtung internationaler Menschenrechtsstandards noch größer ist als sonst. Erforderlich sind sorgfältige Untersuchung, Transparenz und Rechenschaftspflicht bei den Bemühungen, die Verantwortlichen für solch brutale Angriffe vor Gericht zu bringen. amnesty international ist der Überzeugung, dass die Achtung und der Schutz der Menschenrechte das einzige Mittel sind, um langfristige Sicherheit und Gerechtigkeit für alle zu erreichen.
InhaltsverzeichnisPositive Schritte: Neue Gesetzgebung und Ratifikation internationaler Menschenrechtsabkommen
Bis heute wurden sieben Reformpakete (die ‘Harmonisierungsgesetze’) mit einer großen Anzahl Änderungen an verschiedenen Gesetzen verabschiedet. Einige dieser Gesetze werden später in diesem Memorandum angesprochen, zusammen mit den Verordnungen und Rundschreiben, die an Sicherheitskräfte und Justiz herausgegeben wurden, um die Umsetzung zu fördern. Es bleibt zu hoffen, dass in den kommenden Monaten positive Schritte zur vollständigen Umsetzung unternommen werden und die Regierung in ihren Anstrengungen fortfährt, sicherzustellen, dass Sicherheitskräfte und Angehörige des Justizapparats in den neuen Gesetzen und Verordnungen vollständig ausgebildet sind. Der Reformgeist muss sich auch in Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Gerichten ausdrücken, zum Beispiel in Beziehung auf die gewaltlose Äußerung abweichender Meinungen und gewaltfreie Protestaktionen.
amnesty international begrüßt die am 23. September 2003 erfolgte Ratifikation zweier wichtiger Abkommen durch die Türkei, des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR – International Covenant on Civil and Political Rights) und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR – International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights). Am 1. Dezember 2003 ratifizierte das türkische Parlament das Protokoll Nr. 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten; am 9. Januar 2004 unterzeichnete die Türkei das Protokoll Nr. 13 der Europäischen Konvention über die Abschaffung der Todesstrafe in Kriegszeiten. amnesty international hofft, dass die Ratifikation dieses Protokolls ebenfalls umgehend erfolgen wird.
amnesty international begrüßt die kürzliche Ankündigung, dass geschlechtsdiskriminierende Artikel des türkischen Strafgesetzes geändert werden sollen.
Da der Internationale Strafgerichtshof ein wesentliches Mittel im Kampf gegen Straflosigkeit für internationale Verbrechen darstellt, darunter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ruft amnesty international den Ministerpräsidenten Erdoğan auf, dafür zu sorgen, dass die Türkei sich den anderen Mitgliedsstaaten des Europarates anschließt und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert.
amnesty international unterstützt insbesondere Bemühungen, offizielle Beschwerde-mechanismen und Überwachungsgremien zu stärken; denn sie sind zentrale Mechanismen im Kampf gegen die Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen. Sie müssen so ausgestaltet sein, dass die Öffentlichkeit in der Türkei das Vertrauen zurückgewinnt, dass Beschwerden unparteiisch behandelt werden und man keine Angst vor Racheakten oder weiteren Schikanen durch die Sicherheitskräfte haben muss.
Ein positiver Schritt zur Reaktivierung eines offiziellen staatlichen Gremiums, das mit der Untersuchung von Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen betraut ist, wird mit der kürzlich erfolgten Entscheidung zur Umstrukturierung der 930 Menschenrechtskommissionen in den Provinzen unternommen. Aus diesen Kommissionen, die dem Amt für Menschenrechtsfragen in der Kanzlei des Ministerpräsidenten unterstehen, werden die örtlichen Kommandierenden von Polizei und Gendarmerie entfernt. Die Ernennung von unabhängigen nichtstaatlichen Mitgliedern kann zur Reaktivierung dieser Kommissionen und einer besseren Effizienz und Transparenz ihrer Arbeit beitragen.
Eine weitere Verbesserung ist die Arbeit der gegenwärtigen parlamentarischen Menschenrechtskommission, die sich im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten der Untersuchung von Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen verschrieben hat.
Kernbereiche von amnesty internationals Anliegen zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei:
amnesty international möchte an dieser Stelle einige weiterhin bestehende Besorgnisse zum Menschenrechtsschutz in der Türkei aufzeigen und Empfehlungen zur Verbesserung der Situation in jenen Bereichen aussprechen, aus denen weiterhin Menschenrechtsverletzungen berichtet werden. Es handelt sich dabei nicht um das komplette Spektrum von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, sondern um diejenigen, die amnesty international zu den schwerwiegendsten zählt. Sie sind in vier Gruppen zusammengefasst: Fortdauernde Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch Sicherheitskräfte, Straflosigkeit für solche Verbrechen und die Notwendigkeit der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit; fortdauernde Einschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit und die Kriminalisierung friedlicher Äußerungen einer abweichenden Meinung sowie Gewalt gegen Frauen.
Fortdauernde Vorwürfe der Folter und Misshandlung von Festgenommenen und Demonstranten durch Sicherheitskräfte
Folter und Misshandlung im Polizeigewahrsam
Obwohl die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP – Adalet ve Kalkinma Partisi) bei zahlreichen Gelegenheiten eine Politik der ‘Null Toleranz für Folter’ bekundet hat, ist amnesty international der Meinung, dass ein stärkeres Engagement erforderlich ist, um diese kompromisslose Botschaft jeder Polizei- und Gendarmeriestation und auch den Staatsanwälten und Richtern zu übermitteln.
Folter und Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei rufen weiterhin große Besorgnis hervor. Zwar erhielt amnesty international im Jahr 2003 deutlich seltener Berichte über Elektroschocks, Falaka und Aufhängen an den Armen, es gab jedoch regelmäßig Berichte darüber, dass Festgenommene geschlagen, nackt ausgezogen, sexuell drangsaliert, wiederholt – verbal eingeschüchtert wurden – , auch mit Morddrohungen, mitunter begleitet von Scheinhinrichtungen, und ihnen Schlaf, Essen, Trinken und die Benutzung der Toilette verweigert entzogen wurden.
Einige Angehörige der Sicherheitskräfte glauben weiterhin, dass Übergriffe auf Verdächtige keine Folgen hätten und Gewalt gegen Festgenommene und Häftlinge daher zulässig sei. Einige Richter behandeln Polizeibrutalität weiterhin nachsichtig, indem sie Aussagen als Beweismittel zulassen, die durch Folter und Misshandlung erpresst worden sein sollen. Im folgenden Abschnitt werden die bestehende Praxis und zur Straflosigkeit beitragende Faktoren untersucht.
Berichte über inoffizielle (das heißt nicht registrierte und daher illegale) Festnahmen bilden einen besonders besorgniserregenden Trend. In diesen Fällen geben Personen an, dass sie von zivil gekleideten Sicherheitskräften entführt wurden und in nicht gekennzeichneten Fahrzeugen zu Plätzen außerhalb der Haftzentren gebracht und dort bedroht, eingeschüchtert und mitunter gefoltert und misshandelt wurden. Es gab auch Berichte, dass Festnahmen nicht registriert wurden, obwohl die betreffende Person auf einer Polizeiwache festgehalten wurde. Inoffizielle Haft ist illegal. Vorgesetzte Behörden sind verpflichtet, sie zu verhindern und dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen für solche Vergehen bestraft werden. Das Prinzip der Kontrolle der Befehlskette ist in der Erklärung der Vereinten Nationen über den Schutz aller Personen vor Erzwungenem Verschwindenlassen enthalten: “Jeder Staat soll … strikte Überwachung von Beamten – einschließlich einer eindeutigen Befehlskette – , die für Festnahme, Ergreifung, Arrest, Polizeigewahrsam, Verlegungen und Haft verantwortlich sind, sicherstellen, ebenso von anderen Beamten, die zum Einsatz von Gewalt und Waffen ermächtigt sind” (Artikel 12/2). Es ist tatsächlich schwer vorstellbar, dass bei der hierarchischen Struktur der Sicherheitskräfte Vorgesetzte in Polizei und Gendarmerie in der Türkei nicht in der Lage sein sollten, diese Praxis zu beenden.
Ein Grund für die andauernde Folter und Misshandlung in Polizei- und Gendarmeriestationen ist es nach Ansicht von amnesty international, dass die Vollzugsbeamten die gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensweisen bei Festnahmen – in der vorgeschriebenen Reihenfolge – nicht einhalten. Dazu gehört die unverzügliche Information von Festgenommenen über ihre Rechte, wie das Recht zur Aussageverweigerung, das Recht auf unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand und das Recht, einen Verwandten oder eine andere Person ihrer Wahl über die Festnahme zu informieren. Zwar ist es erfreulich , dass sich die Dauer des Polizeigewahrsams nun im gesetzlichen Rahmen bewegen soll, die grundlegenden Rechte der Verdächtigen werden jedoch bei den meisten Festnahmen missachtet. Rechtsanwälte berichten, dass in einigen Fällen bei ihrem Erscheinen auf der Polizeiwache, nachdem sie über Dritte von einer Festnahme gehört hatten, ihnen von Polizeibeamten mitgeteilt wurde, dass der Festgenommene nicht anwesend sei oder kein Treffen wünsche, ohne dies zu belegen. Ehemalige im Jahr 2003 Festgenommene berichteten amnesty international, dass sie in der Polizeihaft weder über ihre Rechte im Gewahrsam informiert noch ihnen Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährt wurde, auch wenn sie es verlangten. Einige Rechtsanwälte, die regelmäßig Bereitschaftsdienst für die örtlichen Rechtsanwaltsvereine leisten und verfügbar sind, auf Polizeiwachen gerufen zu werden, berichteten, dass ihre Klienten ihnen später erklärten, dass sie es nicht wagten, einen Rechtsanwalt zu verlangen, weil sie befürchteten, die Forderung würde Misshandlung und Einschüchterung durch die Polizei hervorrufen.
Kürzlich erfolgte Änderungen in der Verordnung über Festnahme, Polizeigewahrsam und Verhör (Gesetz Nr. 23480), welche die Aufzeichnung weiterer Einzelheiten vorsieht, wie z.B. den Zeitpunkt, zu dem Verwandte oder eine vom Festgenommenen bestimmte Person über die Festnahme informiert werden, und den Beamten, der das Telefongespräch führt, lassen hoffen, dass damit weitere Schranken gegen Pflichtverletzungen errichtet werden.
amnesty international ist überzeugt, dass von Vertretern unabhängiger Überwachungskommissionen durchgeführte regelmäßige und unangekündigte ad hoc Besuche auf Polizei- und Gendarmeriestationen zur Vorbeugung gegen Folter und Misshandlung beitragen würden. Bei diesen Besuchen sollten die Arbeitsweisen auf der Station, die Befehlskette, das Führen von Protokollen, die Abläufe bei Festnahmen und das Wissen der Beamten über die relevanten Vorschriften gründlich überprüft werden.
amnesty international weist weiterhin auf die dringende Notwendigkeit fortwährender Ausbildung der Sicherheitskräfte hin, insbesondere in einer Periode rasch aufeinander folgender Gesetzesänderungen. Die Verbreitung von Rundschreiben und Verordnungen als Versuch, Gesetze an der Basis in die Praxis umzusetzen, ist für sich allein unzureichend. Über die Ausbildung der Sicherheitskräfte hinaus besteht Bedarf an Information der Öffentlichkeit, verknüpft mit einer öffentlichen Bewegung gegen Folter und Misshandlung, um die Bevölkerung über ihre grundlegenden Rechte in der Polizeihaft zu unterrichten.
Übermäßige Gewaltanwendung von Sicherheitskräften bei der Überwachung von Demonstrationen
Sicherheitskräfte verlassen sich gewohnheitsmäßig und gedankenlos auf den Einsatz von Gewalt bei der Überwachung von Demonstrationen und öffentlichen Versammlungen, von denen viele zwar nicht genehmigt sind, aber friedlich verlaufen. Sie zeigen wenig Fachkenntnis, die im Umgang mit Demonstrationen und öffentlichen Veranstaltungen nötig ist.
Demonstrationen in der Türkei und die im Fernsehen verbreiteten Bilder bezeugen weiterhin die Brutalität und Unangemessenheit der Polizeitaktik. Das Jahr 2003 war keine Ausnahme in dieser Hinsicht, und wenn man sich Videoaufnahmen von Demonstrationen gegenwärtigt, kann man sich nur schwer vorstellen, dass die Türkei eine Reformära erlebt. Die Polizei setzte regelmäßig unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten ein, sonderte einzelne Teilnehmer aus, jagte und schlug sie, und trat und schlug auch dann noch auf sie ein, als sie bereits auf dem Boden lagen oder festgenommen waren. Ein Bild von einer Demonstration von Studenten in Ankara gegen den Rat für Höhere Erziehung (YÖK) von Anfang November 2003 zeigt einen Kameramann der Polizei, der einen Demonstranten filmt und ihn tritt während dieser auf dem Boden liegt – ein besonders abstoßendes Beispiel für die Fehler bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in der Türkei.
Zu den Gruppen, die besonders häufig während ihrer Demonstrationen zur Zielscheibe wurden, gehören Unterstützer der politischen Partei DEHAP, linker Parteien, Gewerkschafter , Studenten, und Kriegsgegner.
amnesty international ist besorgt wegen der fehlenden Ermittlungen der Behörden in Fällen von Polizeibrutalität gegen Demonstranten, während gegen Demonstranten, die Berichten zufolge von Polizeibeamten verletzt worden sein sollen, häufig ermittelt wurde, weil sie ‘sich der Festnahme widersetzten’.
Wenn amnesty international auch anerkennt, dass die Kontrolle von Menschenansammlungen eine komplexe Aufgabe ist, insbesondere wenn Demonstranten gelegentlich zu Gewalt greifen, ist die Organisation doch über die Gewaltanwendung seitens der Polizei besorgt, die regelmäßig unverhältnismäßig ist und die Grenzen weit überschreitet, die notwendig sind um eine Menschenmenge unter Kontrolle zu halten. amnesty international fordert dringend bessere Vorbereitung der Polizei auf Einsätze bei Demonstrationen und drängt die Behörden, unabhängige, gründliche und unverzügliche Untersuchungen bei Vorwürfen von Polizeibrutalität durchzuführen.
amnesty international erinnert die türkische Regierung an ihre Verpflichtungen nach internationalem Recht, darunter die Grundprinzipien der Vereinten Nationen über den Gebrauch von Gewalt und Feuerwaffen durch Sicherheitskräfte, die in den Prinzipien 7 und 8 bestimmen: “Regierungen sollen sicherstellen, dass willkürlicher oder missbräuchlicher Einsatz von Gewalt und Feuerwaffen durch Sicherheitskräfte als Straftat nationalem Recht bestraft wird”, und “Außergewöhnliche Umstände wie innere politische Instabilität oder andere öffentliche Notstände können nicht zur Rechtfertigung einer Abweichung von diesen Grundprinzipien herangezogen werden.”
Straflosigkeit für Folter und Misshandlung und andere von Sicherheitskräften begangene Vergehen
In bemerkenswerter Weise fehlt eine Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit – darunter Folter, ‘Verschwindenlassen’, außergerichtliche Hinrichtungen, unfaire Verfahren, Zerstörung von Eigentum und erzwungene Evakuierung von Dörfern im Südosten der Türkei – wie die Zahl der Verfahren gegen die Türkei vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof belegt. Die Konzentration in der Türkei auf den Eintritt in eine neue Ära des Menschenrechtsschutzes sollte nicht bedeuten, dass dieses Vermächtnis nicht aufgearbeitet und von den Behörden vergessen wird. Das Einbringen eines Gesetzesentwurfes im Januar 2004, mit dem Ziel, Entschädigungszahlungen für den Verlust von Eigentum und Unterhalt durch die Vertreibung aus den Dörfern während des Konflikts in den südöstlichen und östlichen Provinzen der Türkei Ende der 80er und in den 90er Jahren zu ermöglichen, ist ein erster Schritt. Die Behörden sollten jedoch nicht ihre Verpflichtung ignorieren, die Täter vor Gericht zu stellen.
Vor kurzem verabschiedete Gesetze zielen auf die Bekämpfung einiger Aspekte der Straflosigkeit ab. Sie sollen Hindernisse für die Untersuchung von Folter- und Misshandlungsvorwürfen beseitigen, indem sie verlangen, dass den Verfahren wegen solcher Verbrechen Priorität eingeräumt wird und die Verhandlungen in Abständen von höchstens dreißig Tagen geführt werden, und bestimmen, dass die Strafen für solche Verbrechen nicht in Geldstrafen umgewandelt, ausgesetzt oder zurückgestellt werden können.
amnesty international hat von einer jüngeren Entscheidung Kenntnis erhalten, einen höheren Polizeibeamten aus dem Polizeidienst auszuschließen, weil er wissentlich Folter und Misshandlung duldete, die von Beamten in den ihm unterstellten Einheiten begangen wurden. Die Entlassung von Adil Serdar Saçan, dem früheren Leiter der Abteilung für Organisierte Kriminalität im Polizeihauptquartier in Istanbul im September 2003 ist eines der wenigen Beispiele von höheren Beamten, die auf diese Weise disziplinarisch in Verbindung mit Folter und Misshandlung belangt wurden.
Gegenwärtig bleibt das Verhältnis von Berichten über Folter und Misshandlung zu Ermittlung und Strafverfolgung der mutmaßlichen Täter jedoch extrem niedrig. Solange dieser Zustand andauert ist es unwahrscheinlich, dass Angehörige der Sicherheitskräfte tatsächlich die Erkenntnis verinnerlichen, dass brutale Gewalt gegen Festgenommene unakzeptabel ist.
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und andere internationale Abkommen, die von der Türkei ratifiziert wurden, betonen, dass Ermittlungen in Verbrechen von Folter und Misshandlung unverzüglich, gründlich und unabhängig erfolgen sollten. In der Türkei erfüllen nur wenige solcher Ermittlungen und Verfahren eines dieser Kriterien.
Zu oft werden Ermittlungen der Staatsanwälte bei Verbrechen, die von Angehörigen der Sicherheitskräfte begangen worden sein sollen, aus „Mangel an Beweisen“ eingestellt. Das Sammeln von Beweismaterial und Befragen relevanter Zeugen bei solchen Untersuchungen scheint nicht systematisch und rechtzeitig zu erfolgen. Nach Ansicht von amnesty international müssen die Behörden die verschiedenen Ursachen angehen, die gegenwärtig zu unzulänglichen und erfolglosen Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen führen.
Wenn die Ermittlungen zur Eröffnung eines Verfahrens führen und Mitglieder der Sicherheitskräfte vor Gericht stehen, sind regelmäßig Vorgehensweisen zu beobachten, die zur Straflosigkeit beitragen. Die Behörden agieren nicht immer rasch, um den Aufenthalt des Beschuldigten zu ermitteln und diesen schriftlich vor Gericht zu laden. amnesty international wurden verschiedene Beispiele berichtet, in denen Beschuldigte jahrelang nicht zur Vernehmung oder vor Gericht geladen wurden, obwohl ihre Namen in der Anklageschrift aufgeführt waren und ihr Aufenthalt bekannt gewesen sein soll. Der wiederholte Misserfolg in zwei laufenden Verfahren, alle Beschuldigten vor Gericht zu bringen, ist ein schlagendes Beispiel. In den Verfahren werden 10 Polizeibeamte beschuldigt, den Studenten Birtan Altunbas im Polizeihauptquartier in Ankara am 10. Januar 1991 zu Tode gefoltert zu haben. Fehlschläge wie diese tragen zu sich endlos hinziehenden Prozessen bei, die mitunter so lange dauern, dass sie wegen Verjährung eingestellt werden müssen. amnesty international ist daher der Auffassung, dass diese Art der Verjährung bei Folter und schwerer Misshandlung aufgehoben werden sollte.
Sehr häufig wird amnesty international berichtet, dass Angehörige der Sicherheitskräfte im aktiven Dienst bleiben, auch wenn gegen sie wegen Folter oder Misshandlung ermittelt wird, sie deswegen angeklagt sind oder sich bereits vor Gericht verantworten müssen. In einigen Fällen wurde berichtet, dass Beamte nicht zur Verhandlung erschienen, weil sie sich „im Dienst“ befanden. Ihre Entfernung aus dem aktiven Dienst bis zum Ergebnis von Ermittlungen und die Suspendierung vom Dienst während eines Verfahrens sind wichtige Maßnahmen, um unter Beweis zu stellen, dass die Verbrechen, wegen denen gegen sie ermittelt wird oder wegen denen sie angeklagt sind, mit der angemessenen Entschlossenheit verfolgt werden.
Zur Beschleunigung der Verfahren ist es notwendig, Zeitbeschränkungen für die Beschaffung von Beweismitteln – wie medizinische Gutachten von gerichtsmedizinischen Instituten – einzuführen und die Mechanismen zur Sicherung einer gründlicheren Vorbereitung der Verfahren durch die zuständigen Behörden zu verbessern. Außerdem sollte eine Festlegung der Verhandlungstermine auf aufeinander folgende Tage bis zur Urteilsfindung oder zumindest auf kürzere Zeitabstände als gegenwärtig eingeführt werden. Die kürzlich eingeführte Beschränkung auf maximal 30 Tage zwischen den Verhandlungen ist eine Verbesserung gegenüber früher, kann aber das Problem der sich lange hinziehender Verfahren nicht lösen.
Der Spielraum bei der Bestimmung des Strafmaßes für Folter und Misshandlung (bzw. die Artikel 243 und 245 des türkischen Strafgesetzes) ist sehr weit. In den seltenen Fällen, in denen Angehörige der Sicherheitskräfte wegen dieser Verbrechen verurteilt werden, verhängen die Richter regelmäßig nur die Mindeststrafe oder geringe Strafen. amnesty international fordert, dass Richter weitere Ausbildung erhalten müssen, um ihnen einzuschärfen, dass nach Artikel 4 der Konvention gegen die Folter die Strafe der Schwere des Verbrechens entsprechen muss. In einem Bericht von 1999 zum Thema „Straflosigkeit“ (“Turkey: The Duty to Investigate, Supervise and Prosecute” AI Index: EUR 44/24/99), hat amnesty international dargestellt, dass das Kassationsgericht am 31. August 1998 die Urteile von neun Jahren Gefängnis gegen vier Jugendliche bestätigt hat, die in ein Geschäft in Gaziantep eingebrochen waren, um zwei Kilogramm baklava (eine Süßigkeit) zu stehlen. Gegen wenige Angehörige der Sicherheitskräfte, mit der bemerkenswerten Ausnahme des bekannten Falles der 10 Polizeibeamten, die wegen der Folter an 16 Jugendlichen in Manisa 1995 verurteilt wurden, wurden ähnliche schwere Strafen für das Verbrechen der Folter verhängt – selbst in Fällen nicht, in denen die Folter zum Tod des Opfers führte .
Einschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit und Kriminalisierung abweichender gewaltfreier Meinungen
amnesty international ist besorgt wegen der fortdauernden Praxis in der Türkei, gegen Personen zu ermitteln und sie strafrechtlich zu verfolgen und zu verurteilen, weil sie gewaltlos abweichende Meinungen geäußert oder Aussagen gemacht haben, die als Beiträge zu einer lebendigen und kritischen öffentlichen Debatte gewertet werden sollten, wie sie zu einer demokratischen Gesellschaft gehört. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (ECHR) und in Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) enthalten.
amnesty international hat zur Kenntnis genommen, dass einige Änderungen an Gesetzen vorgenommen, wurden, die das Recht auf Meinungsfreiheit betreffen. Beispielsweise begrüßte die Organisation die Aufhebung des Artikels 8 des Anti-Terror-Gesetzes über „separatistische Propaganda“, ist aber der Auffassung, dass trotz der kürzlichen Änderungen durch die Harmonisierungsgesetze andere Artikel des türkischen Strafgesetzes weiterhin im Konflikt mit dem Recht auf Meinungsfreiheit stehen und in der Praxis immer noch zu streng ausgelegt werden.
Eine dieser Bestimmungen ist Artikel 159 des Strafgesetzes, der in seiner geänderten Form Äußerungen unter Strafe stellt, die mit der ‘Absicht’ gemacht worden sein sollen ‘das Türkentum, die Republik, das Parlament, den moralischen Charakter der Regierung, der staatlichen Streit- oder Sicherheitskräfte oder die Integrität der Justiz zu beleidigen oder zu verunglimpfen ’. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist der Auffassung, dass Verunglimpfung und Verleumdung nicht unter das Strafrecht sondern das Zivilrecht fallen sollten. Die Johannesburger Prinzipien zur Nationalen Sicherheit, zu Meinungsfreiheit und zum Zugang zu Informationen erklären in Prinzip 7a(ii), dass “unter Meinungsäußerungen, die nicht als Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen werden sollten … Äußerungen fallen, die … Kritik an oder Beleidigung von Nation, Staat oder staatlichen Symbolen, Regierung und ihrer Behörden oder öffentlich Bediensteten üben …’, und fordert in Prinzip 7b dass ‘niemand für Kritik oder Beleidigung’ der genannten Institutionen strafrechtlich sanktioniert werden sollte.
Zwei aktuelle Strafverfahren zeigen, dass der Artikel 159 weiterhin in einer Weise angewendet wird, die das Recht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) verletzt. Sabri Ejder Öziç, früherer Leiter von Radyo Dünya, einem lokalen Radiosender in Adana, wurde am 30. Dezember 2003 wegen Meinungsäußerungen verurteilt. Am 23. Februar 2003 hatte er sich gegen die Stationierung ausländischer Truppen auf türkischem Boden ausgesprochen und erklärt, wenn das türkische Parlament der Stationierung zustimmte, würde es einen terroristischen Akt begehen. Wegen dieser gewaltlosen Meinungsäußerung wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Gegenwärtig befindet er sich in Freiheit und hat Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt.
Ein anderer Besorgnis erregender Fall ist derjenige von Hasan Basri Aydin, der in erster Instanz von der 6. Kammer des Strafgerichts in Ankara wegen Verletzung von Artikel 159 zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Das Kassationsgericht bestätigte das Urteil im November 2003, verlangte aber ein ärztliches Gutachten über die Haftfähigkeit. Hasan Basri Aydin ist ein 75 Jahre alter pensionierter Lehrer in schlechtem Gesundheitszustand. Sein Verbrechen war, dass er am 29. Juli 2000 einen Brief an den Direktor für Gefängnisse und Haftzentren schrieb, in dem er kritisierte, dass dieser die neuen F-Typ-Gefängnisse als „hotelähnlich“ beschrieb und ironisch vorschlug, dass der Direktor und seine Frau 10 Tage in einer Zelle in einem F-Typ-Gefängnis verbringen sollten.
Auch nach Änderungen durch verschiedene Reformpakete in den vergangenen zwei Jahren werden andere Gesetzesbestimmungen immer noch benutzt, um Personen wegen der Wahrnehmung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit zu kriminalisieren. Dazu gehören Artikel 312/2 (‘Aufstachelung zur Feindschaft auf Grund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden’) und Artikel 169 (‘Unterstützung einer illegalen Organisation’) des türkischen Strafgesetzes, und Artikel 7 (‘Propaganda für eine illegale Organisation’) des Anti-Terror-Gesetzes. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wird sich an seine eigene Erfahrung mit dem allumfassenden Artikel 312/2 erinnern. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er bei einem Besuch in Siirt 1997 öffentlich aus einem Gedicht vortrug.
Besonders besorgniserregend sind Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der verwandten Rechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. amnesty international hat diese drei zusammenhängenden Themen in Bezug auf Menschenrechtsverteidigern in dem Bericht ‘Turkey: Restrictive Laws, Arbitrary Applications: The Pressure on Human Rights Defenders’ (AI Index EUR 44/002/2004) untersucht und dokumentiert. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass trotz der jüngsten Gesetzes- und Verfassungsreformen Menschenrechtsverteidiger weiterhin Zielscheibe für Schikanen und Einschüchterung durch Staatsbedienstete sind. Ihre öffentlichen Aktivitäten werden durch eine große Zahl von Gesetzen und Verordnungen beschränkt, darunter das Anti-Terror-Gesetz, die Bestimmungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, das Vereinsgesetz und Stiftungsgesetz, das Pressegesetz und viele andere Vorschriften. Gerichtsverfahren enden meist mit Freisprüchen oder mit Urteilen, die in Geldstrafen umgewandelt oder zur Bewährung ausgesetzt werden. amnesty international betrachtet solche Prozesse als juristische Schikanen, um Menschenrechtsverteidiger einzuschüchtern und in ihren Aktivitäten zu behindern.
amnesty international ruft die türkischen Behörden dringend auf, alle noch anstehenden Ermittlungen gegen Personen wegen der Äußerung abweichender oder kritischer Meinungen oder wegen der Organisation öffentlichen Protests zu überprüfen. Dabei soll sichergestellt werden, dass niemand strafrechtlich für gewaltlose Handlungen verfolgt wird, die nach internationalem Recht oder internationale Standards geschützt sind. Die Organisation hält weitere Reformen zur Stärkung des verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Schutzes der Rechts auf Meinungsfreiheit sowie Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für erforderlich, damit sie den Anforderungen der Artikel 19, 21 und 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) und der Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (ECHR) entsprechen.
Gewalt gegen Frauen
amnesty international begrüßte die jüngste Ankündigung, dass geschlechtsdiskriminierende Artikel des türkischen Strafgesetzes geändert werden sollen.
Das Ausmaß der Gewalt von Männern gegenüber Familienmitgliedern gibt Anlass zu ernster Sorge. Die Schätzungen reichen von 30 bis 58 Prozent der Frauen, die körperliche Gewalt erleiden, bis zu 70 bis 97 Prozent der Frauen, die einem breiteren Spektrum von Misshandlungen ausgesetzt sind. Dieses Ausmaß der Gewalt, das alle Frauen und Kinder betrifft, die mit gewalttätigen Männern zusammen leben – und in manchen Fällen zu dauernder Behinderung oder sogar zum Tod führt – scheint von den Behörden und der Gesellschaft geduldet zu werden. Familiäre Gewalt wird häufig in der Öffentlichkeit ausgeübt. Die Täter werden selten vor Gericht gestellt.
Bei sogenannten „Ehrenmorden“ müssen die Behörden zu entschlossenen Maßnahmen greifen, sorgfältige Ermittlungen durchführen und die Verantwortlichen, etwa die Vorstände von „Familienräten“, zur Rechenschaft ziehen. Viele Fälle von Morden an Frauen oder angeblichen Selbstmorden von Frauen, die „Ehrenmorde“ sein könnten, werden nicht angemessen untersucht. amnesty international ist besorgt, dass die Türkei zu den Ländern gehört, in denen Frauenhandel betrieben wird. Berichte weisen darauf hin, dass öffentliche Bedienstete entweder direkt in den Frauenhandel oder in den Schutz der Täter verwickelt sind.
amnesty international ruft zu wirksamer Überwachung und Dokumentation von Gewalt gegen Frauen auf, sowie zu zusätzlichen Maßnahmen zur Verhütung von Gewalt, wie z.B. die Bereitstellung von Schutzunterkünften, verbessertem Zugang zu Rechtsberatung und angemessener ärztlicher Hilfe und Maßnahmen die sicherstellen, dass Polizei, Justiz und öffentliche Bedienstete unverzüglich und effektiv auf Beschuldigungen wegen Gewaltanwendung reagieren, die bei ihnen vorgebracht werden.
Es gibt weitere stark verwurzelte Hindernisse, um Gewalt gegen Frauen vorzubeugen und Frauen zu schützen. Wo die Bevölkerung das Vertrauen in die Sicherheitskräfte verloren hat, ist es schwierig für Frauen, die Gewalt erlitten haben, sich an die Sicherheitsbehörden zu wenden oder Vertrauen in die Justiz zu setzen. Unter diesen Umständen können Frauen die Folgen scheuen, die ihre Männer oder Familien zu fürchten haben, wenn sie über Gewalt berichten. Straflosigkeit für öffentlich Bedienstete, die Gewalt verüben, bedeutet zusammen mit der unzureichenden Umsetzung des Gesetzes zum Schutz der Familie, dass verletzliche Mitglieder der Gemeinschaft, wie Frauen und Kinder, nur wenig Vertrauen haben, dass etwas gegen Gewalttäter unternommen wird. Es ist daher umso wichtiger, dass wirksame, unabhängige Mechanismen für Frauen geschaffen werden, um Schutz, Unterstützung und Unterkunft zu erhalten, und dass auf allen Ebenen und in allen Zweigen des Justizsystems spezialisierte Dienste für die Arbeit mit den Opfern familiärer Gewalt in allen Regionen des Landes existieren.
Schlussfolgerungen: Gesetze umsetzen und das Strafrecht reformieren
amnesty international unterstützt die jüngsten Gesetzesreformen mit dem Ziel, den Schutz der Menschenrechte zu stärken, und ruft die Regierung auf, den Weg der Reformen weiter zu gehen. Sie sollte prüfen, in welchen Bereichen weitere Gesetzesänderungen notwendig sind, und vor allem ist die vollständige Umsetzung der Buchstaben und des Geistes der neuen Gesetze sicherzustellen.
Die fortdauernden Einschränkungen der drei zusammenhängenden Rechte auf Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Versammlungsfreiheit bleiben ein Anliegen. Zur Stärkung dieser grundlegenden Rechte sind Gesetzesänderungen erforderlich, und die Regierung muss weitere Schritte unternehmen um zu gewährleisten, dass niemand strafrechtlich verfolgt wird, der diese Rechte friedlich ausübt.
Fehlender Schutz der Menschenrechte sind nie nur einzelnen Polizeibeamten oder Staatsanwälten zuzuschreiben. amnesty international betrachtet institutionelle Mängel im türkischen Strafrechtssystem als wesentliche Faktoren für die andauernden Menschenrechts-verletzungen. Der positive Effekt von Gesetzesreformen mit dem Ziel, die Menschenrechte zu respektieren und zu schützen, kann ohne gleichzeitige institutionelle Reformen nicht voll wirksam werden.
Damit Gesetzesreformen wirksam werden, muss die türkische Regierung nach Ansicht von amnesty international in der kommenden Zeit ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um Defizite in zwei Schlüsselinstitutionen des Strafrechtssystems zu beseitigen: bei den Sicherheitskräften (Polizei und Gendarmerie) und bei der Justiz.
Eine mögliche Vorgehensweise zur Reform dieser Institutionen wäre die Prüfung der Einrichtung unabhängiger Kommissionen. Diese sollten sich aus Justiz- und Strafvollzugsbeamten, qualifizierten Einzelpersonen und Vertretern der Zivilgesellschaft zusammensetzen. Die Aufgabe solcher Kommissionen wäre es, in einem breiten Themenspektrum nach Beratung und Untersuchungen Empfehlungen für institutionelle Reformen zu erarbeiten. Zu den Themen könnten gehören: Die Überprüfung der Verfahren zur Ermittlung und der kriminaltechnischen Beweiserhebung – darunter die derzeitige Überbewertung der Erlangung von Geständnissen – ; die Prüfung der Mechanismen zur Sicherstellung der Unabhängigkeit von Staatsanwälten; die Arbeitsweise der Staatssicherheitsgerichte zu diskutieren, die nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen; und Untersuchung der Länge von Gerichtsverfahren, die in fast allen Gerichten übermäßig lange dauern.
Faire Verfahren vor Staatssicherheitsgerichten bleiben ein ernstes Anliegen, wie das laufende Wiederaufnahmeverfahren gegen die vier früheren Parlamentsabgeordneten der Demokratiepartei (DEP), Leyla Zana, Selim Sadak, Hatip Dicle und Orhan Dogan, zeigt. Das Verfahren kam auf Grund einer Änderung in einem der Harmonisierungsgesetze zustande. In den bisher 10 Verhandlungen gab es aber kaum Anzeichen für eine Verbesserung gegenüber den früheren Verfahren, über die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt hatte, dass sie Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) verletzt hätten.
amnesty international ist der Überzeugung, dass eine Kommission für Polizeiaufgaben und Durchsetzung des Rechts im türkischen Kontext besonders nützlich sein könnte. Eine Polizeireform erfordert einen konstruktiven und ganzheitlichen Ansatz. Die Aufgaben einer solchen Kommission könnten die dringend notwendige Reform der Polizeipraxis, der Techniken zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, bessere Ausbildung der Polizisten und Feststellung von Defiziten bei der Rechenschaftspflicht beinhalten. amnesty international empfiehlt eine Untersuchung vergleichbarer Kommissionen in anderen Ländern, die Berichte erstellt und konstruktive Verbesserungsvorschläge gemacht haben. Besonders erwähnenswert ist der Patten-Report über Befriedung in Nordirland, der ein Modell für eine Polizeireform in einem Umfeld darstellt, in dem die bestehenden Vorgehensweisen der Polizei wegen unverhältnismäßiger Gewalt und diskriminierender Praktiken stark kritisiert worden waren.
- Übersetzung: Türkei-Koordinationsgruppe. Verbindlich ist das englische Original.