AI-JOURNAL DEZEMBER 2004
Türkei
DIE TUERKISCHE AI-SEKTION KÄMPFT GEGEN DIE GEWALT AN FRAUEN.
Verantwortlich sind wir alle
Die türkische ai-Sektion führt einen erfolgreichen Kampf gegen die Gewalt an Frauen. Durch ihre Aktionen konnte sie die Änderung vieler Gesetze bewirken.
Wie in allen Teilen der Welt werden auch in der Türkei die Menschenrechte hunderttausender Frauen Tag für Tag verletzt. Wegen der hegemonialen männlichen Sicht, die es ablehnt, Frauen als gleichberechtigt anzuerkennen, werden Frauen geschlagen, vergewaltigt, bisweilen sogar getötet oder zum Selbstmord getrieben, werden Frauen in jungen Jahren zu Ehen gezwungen und als Waren gehandelt. Frauen erleben nicht nur körperliche Gewalt; hinzu kommen Formen psychischer, wirtschaftlicher, sozialer und sexueller Gewalt.
Gewalt gegen Frauen ist ein globales Phänomen und wird weltweit unter dem Vorwand von Liebe, Eifersucht, Leidenschaft, Ehre oder Tradition ausgeübt. Zudem werden Frauen wegen ihrer ethnischen, klassenmäßigen oder sexuellen Identität zu Gewaltopfern. Unter der in der Türkei vorherrschenden Kultur der Gewalt leiden Frauen in doppelter Hinsicht: Zum einen sind sie unmittelbar Gewalt ausgesetzt, zum anderen gibt es verschiedene Gründe, die es ihnen erschweren, sich Hilfe suchend an die Justiz zu wenden. Das größte Risiko zum Opfer von Gewalt zu werden tragen jene Frauen, die aus Familien mit niedrigem Einkommen, aus von Naturkatastrophen heimgesuchten Gegenden oder aus Konfliktgebieten stammen.
Trotz der zahlreichen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert ist, gelang es der türkischen Frauenbewegung, einen ausdauernden und intensiven Kampf gegen Gewalt gegen Frauen zu führen. Durch Kampagnen, Aktionen, Lobbyarbeit und eine Reihe weiterer Aktivitäten konnte sie die Änderung vieler Gesetze bewirken. Die türkische Frauenbewegung hat die Kultur der Gewalt mutig angeprangert. Ihr ist zu verdanken, dass Gewalt gegen Frauen allmählich als Verletzung von Menschenrechten gewertet wird. Insbesondere beinhaltet die im September beschlossene Strafrechtsreform eine Reihe von erfreulichen Regelungen, die als großer Erfolg des Kampfes der Frauen zu werten sind. Weltweit gehört die türkische Frauenbewegung heute zu den lebendigsten überhaupt.
Am 5. März 2004 begann unsere Kampagne „Hinsehen & Handeln – Gewalt gegen Frauen verhindern!“, mit der wir als türkische Sektion von amnesty international einen Beitrag zu diesem Kampf leisten möchten, den die Frauenorganisationen seit Jahren führen, indem wir ihn auf die internationale Ebene tragen. In Zusammenarbeit mit Aktivistinnen und Frauenorganisationen möchten wir gesellschaftlichen Druck zur juristischen Verfolgung von Gewalt gegen Frauen erzeugen.
Der Staat ist gemäß internationalem Recht nicht nur dazu verpflichtet, Frauen vor Gewalt zu schützen, die von staatlichen Bediensteten verübt wird, er muss auch bei Gewalt einschreiten, die von Privatpersonen ausgeht. Und zwar unabhängig davon, wo die Gewalt verübt wird und unabhängig davon, wer der Täter ist. Der Staat ist verpflichtet, geeignete vorbeugende Maßnahmen gegen Gewalt zu treffen, Gewalt zu sanktionieren und die Schuldigen zu bestrafen.
Unsere Kampagne erachtet bestimmte Punkte als vordringlich: So müssen die in jüngster Zeit beschlossenen menschenrechtlichen Verbesserungen und die verabschiedeten Gesetzesänderungen jetzt in die Praxis umgesetzt werden. In diesem Zusammenhang muss gegenüber den Ehrenmorden, die in letzter Zeit wieder einmal die türkischen Medien beschäftigt haben, mehr gesellschaftliche Sensibilität geschaffen werden. Zusätzlich müssen dringend Frauenhäuser eröffnet werden, die den Frauen Schutz bieten.
Seit den jüngsten Gesetzesänderungen ist jede Stadt mit mehr als 50.000 Einwohnern verpflichtet, Frauenhäuser einzurichten. Vor diesem Hintergrund möchten wir mit unserer Kampagne die staatlichen Stellen dazu bewegen, umgehend die finanziellen Mittel zur Gründung von Frauenhäusern zur Verfügung zu stellen. Diese Frauenhäuser müssen qualitativ und quantitativ den Bedürfnissen gerecht werden, sie müssen die Forderungen der Frauenorganisationen berücksichtigen und mit ihnen zusammenarbeiten. Acht Frauenhäuser gibt es gegenwärtig in der Türkei, 300 wären nach internationalem Standard notwendig.
Ein großes Problem bei der Thematisierung aller Formen der Gewalt gegen Frauen besteht darin, dass hierüber keine statistischen Daten gesammelt werden. Wegen der Vorurteile in der Gesellschaft, aus Angst vor weiterer Gewalt und aus der Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden, sprechen viele Frauen nicht über die Gewalt, die sie erleben. Die Frauen, die darüber sprechen wollen, wissen zumeist nicht, an wen sie sich wenden können. Damit diesen Frauen geholfen und die Täter verfolgt werden können, müssen Notruftelefone eingerichtet werden. Wir fordern, dass genügend Informations- und Anlaufstellen für Frauen geschaffen werden, die gegen die Gewalt, die sie erleben, vorgehen wollen.
Zudem verlangen wir eine Bestrafung derjenigen Sicherheitskräfte und Justizbediensteten, die bei diesbezüglichen Beschwerden ihre Pflichten vernachlässigen. Damit die beschlossenen Gesetzesänderungen auch in die Praxis umgesetzt werden, fordern wir, dass diejenigen, deren Aufgabe es ist, die Achtung der Gesetze zu gewährleisten, entsprechend ausgebildet werden. Dies gilt insbesondere für die Polizei.
Im Juli haben wir eine an Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan adressierte Unterschriftenkampagne gestartet, die die oben aufgezählten Forderungen enthält. In unserem Kampf gegen Gewalt gegen Frauen ist der Staat nicht der alleinige Adressat. Daneben sind verschiedene weitere Personen und Institutionen für die Etablierung der Gewalt verantwortlich: Ehepartner, Familienangehörige, die Medien, religiöse Führer. Daher denken wir, dass es für eine Lösung des Problems einer tief greifenden gesellschaftlichen Umwälzung bedarf.
Ein weiteres Element der Kampagne bilden die Aktivitäten, die darauf zielen, gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Problem zu schaffen. So tragen wir unsere Parole „Der Gewalt die rote Karte zeigen“ in die Fußballstadien, wo eine patriarchale, gewalttätige Atmosphäre vorherrscht. Fußballmannschaften, die unsere Kampagne unterstützen, laufen in T-Shirts und Transparenten mit dieser Parole auf. Mit Hilfe von Musikern und Künstlern, die uns unterstützen, erscheint die Parole auf Bühnen, bei Konzerten und Festivals. So können wir ein breites Publikum erreichen.
Wir werden in nächster Zeit verschiedene Städte, Kreisstädte und Dörfer mit unserem Kampagnenbus besuchen und verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen (Morde im Namen der Ehre, Gewalt in der Familie, Frauenhandel) thematisieren. Damit wollen wir das gesellschaftliche Bewusstsein schärfen, Öffentlichkeit herstellen und die Entscheidungsträger an ihre Verantwortung erinnern. In Kooperation mit örtlichen Frauenorganisationen werden wir Gespräche mit Frauen führen und die jeweiligen Stadtverwaltungen aufsuchen, um mit ihnen über die Gründung von Frauenhäusern zu sprechen. Auf unserer Reise begleiten werden uns stumme Zeuginnen – lebensgroße Figuren aus Pappkarton, die Frauen symbolisieren, die in der Türkei und anderswo zu Opfern von Gewalt wurden. Außerdem wollen wir verschiedene Veranstaltungen organisieren, bei denen wir die persönlichen Dinge von Gewaltopfern aus verschiedenen Ländern ausstellen. So werden wir fernab erlebte individuelle Dramen in türkische Dörfer tragen.
Eine weitere Form der Gewalt, mit der wir uns in unserer Kampagne beschäftigen werden, ist der Frauenhandel. Viele der Frauen, die wie Waren verkauft werden, müssen Menschenrechtsverletzungen erdulden, die als Folter und Misshandlung bewertet werden können. Das Problem wird dadurch erschwert, dass diese Frauen weniger als Opfer denn als Verbrecherinnen behandelt werden. Um ein Bewusstsein für dieses weit verbreitete und zugleich verdrängte Phänomen zu schaffen, möchten wir ein Symposium organisieren, zu dem wir internationale Fachleute auf diesem Gebiet und andere Sektionen von amnesty international einladen werden.
Um Strategien gegen Ehrenmorde zu entwickeln und die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken, wollen wir 2005 ein internationales Symposium organisieren. Die Türkei ist ein Land, in dem Gewaltformen wie Frauenhandel sowie Morde im Namen der Ehre und aus Gründen der Tradition an der Tagesordnung sind. Um dies zu thematisieren und langfristig zu beenden, wollen wir als ai-Türkei mit allen Sektionen Kontakt aufnehmen und deren Unterstützung gewinnen.
Mit Gruppen in vier Städten, die offiziell seit 2002 arbeiten, verfügen wir als ai-Türkei über eine junge und dynamische Struktur. Unterstützen Sie unseren Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, reihen Sie Ihre Stimme in unsere Stimmen ein, damit unsere Kampagne effektiver und erfolgreicher verläuft! Es liegt an uns, die Gewalt gegen Frauen zu beenden.
Ilkay Bahçetepe, Frauenkoordinatorin amnesty international Türkei
Übersetzung: Deniz Yücel, Ina Krause
Schließung nach Militärputsch
Nach dem Militärputsch von 1980 wurden die ai-Büros in der Türkei zwangsweise geschlossen. Erst seit 1996 sind ai-Gruppen wieder zugelassen, vor zwei Jahren wurde die türkische Sektion gegründet.
Weitere Informationen unter http://www.amnesty-turkiye.org/