Anliegen von ai Januar – Juni 2004
- Übersetzung der Koordinationsgruppe Türkei
Verbindlich ist das Original: Europe and Central Asia: Summary of amnesty international’s Concerns in the Region
TÜRKEI
InhaltsverzeichnisFortführung der Gesetzesreformen
Die von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gestellte Regierung führte erneut Gesetzesänderungen ein, um den Kriterien eines EU-Beitritts zu entsprechen und die türkischen Gesetze internationalen Standards anzupassen. Wichtige Verfassungsänderungen wurden am 7. Mai vom türkischen Parlament gebilligt. Bis Juni war ein Drittel der Artikel der Verfassung von 1982 verändert worden. Es war das neunte Mal, dass sie geändert wurde.
Unter anderem wurden Artikel 143 (Einsetzung der Staatssicherheitsgerichte) und Artikel 131/2 (Ernennung eines Mitglieds des Hochschulrates durch den Generalstabschef) abgeschafft. Artikel 160 wurde dahingehend verändert, dass die jährlichen Militärausgaben transparenter gemacht und unter die Kontrolle des Rechnungshofs (Sayıştay) gestellt wurden. Eine wichtige Änderung des Artikels 90 der Verfassung stellte internationale Abkommen über nationales Recht; das bedeutet, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen nationalen Gesetzen und internationalen Abkommen die internationalen Bestimmungen ausschlaggebend sind. Die Bedeutung dieser Maßnahme zeichnete sich bereits in den darauf folgenden Monaten bei einigen Berufungsverfahren ab. Eine weitere Änderung des Artikels 38 der Verfassung betraf Auslieferungsanträge in Fällen, die vom Internationalen Strafgerichtshof bearbeitet werden. Obwohl die Türkei die Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs noch nicht unterzeichnet hat, ebnet diese Änderung den Weg für seine Anerkennung durch die Türkei. Alle Bestimmungen, die sich auf die Todesstrafe bezogen (in den Artikeln 15, 17, 38 und 87), wurden aus der Verfassung entfernt.
Diese Verfassungsänderungen schufen die Voraussetzungen für zwei weitere Reformvorhaben. Am 16. Juni wurde Gesetz 5190 vom türkischen Parlament verabschiedet. Es schaffte unter anderem die Staatssicherheitsgerichte ab, indem es Gesetz 2845 vom Juni 1983 annullierte, welches sie in ihrer bisherigen Form eingeführt hatte. Weiterhin wurde die Strafprozessordnung entsprechend geändert und die Einrichtung von speziellen Gerichten für schwere Straftaten vorbereitet, welche an ihre Stelle treten sollen. Menschenrechtsverteidiger begrüßten die Abschaffung der oft kritisierten Staatssicherheitsgerichte, wiesen jedoch mit Nachdruck darauf hin, dass die Einrichtung von besonderen Strafgerichtshöfen mit Zuständigkeit für organisierte Kriminalität, „Terrorismus“ und Verbrechen, welche als Bedrohung für die Sicherheit des Staates angesehen werden, mehr sein sollte als eine bloße Umbenennung der vorhandenen Einrichtungen.
Im Juni wurde auch das als „Neuntes Harmonisierungsgesetz“ bekannte Gesetzespaket vorbereitet (Gesetz 5218, am 14. Juli vom Parlament verabschiedet). Es hob die Bestimmungen auf, dass Militärangehörige im Hochschulrat (YÖK) und im Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) vertreten sein müssen, wobei es bei Letzterem allerdings noch Umsetzungsschwierigkeiten gibt. Bestimmungen zur Todesstrafe wurden aus allen Artikeln des türkischen Strafrechts gestrichen und durch „lebenslange Haft“ ersetzt.
Am 3. März wurde ein Gesetz vom Parlament verabschiedet, das alle diejenigen vollständig rehabilitierte, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 (und vor dem 31. Dezember 1987) wegen politischer Vergehen verurteilt worden waren. Viele der oft „78er Generation“ Genannten, die in den achtziger Jahren in Verfahren gegen politische Parteien verurteilt worden waren, hatten bisher nicht das Recht, führende Positionen in Parteien oder Verbänden zu bekleiden und durften nicht als Kandidaten bei regionalen oder allgemeinen Wahlen antreten. Das neue Gesetz ermöglicht es ihnen, vor Gericht einen Antrag auf völlige Wiederherstellung ihrer Bürgerrechte zu stellen.
Am 9. Juni wurde ein neues Pressegesetz (Gesetz 5187) verabschiedet und trotz einiger Kritik durch Journalisten im Allgemeinen gelobt, weil es das türkische Presserecht in Einklang mit internationalen Standards bringt und es, wie der Vorsitzende der türkischen Journalistenvereinigung formulierte, „von den Spuren des 12. September befreite“.
Ein revidierter Entwurf des Vereinsgesetzes wurde während des Berichtszeitraums vorbereitet. Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass das neue Gesetz allgemein positiv zu beurteilende Bestimmungen enthält und die Aktivitäten von Vereinen erleichtern würde (insbesondere weniger einschränkende Bestimmungen, was die Mitgliedschaft von Beamten, die Finanzierung und internationale Vertretungen im In- und Ausland betrifft), ist amnesty international besorgt darüber, dass es während der Vorbereitung des Entwurfs keine Versuche gab, ihn mit örtlichen Menschenrechtsorganisationen zu beraten.
Während des Berichtszeitraums arbeitete die parlamentarische Unterkommission, die beauftragt worden war, das türkische Strafrecht zu überarbeiten, weiter an dem vollständig neuen Entwurf. Es war vorgesehen, dass das neue Strafrecht im September 2004 in Kraft treten sollte. Frauengruppen in der Türkei begrüßten im Allgemeinen die Absicht, Artikel zu entfernen, welche Frauen diskriminieren. Die Definition von Folter wurde auch von Menschenrechtsanwälten begrüßt, die wesentlich dazu beigetragen hatten, dass die ursprüngliche Definition grundlegend überarbeitet wurde. Diese Anwälte wiesen jedoch auf einige verbleibende Mängel im Entwurf hin, unter anderem auf einige Artikel, deren Bestimmungen dazu benutzt werden könnten, die Meinungsfreiheit unnötig einzuschränken.
Die parlamentarische Unterkommission begann auch mit einer Überarbeitung der Strafprozessordnung (CMUK) und betonte öffentlich, dass Bestimmungen, welche ein faires Gerichtsverfahren garantieren sollen, ein wesentlicher Bestandteil des neuen Entwurfs seien.Nejdet Çokan, „Savcılar avukata tepeden bakmayacak“, Zeitung Sabah, 17. Juni 2004 Die Durchsetzung neuer Gesetze ist in der Türkei mit Schwierigkeiten verbunden, eine Tatsache, die auch von Regierungsmitgliedern zugegeben wird (siehe unten).
Europarat beendet seinen Überwachungsprozess
Am 22. Juni entschied die Parlamentarische Versammlung des Europarats, den 1996 begonnenen Überwachungsprozess bezüglich der Verpflichtung der Türkei, Verfassungs- und Gesetzesreformen durchzuführen, zu beenden. Sie hielt es für erwiesen, dass das Land eindeutig seinen festen Willen und seine Fähigkeit bewiesen habe, seine laut Statut erforderlichen Pflichten eines Mitglieds des Europarats zu erfüllen. Die Versammlung beschloss jedoch, den Dialog mit den Behörden auch nach der Beendigung des Beobachtungszeitraums fortzusetzen.
Treffen mit der Regierung
Eine von der Generalsekretärin von amnesty international geleitete Delegation führte vom 8. bis 13. Februar in der Türkei Gespräche mit hochrangigen Regierungsmitgliedern, darunter Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, Außenminister Abdullah Gül und Innenminister Abdülkadir Aksu. Es war das erste Mal, dass einer ai-Generalsekretärin Treffen auf dieser Ebene in der Türkei möglich waren, und allein dies weist auf einige der wichtigen Veränderungen hin, die im Lande vor sich gehen. Die Absicht der Türkei, Mitglied in der EU zu werden, hat wichtige Folgen für die Menschenrechte und in den vergangenen zweieinhalb Jahren erfolgte eine rasche Gesetzesreform. amnesty international drängt weiterhin auf eine volle Durchsetzung dieser Reformen, auf weitere Veränderungen in der Gesetzgebung und eine gründlichere Überprüfung der Behörden (insbesondere der Polizei und der Justiz), die wesentlich für eine Veränderung ist. (Siehe: Memorandum an den türkischen Ministerpräsidenten, ai Index EUR 44/001/2004). Die Delegation hatte eine Reihe von konstruktiven Gesprächen mit Regierungsmitgliedern, welche ihre Bereitschaft bekundeten, amnesty internationals Empfehlungen zu berücksichtigen. Es gab auch Treffen mit den drei wichtigsten nichtstaatlichen Partnerorganisationen im Bereich Menschenrechte in der Türkei (dem türkischen Menschenrechtsverein İHD, der Organisation für Menschenrechte und Solidarität mit Unterdrückten Menschen Mazlum Der und der Türkischen Menschenrechtsstiftung TİHV) und amnesty international betonte, dass ihre derzeitige Rolle und die Bereitschaft der Regierung, sie zu konsultieren ganz wesentlich seien, dass es zu einer wirklichen Veränderung vor Ort komme (siehe auch: ai Index: EUR 44/007/2004; ai Index: EUR 44/008/2004).
Vom 8. bis 10. Juni war amnesty international eingeladen, mit anderen internationalen und nationalen NGOs (neben den drei oben genannten noch FIDH / Fédération internationale des droits de l’homme und Human Rights Watch) ihre Anliegen bei türkischen Regierungsvertretern vorzutragen. Die Delegation traf Außenminister Abdullah Gül, Justizminister Cemil Çiçek, Innenminister Abdülkadir Aksu, die Kontrollgruppe, welche die Reformen im Hinblick auf den EU-Beitritt überwacht (ein längeres und ausführliches Treffen mit Vertretern der drei Ministerien, welche diese Gruppe bilden), den Menschenrechtsbeirat, welcher dem Büro des Premierministers zugeordnet ist, und die Beratungsstelle für Menschenrechte. Es war das erste Mal, dass sich die sechs Organisationen zu einer gemeinsamen NGO-Plattform zusammengeschlossen hatten und zeigte auf eindrucksvolle Art und Weise ihre Solidarität (siehe die gemeinsame Presseerklärung: ai Index EUR 44/008/2004).
Familiäre Gewalt gegen Frauen
Im Rahmen ihrer weltweiten Kampagne zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen veröffentliche ai am 2. Juni in Istanbul den Bericht Türkei: Frauen kämpfen gegen familiäre Gewalt (ai Index: EUR 44/0013/2004). Der Report zeigt, wie die Menschenrechte von Hunderttausenden von Frauen in der Türkei durch Gewalttätigkeit verletzt wurden und schildert Schicksale von Frauen, die Gewalt von der Hand ihrer Familien erlitten haben und geschlagen, vergewaltigt, in einigen Fällen sogar ermordet oder zum Selbstmord gezwungen wurden. Er erhellt eine Kultur der Gewalt, die Frauen in doppelter Weise gefährdet – als Opfer von Gewalt, und weil ihnen ein wirksamer Zugang zum Rechtssystem verwehrt wird. Es wird jedoch auch die Arbeit von einzelnen Frauen und Gruppen hervorgehoben, die in der Türkei für die Menschenrechte arbeiten und mutig diese Kultur der Gewalt öffentlich dargestellt haben, in der viele Frauen leben und die für die Außenwelt häufig unsichtbar ist.
ai kritisiert, dass die türkische Regierung der vorherrschenden Gewalt gegen Frauen nicht angemessen begegnet. Die Anwendung vorhandener Gesetze wird nicht durchgesetzt, insbesondere in der Strafjustiz und bei den Sicherheitskräften. Der Bericht enthält eine Reihe von Empfehlungen an die türkische Regierung, darunter die Forderung, dass die Behörden öffentlich und bei jeder Gelegenheit ihre Entschlossenheit bekunden sollen, Gewalt gegen Frauen auszurotten, die hierfür notwendigen Reformen durchzuführen und ihre Umsetzung sicher zu stellen.
Beginn von Sendungen in anderen Sprachen als Türkisch
Während des Berichtszeitraums wurde ein grundlegendes Tabu endlich gebrochen, als staatliche Fernseh- und Radiosender zum ersten Mal Sendungen in anderen Sprachen als Türkisch ausstrahlten. Dies ist eine Maßnahme mit symbolischer Bedeutung, da sie die offizielle Anerkennung signalisiert, dass Türkisch nicht die einzige Sprache der Bürger der türkischen Republik ist. Die lange hinausgeschobene Umsetzung eines Gesetzes vom August 2002, das Sendungen in „verschiedenen Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag benutzt werden“ ermöglicht, begann in der Woche des 6. Juni mit staatlichen Fernseh- und Radioprogrammen in Bosnisch, Tscherkessisch, Kırmançi, Zaza und Arabisch. Während sich einige bosnische Gruppen darüber beschwerten, dass sie keine muttersprachlichen Sendungen gewünscht hatten und ihre Sorge darüber bekundeten, dass sie zusammen mit Kurden als „Separatisten“ betrachtet werden könnten, verlangten einige Vertreter anderer Gruppen, wie z. B. Sprecher des Lazischen, das Recht, auch in Lazisch zu senden. Möglicherweise können mit der Zeit die eingeschränkten nicht-türkischen Sendungen der staatlichen Programme durch private und schließlich auch örtliche Fernsehsendungen ergänzt werden.
Freilassung der vier ehemaligen DEP-Abgeordneten
amnesty international war entsetzt, als am 21. April die vier ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Partei (DEP), Leyla Zana, Hatip Dicle, Orhan Doğan und Selim Sadak im Wiederaufnahmeverfahren vor dem Staatssicherheitsgericht Nr. 1 in Ankara erneut verurteilt wurden.
Dieses Urteil wurde jedoch vom Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs Anfang Juni in einer wichtigen Mitteilung widerrufen, welche die internationalen Standards für ein faires Gerichtsverfahren betonte und darauf hinwies, dass zu Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens im Frühjahr 2003 die Anklage bzw. die Beweise gegen die Angeklagten nicht verlesen worden waren, dass die Angeklagten nur ein eingeschränktes Recht auf Verteidigung hatten, da einige Zeugen nicht gehört werden konnten und das Gericht die Unabhängigkeit der Gutachter der Verteidigung bezweifelt hatte. Am 9. Juni wurden die vier ehemaligen Abgeordneten aus dem Ulucanlar-Gefängnis in Ankara entlassen, nachdem ihr Anwalt ihre Freilassung bis zum Verfahren vor dem Berufungsgericht im Juli gefordert hatte. amnesty international begrüßte die Entscheidung, drängte jedoch darauf, dass die vier bedingungslos freigelassen werden und keine weiteren rechtlichen Schritte gegen sie durchgeführt werden sollten.
Misshandlung und Folter durch die Polizei
In den letzten beiden Jahren schienen verschiedene Änderungen der Bestimmungen zu Festnahmen, Haft und Verhören sowie, laut Informationen des Justizministeriums, Belege für interne Kontrollen von Haftzentren durch Staatsanwälte, auf größere Bemühungen hinzuweisen, Vorgänge in Haftzentren zu standardisieren und den Gefangenen durch vorgeschriebene Abläufe einen gewissen Schutz gegen Misshandlung und Folter zu garantieren. amnesty international war jedoch nach wie vor besorgt darüber, dass die Bestimmungen in der Praxis nicht routinemäßig befolgt wurden, dass es weiterhin Berichte darüber gab, dass Gefangene keinen Anwalt sprechen durften, selbst nachdem sie dies verlangt hatten, und dass es immer noch Berichte über Folter und Misshandlungen gab. amnesty international drängte darauf, weitere Schutzmaßnahmen einzuführen, insbesondere Tonbandaufnahmen von Verhören mit Verdächtigen. Die größte Gefahr, gefoltert oder misshandelt zu werden, bestand für Inhaftierte, die verdächtigt wurden, gewöhnliche Verbrechen wie Diebstähle oder Raubüberfälle begangen zu haben. Statistiken, die von der Arbeitsgruppe zur Verhütung von Folter der Anwaltskammer in Izmir zusammengestellt worden waren, belegten dies. Diese Inhaftierten waren sich im Allgemeinen auch am wenigsten ihrer Rechte während der Haftzeit bewusst und fühlten sich am wenigsten berechtigt, sich über Misshandlungen zu beschweren.
Während im Vergleich zur Vergangenheit eine Verbesserung der Bedingungen in Polizeihaft festzustellen ist, gibt es nach wie vor regelmäßig Situationen, meist außerhalb formal geregelter Abläufe, bei denen die Behörden dazu neigen, übermäßige Gewalt anzuwenden und ihre Macht zu missbrauchen. Drei Arten solcher Situationen sind Demonstrationen, inoffizielle Festnahmen und ein Bericht über einen Fall von extralegaler Hinrichtung.
Polizeibrutalität bei Demonstrationen
Das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen in der Türkei gab nach wie vor Anlass zu Besorgnis und war eines der Themen, die Vertreter von amnesty international bei den Treffen mit der Regierung im Februar und Juni ansprachen (siehe oben).
Ein bei zahlreichen Gelegenheiten zu beobachtendes Muster war, dass Polizisten übermäßige Gewalt gegen Demonstranten einsetzten, insbesondere gegen Studenten, Gewerkschafter, Linke, Anhänger der politischen Partei DEHAP und andere Oppositionsgruppen. Beim Staatsanwalt angezeigte Misshandlungen führten nur selten zur Strafverfolgung von Sicherheitskräften, und wenn sie stattfand, waren die Sanktionen höchst eingeschränkt. Auf der anderen Seite wurden die Anzeigeerstatter häufig selbst nach Artikel 258 des türkischen Strafgesetzes (TStG) unter dem Vorwurf, sich „mit Gewalt oder durch Drohungen einem Beamten im Dienst widersetzt (mukavemet)“ zu haben, und wegen Verletzung von Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Demonstrationen strafrechtlich verfolgt, im letzteren Fall gewöhnlich wegen Teilnahme an einer rechtswidrigen Versammlung oder Demonstration.
Ein typisches Beispiel für dieses Muster ereignete sich am 12. April, als eine Gruppe Studenten in Ankara an einer Demonstration gegen ein für Ende Juni geplantes Gipfeltreffen der NATO teilnahm. Die Demonstration verlief friedlich, war aber nicht offiziell genehmigt. Polizeibeamte zur Aufstandsbekämpfung sollen übermäßige Gewalt angewendet haben, um die Protestierenden zu zerstreuen und festzunehmen, wobei sie diese schlugen und traten. Berichten zufolge sollen 71 festgenommene Studenten im Polizeihauptquartier in Ankara weiterhin geschlagen worden sein. Als sie am nächsten Tag zum Gericht gebracht wurden, sollen sie erneut vor Zeugen von Polizeibeamten sowohl innerhalb wie außerhalb des Gerichtsgebäudes misshandelt worden sein. Auf Verlangen des Staatsanwaltes ignorierte der Vorsitzende Richter die Beschwerden der Studenten und ihrer Anwälte über die Misshandlung. Stattdessen wurden sie nach Gesetz 2911 angeklagt. Die Behörden wiesen eine Anzeige ab, die 24 Studenten wegen ihrer Misshandlung beim Staatsanwalt in Ankara einreichten. Am 3. Mai wurde entschieden, keine Ermittlungen aufzunehmen. Die Studenten legten Berufung gegen diese Entscheidung ein. Auf der anderen Seite wurde ein Verfahren nach Artikel 258 TStG gegen zwei Studentinnen eröffnet, die sich über Folter und Misshandlung beschwert hatten. Ihnen wird vorgeworfen, „einen Beamten im Dienst beleidigt und geschlagen“ zu haben.
Berichte über Misshandlungen schienen häufiger von Demonstranten einzutreffen als von Personen, die sich wegen Verdachts auf andere politische Verbrechen in Polizeigewahrsam befanden. Demonstranten berichteten von Misshandlungen während der Teilnahme an Demonstrationen oder Versammlungen auf öffentlichen Plätzen, oder während des Transports in den Gewahrsam. Die Arbeitsgruppe zur Verhütung von Folter der Anwaltskammer Izmir gab an, dass von 91 Personen, die sich über Folter oder Misshandlung beschwerten und die politischer Verbrechen verdächtigt wurden (von insgesamt 423 Beschwerden im Jahr 2003), 70 eine Anklage wegen Verletzung von Gesetz Nr. 2911 erwarteten. Darüber hinaus berichtete die Arbeitsgruppe, dass sich von 333 Personen, die Vorwürfe über Folter und Misshandlung vorgebracht hatten und denen das Begehen einer (gewöhnlichen oder politischen) Straftat zur Last gelegt wird, 83 Anklagen wegen „Widerstand gegen einen Beamten durch Gewalt oder Drohungen“ gegenüber sahen (Artikel 258 TStG). Wie die Anwaltskammer von Izmir war auch diejenige von Diyarbakır besorgt über den unverhältnismäßig hohen Anteil von Personen, die Vorwürfe über Folter oder Misshandlung erhoben und sogar Spuren der Misshandlung trugen, die sich selbst mit Anklagen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt konfrontiert sahen. Beide Anwaltskammern hatten den Eindruck, dass manche Angehörige der Sicherheitskräfte zu solchen Anschuldigungen gegen Festgenommene griffen, um Berichten zu begegnen, sie hätten die Festgenommenen oder Demonstranten misshandelt, oder um Spuren zu verwischen und auf diese Weise die Erfolgsaussichten von Ermittlungen wegen der Misshandlungsvorwürfe zu verringern.
In den Fällen von Ermittlungen gegen Angehörige der Sicherheitskräfte wegen Anwendung von unverhältnismäßiger Gewalt bei Demonstrationen wird nur sehr widerstrebend auf die Verhängung angemessener Strafen hin gearbeitet. Tatsächlich ist es schwierig, Polizeibeamte in so genannten ‘robocop’-Uniformen zu identifizieren, da sie keine Abzeichen oder Erkennungsmarken tragen. Dies trägt zum Ausbleiben von Ermittlungen und Strafverfolgung bei. In den wenigen Fällen, in denen Verfahren wegen Polizeibrutalität eingeleitet wurden, gab es ebenfalls Widerstand gegen die Verhängung angemessener Disziplinarmaßnahmen.
Ein bezeichnender Fall ist derjenige des Polizeikameramanns Durmuş Yıldız, der fotografiert wurde, als er am 6. November 2003 während einer Studenten-Demonstration gegen den Hochschulrat (YÖK) einen bewegungsunfähig am Boden liegenden Studenten gleichzeitig trat und den Vorfall mit seiner Videokamera filmte. Ein Foto des Vorfalls erschien in der nationalen Presse. Die Strafe für Durmuş Yıldız war, dass er in den folgenden 6 Monate nicht befördert werden durfte. Durmuş Yıldız selber sagte aus, dass er sich an den Vorfall nicht erinnern könne und „nicht er selbst gewesen sei“, weil er durch das von der Polizei eingesetzte Pfeffergas beeinträchtigt gewesen sei. “Tekme atan polis: gazdan etkilendim”, Zeitung Milliyet, 8. Januar 2004.
Ein Foto eines Vorfalls während der Demonstrationen gegen den NATO-Gipfel in Istanbul Ende Juni lieferte ein weiteres alarmierendes Beispiel für die Anwendung übermäßiger Gewalt durch Sicherheitskräfte. Das Foto in der Zeitung Sabah zeigte einen Demonstranten, der von zwei Polizeibeamten festgehalten wurde und dem aus nächster Nähe Pfeffergas in das Gesicht gesprüht wurde. Innenminister Abdülkadir Aksu gab selbst zu, dass er sich, wie jeder andere, sehr unwohl beim Betrachten eines solchen Bildes fühle. ai forderte, dass der Vorfall vollständig aufgeklärt werden müsse und angemessene Strafen gegen die beiden verantwortlichen Polizeibeamten zu verhängen seien.
Nicht registrierte Festnahmen
Es gab weiterhin Berichte über nicht registrierte Festnahmen. Typischerweise wird dabei ein Verdächtiger von den Sicherheitsbehörden zur Befragung aufgegriffen und dann in einem Auto herum gefahren oder zu einem einsamen Ort oder zu einem nicht als Hafteinrichtung vorgesehenen Gebäude gebracht. Es erfolgen keine Aufzeichnungen, dass die Person jemals festgenommen wurde. Es konnte zwar keine Zunahme dieser Praxis nachgewiesen werden, die Tatsache, dass es aber weiterhin solche Berichte gibt, weist auf eine Lücke in der Befehlskette zwischen den Sicherheitsbehörden hin. Polizeiführungsoffiziere müssen alle ihre Einheiten unter ihre Kontrolle bringen und verantwortlich gemacht werden, wenn solche Pflichtverletzungen stattfinden. Nicht registrierte Festnahmen sind auch unter dem Gesichtspunkt der Straflosigkeit relevant, da in den meisten Berichten Zivilpolizisten in zivilen Polizeiautos als Täter angegeben wurden. Einige der Berichte bestärken die Auffassung, dass einige Beamte der Sicherheitskräfte die Reformen sabotieren, indem sie auf Methoden zurück greifen, die bei der festgenommen Person und ihrem Umfeld Angst erzeugen sollen.
Ein besonders besorgniserregender Fall war derjenige von Derya Aksakal. Sie berichtete, dass sie am 3. März gegen 17 Uhr bei ihrer Rückkehr vom Haydarpaşa Numune Hospital von hinten von einem Mann ergriffen und gezwungen wurde, in einen grauen Minibus einzusteigen. Nach ihren Angaben wurden ihr die Augen verbunden und ihre Hände auf dem Rücken gefesselt. Einer von vermutlich drei maskierten Männern sprach sie mit ihrem Namen an. Sie erkannte die hohe Stimme als diejenige eines Polizeibeamten aus einer Gruppe, die sie einen Monat früher verhört hatte. Damals war sie nach dem Besuch eines Streikpostens der Sişecam-Arbeiter festgenommen und zum Polizeihauptquartier von Istanbul gebracht worden. Sie wurde dann nach Informationen über ihre Mitarbeiterinnen und Aktivistinnen bei einer Frauenorganisation, der Gruppe der Arbeiterinnengewerkschaft in Ümraniye (Emekçi Kadınlar Birliği), wo sie arbeitete, befragt und gedrängt, Informantin zu werden. Als sie sich weigerte soll sie gefoltert worden sein, unter anderem durch Ausdrücken zahlreicher Zigaretten auf ihren Armen, Ausziehen ihrer Hose und Drohung mit Vergewaltigung, und Ausdrücken von Zigaretten auf ihren Oberschenkeln (ärztliche Atteste bestätigen die Verbrennungen durch Zigaretten); Zielen mit einem Gewehr auf ihren Kopf und Drohung mit Ermordung. Sie berichtete, dass sie gegen 19 Uhr auf einer leeren Fläche im Bezirk Kazım Karabekir von Ümraniye wieder freigelassen wurde.
Außergerichtliche Hinrichtungen
Besonders besorgt war ai wegen der Ermordung von Şiyar Perinçek in Adana. Am 28. Mai fuhren Şiyar Perinçek und Nurettin Başçı mit einem Motorrad in der Innenstadt von Adana, als sich Berichten zufolge ein Volkswagen mit zivil gekleideten Sicherheitsbeamten neben sie fuhr. Die Insassen sollen eine der Türen geöffnet und das Motorrad umgestoßen haben. Nurettin Başçı konnte weglaufen, aber Şiyar Perinçek wurde von einem Zivilpolizisten vermutlich aus unmittelbarer Nähe und ohne vorherige Aufforderung zum Anhalten angeschossen. Nurettin Başçı wurde in kurzer Entfernung von anderen Zivilpolizisten festgenommen. Trotz seines ernsten Zustandes wurde Şiyar Perinçek nicht sofort in eine Notaufnahme gebracht. Er starb am 30. Mai im Krankenhaus an seiner Schusswunde. Sein T-Shirt – an Hand dessen ermittelt werden könnte, aus welcher Entfernung der Schuss abgegeben wurde – wurde den Ärzten, welche die Autopsie ausführten, nicht zugänglich gemacht.
Nurettin Başçı und Mehmet Gazi Aydın (dieser wurde anscheinend auf Grund der Aussagen von Şiyar Perinçek im Krankenhaus festgenommen und zur Gegenüberstellung dort hin gebracht) wurden in die Anti-Terror-Abteilung des Polizeihauptquartiers in Adana gebracht, wo sie gefoltert worden sein sollen, unter anderem mit „Palästinensischem Aufhängen“, Entkleiden und, im Fall von Nurettin Başçı, durch Bespritzen mit Druckwasser und dem Zufügen von Elektroschocks. Nurettin Başçı soll außerdem in eine verlassene Gegend gebracht worden sein, wo ihm mit Ermordung gedroht und er einer Scheinhinrichtung unterworfen wurde, indem ein Gewehr unmittelbar neben seinem Kopf abgefeuert wurde. Der Rechtsanwalt von Nurettin Başçı durfte ihn nur einmal während des Gewahrsams kurz treffen. Außerdem sollen Polizeibeamte bei der ärztlichen Untersuchung von Nurettin Başçı anwesend gewesen sein, obwohl das türkische Gesetz bestimmt, dass sie sich außerhalb aufhalten müssen, während der Häftling untersucht wird.
Während der Treffen mit der türkischen Regierung im Juni brachte ai die mögliche außergerichtliche Hinrichtung von Şiyar Perinçek zur Sprache und forderte eine umfassende Untersuchung des Vorfalls. Die offizielle Antwort während dieser Besprechungen war der Versuch, den Vorfall in Zusammenhang mit einer „Sicherheitsoperation“ in der Region Adana zu rechtfertigen. Während der Operation sollen Munition und Gewehre gefunden und Pläne für eine bewaffnete Aktion der kurdischen Oppositionsgruppe PKK/Kongra Gel aufgedeckt worden sein. Şiyar Perinçek und Nurettin Başçı wurden als Hauptverdächtige für den geplanten Anschlag genannt, und es wurde behauptet, Şiyar Perinçek sei während einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften getötet worden. Eine anschließend durchgeführte unabhängige Untersuchung von Vertretern des Menschenrechtsvereins, Mazlum Der, der Menschenrechtsstiftung der Türkei und des Gewerkschaftsverbandes KESK kam auf Grund von Zeugenaussagen zu dem Ergebnis, dass es keinen Beweis für eine bewaffnete Auseinandersetzung gibt. Über die Untersuchung wurde ein Bericht veröffentlicht. ai war sehr beunruhigt, dass die türkischen Behörden es zu Beginn der Treffen nicht für notwendig hielten, die berichteten Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, da sie sich im Zusammenhang mit einer Sicherheitsoperation ereignet hätten. Die Organisation war ebenfalls sehr besorgt über nachfolgende Berichte, wonach den oben genannten Menschenrechtlern bei der Untersuchung des Falles vom stellvertretenden Polizeichef von Adana sehr aggressiv vorgehalten wurde: „Ihr seid Leute und Vereine, die sich als Menschenrechtsverteidiger maskieren… Hier geht es um Terrorismus… Bei euren Aktivitäten [hier] habt ihr Hintergedanken, es geht nicht um Menschenrechte“.
Im Folgenden leitete der Staatsanwalt ein Verfahren gegen drei Polizeibeamte wegen „Misshandlung“ von Nurettin Başçı und gegen einen der drei wegen „unbeabsichtigter Tötung“ von Şiyar Perinçek ein. ai hat ihre Anliegen zu diesen Fällen in einem Schreiben an die türkischen Behörden mitgeteilt.
Recht auf freie Meinungsäußerungen
Es wurde weiterhin über Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung berichtet, und in einigen Fällen wurden Gefängnisstrafen verhängt. Ein früherer Journalist der Milli Gazete, Hakan Albayrak, trat am 20. Mai seine Haftstrafe im Gefängnis Kalecik in der Provinz Ankara an, nachdem das Berufungsgericht das Urteil der Vorinstanz bestätigt hatte. Von den 15 Monaten Haft wegen „Begehen eines Verbrechens gegen Atatürk“ (Gesetz Nr. 5816) muss er sechs Monate verbüßen. Der Journalist hatte einen Artikel mit dem Titel „Begräbnisriten“ geschrieben, in dem er behauptete: „Mustafa Kemal Pascha wurde ohne Begräbnisriten (cenaze namazı) beerdigt. Und das hat weder den Staat noch die Gesellschaft interessiert.“
ai betrachtet die sehr hohen Geldstrafen, die nach den Bestimmungen des früheren Pressegesetzes gegen Zeitungen wie Vakit und Muş Haber wegen Artikeln, die gewaltlose Meinungsäußerungen enthielten, ebenfalls als Strafmaßnahme zur Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung.
Ein Verfahren gegen den Autor Fikret Başkaya und seinen Verleger wegen gewaltloser Meinungsäußerung im Buch Gegen den Strom wurde fortgesetzt. Im Fall seiner Verurteilung droht Fikret Başkaya eine dreijährige Haftstrafe nach Artikel 159 TStG wegen „absichtlicher Beleidigung oder Verspottung des türkischen Staates“.
Schikanen gegen Menschenrechtsverteidiger
Im Februar veröffentlichte ai den Bericht Türkei: Einschränkende Gesetze, willkürliche Anwendung – der Druck auf Menschenrechtsverteidiger (ai Index: EUR 44/002/2004), in dem dargelegt wurde, wie Mitglieder der Zivilgesellschaft – darunter Rechtsanwälte, Ärzte, Umweltaktivisten, Gewerkschafter – weiterhin wegen ihrer Aktivitäten zur Verteidigung der Menschenrechte angegriffen wurden. Obwohl verschiedene Gesetze und Verordnungen, die benutzt worden waren, um die Rechte von Menschenrechtsverteidigern unnötig einzuschränken, in den Jahren 2002 und 2003 geändert oder aufgehoben wurden, und trotz einer größeren Bereitschaft der Regierung, mit Vertretern der Zivilgesellschaft zu beraten, haben Staatsbedienstete, darunter Staatsanwälte und Polizeibeamte, neue Wege gefunden, die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlung und Vereinigung einzuschränken. Dazu gehören das Verbot oder die Einschränkung von Aktivitäten, die als zentral für die Verteidigung der Menschenrechte betrachtet werden müssen, wie Petitionen, das Verlesen von Presseerklärungen und Demonstrationen, ebenso die Eröffnung einer großen Zahl von Verfahren und Ermittlungen gegen Menschenrechtsverteidiger und ihre Organisationen. Diese Verfahren und Ermittlungen führten kaum zu Gefängnisstrafen, aber häufig zu hohen Geldstrafen. Sie sind eine Form der Verfolgung, die einen Missbrauch des Justizsystems aus ideologischen Gründen darzustellen scheint. Weiterhin war ein Muster im Verhalten von Staatsanwälten zu beobachten, die „alternative Anklagen“ unter Anwendung einer breiten Palette von Gesetzen erhoben – zur öffentlichen Ordnung, über Vereine und Stiftungen, und über die Presse – um Übertretungen zu bestrafen, wenn durch Gesetzesänderungen oder Entscheidungen höherer Gerichte eine erfolgreiche Strafverfolgung unwahrscheinlich erschien.
Ein Beispiel hierfür waren die Verfahren gegen İHD-Vertreter nach der Veröffentlichung von Plakaten auf Kurdisch zur Feier der Menschenrechtswoche im Dezember 2003. Diese wurden auf Anordnung der Staatsanwälte in verschiedenen Provinzen beschlagnahmt. Obwohl die Anordnung des Staatsanwalts in Van mit der Begründung, das Zeigen von Plakaten auf Kurdisch „beschädigt die Grundlagen der [Türkischen] Republik“ durch das Justizministerium schnell wieder aufgehoben wurde, war der Schaden nicht mehr gut zu machen, da die Menschenrechtswoche bereits vorüber war. Andere Verfahren wurden unter bürokratischen Vorwänden eröffnet, z. B. gegen Vetha Aydın, Vorsitzender der Zweigstelle in Siirt, und Hüseyin Cangir, Vorsitzender in Mardin, angeblich weil Plakate ohne die erforderliche Genehmigung durch den Gouverneur an öffentliche Anschlagwände gehängt worden waren. Vetha Aydın wurde am 19. April freigesprochen, Hüseyin Cangir erhielt jedoch am 21. April eine hohe Geldstrafe. Außerdem wurde ein Verfahren gegen den Rechtsanwalt Mikail Demiroğlu eröffnet. Die erste Verhandlung soll am 12. Oktober stattfinden, nach Artikel 206 TStG wegen „Ausübung von Einfluss und Gewalt um die Ausführung von Bestimmungen aus Gesetzen und Verordnungen zu verhindern“. Der Grund für das Verfahren soll sein, dass er Mitglieder des İHD in Hakkari, deren Büro sich im selben Gebäude befindet wie sein eigenes, beraten hatte, dass Polizeibeamte die Plakate nicht ohne entsprechende Verfügung beschlagnahmen dürften.
Am 19. Januar verurteilte ein Staatssicherheitsgericht in Istanbul die Vorsitzende von Göç Der (Verein der Migranten für Soziale Kooperation und Kultur), Şefika Gürbüz, zu einem Jahr Gefängnis (später auf eine Geldstrafe von 10 Milliarden Türkische Lira(1.300 €) reduziert) nach Artikel 312 TStG wegen „Aufstachelung zu Feindschaft“, in Zusammenhang mit der Vorstellung eines Berichts zu erzwungener Migration im März 2002. Mehmet Barut, der Autor des Berichts, der ebenfalls strafrechtlich belangt worden war, wurde freigesprochen.
Am 27. April wurde ein Verfahren eingeleitet, um eine im Dezember 2003 neu gegründete Menschenrechtsinitiative, den „Verein für die Menschenrechtsagenda“ (İnsan Haklari Gündemi Derneği – İHGD), zu verbieten. Die Forderung nach Schließung wurde damit begründet, dass der Verein seine Satzung nicht gemäß den Anforderungen der Vereinsbehörde des Polizeihauptquartiers in Izmir geändert hatte. Obwohl einige Änderungen vorgenommen wurden, waren viele der geforderten Änderungen unnötig und stellten keine Verletzung des Vereinsgesetzes dar.
Am 9. März 2004 fand ein Verfahren gegen neun Vorstandsmitglieder der Menschenrechtsstiftung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları Vakfı, TİHV) wegen Verletzung von Gesetz Nr. 2860 über Stiftungen ein abruptes Ende, als der Staatsanwalt nicht zur Verhandlung erschien. Das Verfahren, in dem die TİHV solcher „Zuwiderhandlungen“ beschuldigt wurde wie dem Sammeln von Spenden durch einen Internetaufruf, der Übersetzung und Verteilung ihrer Berichte an internationale Menschenrechtsbeobachter und dem Zusammentreffen mit Menschenrechtsbeobachtern wie dem Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für außergerichtliche, summarische und willkürliche Hinrichtungen, war in der Türkei und international weithin verurteilt worden. Die folgende Einstellung des Verfahrens ist zwar eine begrüßenswerte Entwicklung, die Bestimmungen, die eine solche Strafverfolgung erst ermöglichten, blieben jedoch in Kraft.
Am 13. Februar 2004 wurden Dr. Alp Ayan und Günseli Kaya von der TİHV-Zweigstelle in Izmir zu 18 Monaten Haft nach Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Demonstrationen verurteilt, weil sie „sich gewaltsam der Auflösung“ widersetzt haben sollen, nachdem sie versucht hatten, am Begräbnis eines im September 1999 im Ulucanlar Gefängnis getöteten Insassen teilzunehmen. Videoaufnahmen zeigen, dass die Sicherheitskräfte die Menge nicht aufforderten, sich zu zerstreuen, und übermäßige Gewalt gegen die versammelten Menschen einsetzten. ai ist der Auffassung, dass die Strafverfolgung eine ausgesprochen harte Anwendung des Gesetzes darstellt, und dass die Menschenrechtler lediglich ihr Recht auf friedliche Versammlung in ihrer Eigenschaft als Menschenrechtsverteidiger ausübten. Die Angeklagten legten Berufung gegen das Urteil ein und befanden sich Ende Juni noch auf freiem Fuß.
Am 29. Mai wurde der gewaltlose politische Gefangene Özkan Hoşhanlı, vormaliger Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Mazlum Der in Malatya, aus dem Yeşilyurt-Gefängnis entlassen. Er hatte seit dem 28. Oktober 2003 eine Strafe verbüßt, weil er nach der Beobachtung von Demonstrationen im Jahr 1999 wegen Verletzung von Gesetz Nr. 2911 verurteilt worden war.