Von Amke Dietert
Eine kritische Lektüre des EU-Fortschrittsberichts zum Thema Folter
Die EU-Kommission hat der Türkei in ihrem Bericht von Anfang Oktober deutliche Fortschritte in der Wahrung der Menschenrechte bescheinigt und dem Land stabile demokratische Strukturen und eine menschenrechtskonforme Gesetzeslage attestiert. So verweist der so genannte Fortschrittsbericht beim Thema Folter auf die von der türkischen Regierung erklärte „Null-Toleranz-Politik“, die zu einem deutlichen Rückgang der Vorwürfe geführt habe.
Dennoch spricht der Bericht nach wie vor gravierende Mängel an. Er kommt zu dem Schluss, dass zwar nicht mehr von einer systematischen Anwendung gesprochen werden könne, Folter und insbesondere Misshandlungen aber immer noch häufig vorkämen. Es bedürfe weiterer Anstrengungen, um diese Praxis restlos zu beseitigen. Angemerkt wird außerdem, dass Berichte über Folterungen außerhalb der regulären Polizeihaft deutlich zugenommen haben.
Für Irritationen sorgte in diesem Zusammenhang die Aussage des Vorsitzenden der türkischen Menschenrechtsstiftung, in der Türkei werde noch immer systematisch gefoltert. Daraus entwickelte sich eine Debatte über die Frage, was „systematische Folter“, ein Begriff, der im internationalen Recht nicht definiert ist, tatsächlich bedeutet.
Während Erweiterungskommissar Günther Verheugen die Position vertritt, systematisch sei Folter nur dann, wenn sie von der Regierung angeordnet werde, ist allgemein eine weiter gehende Interpretation üblich. Die türkische Menschenrechtsstiftung beruft sich u.a. auf eine Definition der Europäischen Menschenrechtskommission, die Folter „als administrative Praxis bezeichnet, wenn trotz des Verbots von Folter und Misshandlungen die Vorgesetzten derartige Taten dulden, nichts in Richtung Bestrafung unternehmen oder eine Wiederholung nicht verhindert wird“.
Trotz aller Verbesserungen der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Polizeihaft und der Möglichkeit der Strafverfolgung von Folterern ist die Anzahl der eingeleiteten Verfahren und der daraus resultierenden Verurteilungen noch immer äußerst gering. Die Staatsanwälte leiten von sich aus keine Ermittlungen ein, wenn sie z.B. in Gerichtsverfahren von Foltervorwürfen erfahren. In vielen Fällen kommt es auch nach der Erstattung von Anzeigen nicht zur Eröffnung von Verfahren.
Während einerseits die Staatsanwälte ihrer Kontrollfunktion über die Ermittlungen der Polizei und ihrer rechtlichen Verpflichtung zur Verfolgung von Offizialdelikten nicht nachkommen, scheitern Gerichtsverfahren oft daran, dass innerhalb der Polizei die Ermittlung der Täter blockiert wird. Da Festgenommenen in der Polizeihaft die Augen verbunden werden, können sie in den meisten Fällen ihre Folterer nicht identifizieren.
Eine wichtige Forderung, die die EU-Kommission an die Türkei richten sollte, wäre daher eine klare Regelung, wonach die Leiter von Polizeistationen disziplinarrechtlich und auch strafrechtlich dafür verantwortlich gemacht werden, Folter in ihrem Verantwortungsbereich zu verhindern und im Fall von Verstößen die Täter zu ermitteln. Dies entspricht auch der Erklärung des Europarats zur Polizei, worin auf die Notwendigkeit einer eindeutigen Befehlskette und die Verantwortung der Vorgesetzten verwiesen wird.
Amke Dietert
- Die Autorin ist ai-Türkei-Expertin.