Von Ömer Erzeren
Der lange Marsch
Die türkische Regierung bemüht sich ernsthaft, die Menschenrechtssituation zu verbessern. In den Institutionen setzen sich die Reformen jedoch nur langsam durch.
Seit acht Jahren steht die Rechtsanwältin Kadriye Dogan Opfern von Menschenrechtsverletzungen mit Rat und Tat zur Seite. Zweimal in der Woche ist Sprechstunde im Istanbuler Büro des 1986 gegründeten Vereins für Menschenrechte. Mehrere Dutzend Menschen kommen wöchentlich vorbei. Manche beschweren sich über Umweltsünder, andere darüber, dass Krankenhäuser wegen einer fehlenden Versicherung die Behandlung verweigern. In diesen Fällen bleibt Aktivisten wie der Rechtsanwältin Dogan nur übrig, Wege aufzuzeigen, wie die Betroffenen sich mit Privatklagen wehren können.
Rund die Hälfte der Besucher sucht die Anwältin wegen Menschenrechtsverletzungen auf, bei denen unmittelbar staatliche Institutionen involviert sind: Folter und Misshandlungen auf Polizeiwachen, Verweigerung rechtsanwaltlichen Beistandes während der Polizeihaft, inhumane Vollzugsbedingungen in den Gefängnissen, polizeiliches Vorgehen gegen die Versammlungsfreiheit, politische Prozesse, die die Einschränkung der Meinungsfreiheit zum Ziel haben. Im Falle von Folter unterstützt der Verein die Betroffenen bei der Formulierung der Strafanträge, und Rechtsanwälte verfolgen alle Strafanträge, bei denen Beamte wegen Misshandlung und Folter angeklagt sind.
Noch vor wenigen Jahren waren die meisten Opfer, die sich an Menschenrechtsorganisationen wandten, Menschen, die wegen ihrer politischen Arbeit in Konflikt mit dem Staat kamen. Zumeist handelte es sich um Kurden und Angehörige linker Organisationen, die Opfer von Repression wurden. In den neunziger Jahren herrschte in den kurdischen Provinzen eine bürgerkriegsähnliche Situation. Den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Armee und PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) fielen über 40.000 Menschen zum Opfer.
Diese Verhältnisse waren der maßgebliche Nährboden für die katastrophale Menschenrechtssituation. Viele Provinzen im Südosten wurden im Ausnahmezustand regiert, Grundrechte waren faktisch außer Kraft gesetzt. Der Kurswechsel in der Politik gegenüber den Kurden, umfassende Rechtsreformen in den vergangenen drei Jahren, die die bürgerlichen Rechte gegenüber dem Staat stärkten und die politische Deeskalationsstrategie, die mit dem Machtantritt der islamisch-konservativen Regierung Tayyip Erdogan spürbar geworden ist, haben Wirkung auf die Menschenrechtssituation gezeigt.
Beispielhaft dafür ist auch die Situation von Menschenrechtsorganisationen, die selbst Ziel staatlicher Verfolgung wurden: Im Jahr 2002 waren noch 104 Prozesse gegen die Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins anhängig. In den vergangenen zwei Jahren wurden dagegen nur zwei Prozesse gegen den Verein eröffnet.
So macht Rechtsanwältin Dogan eine Erfahrung, die viele Menschenrechtsaktivisten in der Türkei machen: Zunehmend sind es nicht Mitglieder politischer Gruppierungen und Parteien, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen zu Wort melden, sondern „normale“ Bürger, die vormals kaum Kontakt zu Menschenrechtsorganisationen hatten.
Zum Beispiel Hüsniye Günay, die wegen der Tötung ihrer Schwiegermutter in Polizeihaft genommen und dort gefoltert wurde. Zwei Polizisten wurden angeklagt, schließlich wurde ein Polizist zu drei Monaten Haft verurteilt. Rechtsanwältin Dogan ging in Revision und der Kassationshof kassierte das milde Urteil der Istanbuler Strafkammer, die bei der Verurteilung nicht den schweren Tatbestand der Folter (der nach dem neuen Strafgesetzbuch mit bis zu 12-jähriger Gefängnisstrafe geahndet werden kann) zugrundelegte. Jetzt muss neu verhandelt werden. „Wenn die Begründung des Kassationshofes Beispiel macht, ist viel gewonnen“, hofft die Anwältin.
Ministerpräsident Tayyip Erdogan wiederholte mehrfach, dass seine Regierung eine Politik der „Null-Toleranz“ gegenüber Folter verfolge. Tatsächlich hat sich die Menschenrechtssituation nach mehreren Verfassungsreformen, der Revision von Strafgesetzbuch und Vollzugsbestimmungen, sowie nach Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, die adaptiert wurden, erheblich verbessert. Einst konnten Verdächtige 14 Tage lang in Polizeihaft festgehalten werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. Für viele war diese Haft gleichbedeutend mit 14 Tagen systematischer Folter. Heute darf die Polizei Verdächtige nur 24 Stunden festhalten und selbst in dieser Zeit haben die Festgenommenen das Recht auf anwaltlichen Beistand. Die Anwaltskammern großer Städte, wie Istanbul oder Izmir, haben einen Telefondienst eingerichtet, bei dem Tag und Nacht unentgeltlich Anwälte angefordert werden können.
Doch von einer „Null-Toleranz“- Politik der Regierung gegenüber Folter kann nicht die Rede sein. Es wäre ganz einfach, Beamte nach Foltervorwürfen vorübergehend vom Dienst zu suspendieren. Doch selbst nach Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft gegenüber Polizeibeamten bleiben diese weiterhin im Dienst. Erst ihre Verurteilung führt zu einer Suspendierung.
Das Innenministerium und der Polizeiapparat haben ihre Haltung nicht verändert. Doch gerade energisches Handeln der Verwaltung bei Foltervorwürfen würde die Situation maßgeblich verändern – mehr noch als die Menschenrechtskurse, die jetzt zum Ausbildungsprogramm von Polizisten gehören.
Hinzu kommt, dass Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Fälle dokumentiert haben, wo Verfahren so lange verschleppt werden, bis die Taten verjährt sind. Großes Aufsehen erregte das Verfahren gegen Polizisten, die den Studenten Birtan Altintas im Jahr 1991 zu Tode folterten. Die Polizisten blieben „unauffindbar“. Ganze dreizehn Jahre später, im März diesen Jahres, endete der Prozess mit der Verurteilung von vier Polizisten zu viereinhalb Jahren Haft. Erst langsam – viele Bestimmungen sind erst seit wenigen Monaten in Kraft – setzt in der Justiz ein Wandel ein.
Kürzlich forderte der türkische Verfassungsgerichtspräsident, dass die Möglichkeit von Individualklagen vor dem Verfassungsgericht eingeräumt werden müsse, um die Zahl der Verurteilungen der Türkei vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu senken. Viele Reformen fanden bislang nur auf dem Papier statt. So wurden die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte, die „Verbrechen gegen den Staat“ ahndeten und ein Instrumentarium zur Verfolgung politischer Opposition darstellten, abgeschafft. Die Schilder wurden zwar abmontiert – statt Staatssicherheitsgericht heißen die Gerichte nun Strafgerichte. Doch es sind dieselben Richter und dieselben Staatsanwälte. Auch das amtliche Institut für Gerichtsmedizin, dem bei Gerichtsprozessen eine zentrale Rolle zur Klärung von Foltervorwürfen zufällt, ist weit davon entfernt, eine unabhängige Rolle zu spielen.
Zu diesem Institut gehören Ärzte, die von der Ärztekammer mit Strafen belegt worden waren, da sie gefolterten Menschen falsche Atteste ausgestellt hatten, in denen behauptet wurde, dass keine Folterspuren nachzuweisen seien. Gefangenen, die nach Hungerstreiks am Wernicke-Korsakoff-Syndrom, der Zerstörung wichtiger Hirnfunktionen, litten und die wegen Haftunfähigkeit entlassen worden waren, stellte das Institut Gutachten aus, dass sie haftfähig seien.
Trotz spürbarer Verbesserungen bei der Menschenrechtssituation in den vergangenen Jahren ist die Lage ernst. Die Menschenrechtsstiftung spricht allein von 600 Folterfällen im vergangenen Jahr. Sie beharrte im Vorfeld des Fortschrittsberichtes der EU-Kommission darauf, dass „systematisch“ gefoltert werde. Grund für Fortschritte ist das politisch entspanntere Verhältnis in den kurdischen Regionen. Die Aufhebung des Verbots der kurdischen Sprache, die Möglichkeit, private Kurse in Kurdisch anzubieten und kurdische Programme in Radio und Fernsehen haben ebenso wie die Aufhebung des Ausnahmezustandes zur Entspannung beigetragen.
Doch die Reformen sind halbherzig. Radio- und Fernsehprogramme sind beispielsweise zahlreichen Einschränkungen unterworfen. Eine umfassende Demokratisierung, wichtigstes Mittel um Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen, ist für nationalistische Kräfte immer noch ein Schreckgespenst – die Vorstufe für Sezession und „Zerstückelung“ der Türkei.
Erst jüngst wurde dies deutlich, nachdem der Menschenrechtsbeirat beim Ministerpräsidenten einen Bericht über Minderheiten und kulturelle Rechte vorlegte. In dem Gutachten werden diskriminierende Bestimmungen in der Gesetzgebung wie in der Praxis durchforstet. Der Beirat ist ein Novum. In ihm sind Bürokraten, Vertreter von NGOs und Wissenschaftler, aber auch die Menschenrechtsstiftung und der Menschenrechtsverein vertreten. Der Beirat verfasste eine Reihe hervorragender Gutachten und machte konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Menschenrechtssituation.
Bei der Pressekonferenz, die das Gutachten zu Minderheiten und kulturellen Rechten vorstellen sollte, kam es zum Eklat. Einzelne Beiratsmitglieder denunzierten den Gutachter und die Mehrheit des Beirates, die das Gutachten verabschiedet hatten, als „Vaterlandsverräter“ und zerrissen den Text, den der Vorsitzende, der Rechtsprofessor Ibrahim Kabaoglu, verlesen wollte. Die Pressekonferenz musste abgebrochen werden.
Die Reaktion der Regierung offenbart ihr zwiespältiges Verhältnis zu den Menschenrechten: Statt sich hinter den Beirat zu stellen, kritisierten Regierungsmitglieder, dass der Entwurf des Gutachtens öffentlich kursierte, bevor er der Regierung vorgelegt wurde. Während sich die Regierung gegenüber der Europäischen Union rühmt, einen Menschenrechtsbeirat geschaffen zu haben, finden dessen Vorschläge kaum Eingang in die Politik.
Doch noch vor wenigen Jahren wäre der Verfasser solcher Thesen, wie sie im Gutachten des Beirats zu den Minderheiten formuliert werden, ins Gefängnis gewandert. Heute werden radikaldemokratische Thesen mit einem amtlichen Stempel versehen, selbst wenn sie noch nicht von der Politik beherzigt werden. Beim Kampf um die Durchsetzung von Menschenrechten braucht man einen langen Atem. Über zwei Jahrzehnte lang wurden die Menschenrechtsaktivisten zermürbt und gaben dennoch nicht auf. Heute herrscht zumindest Hoffnung. Die politischen Rahmenbedingungen waren seit dem Militärputsch 1980 nicht mehr so günstig.
Ömer Erzeren
- Der Autor ist Journalist und lebt in Istanbul.