Anliegen im 2. Halbjahr 2004

Anliegen in Europa und Zentralasien
Juli – Dezember 2004
TÜRKEI
Dieser Länderbericht ist ein Auszug des im März 2005 erschienenen Berichts von amnesty international, CONCERNS IN EUROPE AND CENTRAL ASIA: July – December 2004 (AI Index: EUR 01/002/2005). Für weitere Informationen zu den Anliegen amnesty internationals in Europa und Zentralasien wird auf das vollständige Dokument verwiesen. Die Übersetzung wurde von der Türkei-Koordinationsgruppe der deutschen Sektion von amnesty international angefertigt; verbindlich ist das englische Original.

Inhaltsverzeichnis

Gesetzesreformen

Die zweite Jahreshälfte 2004 war durch nervöse Aktivitäten der Regierung gekennzeichnet, die eine Reihe von Gesetzen verabschiedete in dem Versuch, die Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union (EU) zu erfüllen. Die so genannten Kopenhagener Kriterien fordern von beitrittswilligen Staaten institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte und für die Respektierung sowie den Schutz von Minderheiten.
Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission vom Oktober 2004 hatte die Notwendigkeit weiterer „Stärkung und vollständiger Umsetzung von Maßnahmen bezüglich der Achtung grundlegender Freiheiten und des Schutzes der Menschenrechte“ betont und die Aufmerksamkeit auf Besorgnisse über die weite Verbreitung der Folter gelenkt. Dennoch empfahl er den Beginn von Beitrittsverhandlungen. Am 17. Dezember 2004 folgte der Europäische Rat dieser Empfehlung und erklärte, dass die Türkei die Kopenhagener Kriterien ausreichend erfüllt habe. Ferner gab er die Absicht bekannt, vorbehaltlich einer Reihe von Bedingungen im Oktober 2005 Verhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Der Rat beauftragte die Europäische Kommission, das Reformprogramm der türkischen Regierung aufmerksam zu beobachten – insbesondere hinsichtlich der „Umsetzung der Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter und Misshandlung“.
Zu den von der Regierung durchgeführten Reformen zählten ein neues Vereinsgesetz, eine neue Strafprozessordnung, ein neues türkisches Strafrecht, ein neues Gesetz über die Strafvollstreckung und ein neues Kommunalrecht. Die neuen Gesetze enthielten viele positive Aspekte und waren vielfach weniger restriktiv als die vorherigen Bestimmungen. U. a. kam es zur Abschaffung von Strafgesetzen, die eine Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellten, eine dem internationalen Recht näher kommende Definition von Folter wurde eingeführt und es erfolgte eine Anhebung der Mindeststrafen für Folter und Misshandlung.
Dennoch blieben ernsthafte Besorgnisse über gesetzliche Regelungen, die unverändert von den vorherigen Gesetzen übernommen wurden und die in der Vergangenheit bereits genutzt worden waren, um grundlegende Rechte unnötig einzuschränken. So taucht beispielsweise das Vergehen der „Beleidigung oder Erniedrigung“ verschiedener staatlicher Institutionen, die nach Artikel 159 des alten türkischen Strafrechts (TStG) strafbar waren, wieder in Artikel 301 des neuen TStG auf. Darüber hinaus führten einige der neuen Gesetze weitere Restriktionen ein. So stellt Artikel 305 des neuen TStG „Handlungen gegen das grundlegende nationale Interesse“ unter Strafe. Als der Entwurf das Parlament passierte, nannte die Gesetzesbegründung als Beispiele für derartige „Straftaten“: „Propaganda für den Abzug türkischer Soldaten aus Zypern oder Zustimmung zu einer Lösung dieses Problems, die der Türkei abträglich ist, oder – entgegen historischer Wahrheit – dass die Armenier nach dem Ersten Weltkrieg einen Genozid erlitten.“
Ein Grund für die andauernden Probleme war das Tempo, in dem die Gesetzesreformen verabschiedet wurden. Manchmal wurde diese Eile offenbar durch das Drängen der Europäischen Kommission hervorgerufen, dass die betreffenden Gesetze verabschiedet sein müssten, bevor Beitrittsverhandlungen eröffnet werden. Dies begrenzte die Möglichkeiten zu einer ausreichender Beratung durch die Zivilgesellschaft unter Einschluss von türkischen Menschenrechtsorganisationen, was dazu führte, dass einige Entwürfe ohne gründliche Prüfung im Parlament verabschiedet wurden. In den Fällen, in denen Beratungen stattfanden, kam es zu positiven Ergebnissen. Beispielsweise war die Frauenbewegung in der Türkei hinsichtlich des Entwurfs eines neuen Strafrechts aktiv und startete eine konzertierte und höchst erfolgreiche Kampagne gegen möglicherweise rückschrittliche Änderungen. Dies hatte zur Folge, dass 30 von 35 Änderungsvorschlägen der Plattform der Frauenorganisationen in diesem Bereich umgesetzt wurden. Diese Änderungen schlossen die Möglichkeit der Strafminderung, Aussetzung oder Aufhebung eines Urteils wegen Vergewaltigung aus, wenn der Vergewaltiger sein Opfer heiratet. Vergewaltigung in der Ehe wird nunmehr als Straftat ausdrücklich anerkannt; es erfolgt eine internationalen Standards näher kommende Definition von Vergewaltigung; sexuelle Übergriffe in der Ehe werden als Straftat definiert; fortwährende und systematische Gewalt in der Familie fallen unter die Straftat der „Folter“; schließlich werden sexuelle Übergriffe in das Kapitel „Straftaten gegen das Individuum“ aufgenommen. Diese Reformen waren ein signifikanter Schritt vorwärts bei der Einführung eines gesetzlichen Schutzes für die Frauen in der Türkei gegen Gewalt. Die meisten Bestimmungen treten am 1. April 2005 in Kraft.
Auf der anderen Seite wurde im letzten Moment Artikel 122 geändert, der Diskriminierungen aufgrund von „Sprache, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, politischer Meinung, philosophischer Überzeugung, Religion, Klasse und anderer Gründe“ verbietet, so dass das Merkmal der „sexuellen Orientierung“ aus dem Entwurf entfernt wurde. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung sind daher nach dem neuen TStG weiterhin nicht strafbar.
Am 4. Dezember 2004 wurde das Gesetz Nr. 5271 über die Strafprozessordnung vom Parlament verabschiedet, das zum 1. April 2005 in Kraft tritt. Das Gesetz führt eine Reihe positiver Reformen bei den Vorschriften über Ermittlungen bei Straftaten, über die Polizeihaft und die Verfolgung von Verdächtigen ein. Nach dem neuen Gesetz darf die Dauer des Gewahrsams bei der Polizei oder Gendarmerie 24 Stunden ab dem Zeitpunkt der Festnahme nicht überschreiten. Allerdings kann diese Dauer im Fall von Straftaten, die von mehreren Personen begangen wurden, aufgrund einer schriftlichen Anordnung des Staatsanwalts um 24 Stunden bis zu einer Maximaldauer von drei Tagen verlängert werden. Außerdem haben Polizisten die Pflicht, die Verdächtigen zum Zeitpunkt ihrer Festnahme auf ihre Rechte hinzuweisen – einschließlich der Rechte auf einen Anwalt und zur Aussageverweigerung. Hausdurchsuchungen bedürfen einer schriftlichen Anordnung eines Staatsanwalts oder einer gerichtlichen Entscheidung.
Der Einsatz von Handschellen bei Festgenommenen wird begrenzt. Reduziert werden ferner die Zahl der Umstände, unter denen Personen mit einem Haftbefehl in Untersuchungshaft genommen, sowie die Zeitdauer, die sie in Haft gehalten werden können. Schließlich wird bei Straftaten, die mit einer Strafe von maximal drei Jahren bedroht sind, zur Haftverschonung ein Kautionssystem eingeführt.
Durch das neue Gesetz werden darüber hinaus Änderungen eingeführt, die zu einer gesteigerten Verantwortlichkeit der Polizei führen. Artikel 92 fordert, dass Staatsanwälte Untersuchungen an Haftorten durchführen. AI betrachtet solche Inspektionen als wirksame Maßnahmen gegen Folter, sofern die Inspektionen sowohl regelmäßig als auch überraschend durchgeführt und die daraus erfolgenden Ergebnisse und Empfehlungen bekannt gemacht werden. Der Gesetzentwurf sah auch die Einführung einer „Justizpolizei“ vor, die unter der Leitung des Staatsanwaltes stehen sollte und die verantwortlich für Ermittlungen bei Straftaten und das Sammeln von Beweismitteln gewesen wäre. Menschenrechtsanwälte hatten eine solche Änderung vorgeschlagen um sicherzustellen, dass Ermittlungen bei mutmaßlich von Sicherheitskräften begangenen Straftaten wie Folter und Misshandlungen von solchen Beamten durchgeführt werden, die unabhängig von den einer Beteiligung an den Straftaten verdächtigten Einheiten sind. So sollte die Gefahr einer parteiischen Untersuchung verringert werden. Vertreter der Polizeikräfte widersetzten sich jedoch vehement diesem Vorschlag, weshalb signifikante Änderungen an dem Entwurf vorgenommen wurden. Die Idee einer „Justizpolizei“ blieb zwar im Gesetz erhalten, scheint jedoch keine substantielle Verbesserung mehr darzustellen. Artikel 164 der neuen Strafprozessordnung (TStPO) bestimmt, dass „der Begriff ‚Justizpolizei’ diejenigen Mitglieder der Sicherheitskräfte definiert, die Ermittlungen durchführen (wie bereits in den verschiedenen Gesetzen festgelegt wurde, welche die Aktivitäten der verschiedenen Zweige der Sicherheitskräfte regeln).“ Als einzige wirkliche Änderung erscheint die Einführung eines neuen Begriffs für schon bestehende Strukturen. Außerhalb ihres Dienstes, in dem sie Ermittlungen durchführen, würde die Justizpolizei weiter unter dem Kommando ihrer Vorgesetzten in ihren jeweiligen Teilen der Sicherheitskräfte stehen. AI ist der Meinung, dass Schritte unternommen werden sollten, um sicherzustellen, dass Ermittlungen bei schwerwiegenden durch Sicherheitskräfte begangene Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtlicher Hinrichtung, Misshandlung und Tod in Haft unabhängig und unparteiisch sein müssen. Deshalb sollte eine Justizpolizei unabhängig von den Sicherheitskräften sein; ihr Personal müsste aus Zivilisten und ehemaligen Polizisten bestehen, die nicht mehr in einem Dienstverhältnis zu den Sicherheitskräften stehen.
Menschenrechtsgruppen haben auch ihre Besorgnis über die Rechte von Häftlingen im Zusammenhang mit den Vorschriften des neuen Gesetzes zur Vollstreckung von Haftstrafen sowie über das „Gesetz zur Entschädigung von Verlusten aufgrund von Terrorismus und den Kampf gegen den Terrorismus“ geäußert. Letzteres zielt auf die Kompensationszahlungen von Personen ab, die in den 1990er Jahren während des bewaffneten Konfliktes zwischen dem Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von ihren Häusern zwangsvertrieben wurden. Menschenrechtsorganisationen drückten ihre Besorgnis über die niedrige Höhe der geplanten Kompensationszahlungen aus und vermuteten, dass dieses Gesetz dazu diente, Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu begrenzen.

Fehlender Beobachtungsmechanismus

Die Umsetzung der Gesetzesänderungen war oft unregelmäßig und mitunter offensichtlich von Beamten sabotiert, die neue Gesetze ausfindig machten, um gegen abweichende Meinungen vorzugehen. Ein Grund hierfür war, dass nach wie vor Mechanismen und Institutionen fehlen, um wirkungsvoll die Implementierung der Reformen und durch ihre Nichtumsetzung resultierende Menschenrechtsverletzungen überprüfen zu können. Im Berichtszeitraum wurde an einem Gesetzentwurf zur Einrichtung einer Menschenrechts-Ombudsperson und einer Menschenrechtskommission gearbeitet, die in der Lage sein könnten, solche Aufgaben wahrzunehmen. Jedoch waren nichtjuristische Antworten auf Beschwerden von Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen dürftig und unabhängige Berichte wurden erschwert durch den politischen Druck, die Türkei so darzustellen, als habe sie die Kopenhagener Kriterien vollständig erfüllt.
Verschiedene von der Vorgängerregierung geschaffene Einrichtungen wurden als Beleg für eine wirksame Struktur der Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden aufrechterhalten. Dazu zählen die der Kanzlei des Ministerpräsidenten zugeordneten Menschenrechtskommissionen auf Provinz- und Kreisebene sowie der Menschenrechtsbeirat.
Diese Einrichtungen wurden gebildet, um Untersuchungen durchzuführen und Empfehlungen zu örtlichen Menschenrechtsfragen zu geben. Ferner sollten sie Kampagnen für das öffentliche Bewusstsein zum Thema Menschenrechte in den 81 Provinzen und 831 Kreisen durchführen. Die von ihnen erstellten Statistiken wurden von der Regierung als glaubwürdiger Beleg für das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen zitiert.
Jedoch weist eine Reihe von Faktoren auf ernsthafte Zweifel an ihrer Wirksamkeit. Hierzu zählen die fehlende Unabhängigkeit der Kommissionen (die dem Ministerpräsidenten unterstehen, deren Mitglieder auf lokaler Ebene vom Gouverneur ausgewählt werden und denen auch die Polizei- und Gendarmeriechef angehören müssen), ihre eingeschränkten Befugnisse (die Kommission kann nur direkte Klagen über Menschenrechtsverletzungen bearbeiten und dokumentieren, nicht jedoch auf Berichte anderer hin aktiv werden) sowie ihr wiederholtes Versagen, auf Klagen in einer befriedigenden Weise zu antworten,
Die Besorgnisse von amnesty international wurden von türkischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen geteilt. Sogar die Sonderberichterstatterin des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über Menschenrechtsverteidiger, Hina Jilani, die im Oktober 2004 die Türkei besuchte, kam zu dem Ergebnis, dass „Initiativen wie die Menschenrechtskommissionen auf lokaler Ebene neu überdacht werden müssen … da bei ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung eine Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist; es muss Unabhängigkeit in der Zusammensetzung und der Festsetzung der Agenda der Kommission bestehen. Und soweit ich die Arbeitsweise der Kommissionen beobachte, waren sie nicht sehr erfolgreich beim Aufgreifen von Menschenrechtsanliegen.“[1]
In der Zwischenzeit entwickelte sich eine Kontroverse, nachdem der Menschenrechtsbeirat (der unter der Struktur des Amtes des Ministerpräsidenten zur regelmäßigen Herausgabe unabhängiger Berichte und Empfehlungen für die Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei eingerichtet wurde und der sich aus Vertretern der Ministerien sowie von Organisationen der Zivilgesellschaft zusammensetzt) als Anlage zu seinem regulären Bericht über Menschenrechte eine Darstellung über Minderheitenrechte in der Türkei herausgegeben hatte. Dieser Bericht setzte sich mit der Anwendung des Vertrages von Lausanne auseinander und stellte in Frage, ob die Minderheitenrechte in der Türkei internationalen Standards entsprächen. Der Bericht wurde von der nationalistischen Presse in der Türkei als Beleg für „Verrat“ der Regierung an der Türkei angegriffen. Die Regierung wies den Bericht zurück und ihre Autoren wurden sehr starkem Druck ausgesetzt, was u. a. Drohungen und Ermittlungen durch Staatsanwälte einschloss. Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass es die Regierung versäumt habe, auf auch nur einen der Berichte des Menschenrechtsbeirates zu reagieren; der Staatsminister für Menschenrechte habe an keinem Treffen des Beirates teilgenommen; ferner seien Anstrengungen unternommen worden, den Beirat durch die Berufung von Vertretern, solcher Organisationen, deren Einsatz für die Menschenrechte fragwürdig sei, ineffektiv zu machen. Am bemerkenswertesten war die Ernennung des Journalisten Fatih Altaylı als Beiratsmitglied, der 2002 in einer Kolumne bezüglich einer Anwältin, die gegen sexuelle Gewalt gegen weibliche Gefangene in Polizeihaft arbeitet, gesagt hat: „Wenn ich nicht bei der nächsten Gelegenheit einen sexuellen Übergriff [gegenüber der Anwältin] machen würde, wäre ich ein Feigling.“
Sowohl die Provinz- und Kreis-Menschenrechtskommissionen als auch der Menschenrechtsbeirat werden den Erfordernissen einer nationalen Menschenrechtsinstitution, welche die Türkei so dringend benötigt, nicht gerecht. Mittlerweile wird auch auf nicht amtliche Organisationen, welche die Menschenrechte beobachten, Druck ausgeübt. Am 7. Dezember 2004 entschied der neu gewählte Vorsitzende der Anwaltskammer Izmir, seine Gruppe zur Verhütung der Folter (IÖG) aufzulösen. Die Gruppe zur Verhütung der Folter hatte sich seit Dezember 2001 in bahnbrechender Weise eingesetzt, indem sie Folteropfern rechtlichen Beistand zur Verfügung stellte. In einer Presseerklärung äußerte der Vorsitzende der Anwaltskammer, dass er die Gruppe zur Verhütung der Folter schließe, weil eines ihrer Projekte finanzielle Unterstützung von der Europäischen Kommission erhielt, die, wie er behauptete, vorhabe die Türkei zu teilen und ihrem nationalen Interesse zu schaden, einschließlich der Bildung eines „unabhängigen Kurdistans“. Er kritisierte die Zusammenarbeit der Gruppe mit internationalen Organisationen, wobei amnesty international selbstverständlich eingeschlossen war.

Folter und Misshandlung

Einer der Gründe für die dringende Notwendigkeit von unabhängiger Beobachtung und Untersuchungsmechanismen wurde durch die Furore illustriert, die nach dem Besuch des damaligen EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen im September 2004 in der Türkei ausbrach. Es ging dabei um das Ausmaß von Folter in der Türkei und ob sie „systematisch“ war oder nicht. Die von der Regierung als Beleg für eine Verbesserung der Situation zitierten Daten umfassten Klagen über Vorfälle von Folter und Misshandlung, welche die Menschenrechtskommissionen in den Provinzen und Kreisen erhalten hatten und die im Vergleich zu den von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen gesammelten Zahlen sehr niedrig waren. Dennoch behauptete Ministerpräsident Tayyip Erdoğan bei einer Rede im Oktober 2004 zum Thema Folter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats kategorisch, dass es keine systematische Folter gebe. Er fuhr fort: „Jedoch diejenigen, die eine ideologische Einstellung haben, die sagen, dass es immer noch diese Art von Folter gibt, […] das stammt von Leuten, die Beziehung zu Terrororganisationen haben. Ich möchte Ihnen dies zu Ihrer ausdrücklichen Information sagen.“ Das Versäumnis der Regierung, das Ausmaß von Folter ausreichend zu untersuchen, lässt jede ihrer diesbezüglichen Behauptungen ohnehin zweifelhaft erscheinen. Der gegenstandslose Kommentar, der auf unabhängige Menschenrechtsgruppen abzielt, stellt jedoch darüber hinaus einen klaren Bruch der Verpflichtung der Türkei hinsichtlich der Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsverteidiger dar.
Dennoch führten die Haftvorschriften, die aufgrund der Politik der Regierung für „Null Toleranz gegen Folter“ besseren Schutz für Festgenommene bieten, zu einer erkennbaren Abnahme der Anwendung von solchen Foltermethoden wie Aufhängen an den Armen und der Falaka. Allerdings wurden diese Vorschriften wie das Recht auf einen Rechtsbeistand oft nicht angewendet und Fälle von Folter und Misshandlung von Personen im Gewahrsam der Polizei oder Gendarmerie blieben weiter ein ernsthaftes Problem. Menschenrechtsgruppen dokumentierten viele Fälle von Folter und Misshandlung einschließlich der Anwendung von Schlägen und Elektroschocks, des Nacktausziehens, der sexuellen Belästigung und der Morddrohungen gegen Festgenommene.
Am 27. Oktober 2004 befand sich Aydın Ay wegen Diebstahlsverdacht auf der Carşı- Polizeistation in Trabzon im Gewahrsam. Er behauptete, dass er dort Folter ausgesetzt gewesen sei, darunter Nacktausziehen und Quetschen der Hoden. Ferner sei er gezwungen worden, Dokumente zu unterschreiben, deren Inhalt er nicht kannte und die ihm nicht vorgelesen worden waren.
Am 17. November 2004 wurde die als Prostituierte arbeitende Transsexuelle „Hülya“ in Istanbul von einem Mann mit Waffengewalt bedroht, der sich angeblich selbst als Polizist ausgab und von ihr sexuelle Handlungen forderte. Als sie ablehnte, brachte der Mann sie zu Polizisten, die sie schlugen und festnahmen. Sie wurde auf der Polizeistation fortdauernd geschlagen, auch mit Knüppeln, so dass schließlich ihre beiden Arme gebrochen waren. Trotzdem wurde sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt und kam in Untersuchungshaft.
Über Foltermethoden, die keine Spuren hinterlassen, wurde verbreitet berichtet. Trotz eines Rundschreibens des Innenministers, der das Verbot der Anwendung von Techniken wie Verweigerung von Essen, Schlaf und Toilettengang sowie den Zwang, in unbequemen Positionen zu stehen, darstellte, gab es weiterhin Berichte über derartige Praktiken. Darüber hinaus wurden Missbräuche auch außerhalb offizieller Haftorte durchgeführt. Dies beinhaltete Schläge und andere Misshandlungen von Personen während der Festnahme. Ferner kam es zu Entführungen, bei denen Personen in einem Fahrzeug herumgefahren oder an einem einsamen Ort zum Verhör gebracht wurden, ohne dass über diese Festnahmen irgendwelche Aufzeichnungen angefertigt wurden.
Ein großer Anteil der Beschwerden über Misshandlung stand in Zusammenhang mit dem Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt durch die Sicherheitskräfte bei der Überwachung von Demonstrationen, darunter Schläge mit Knüppeln, der Gebrauch von Pfeffergas sowie der Einsatz von Hunden. Trotz eines Rundschreibens des Innenministers mit der Forderung, die Polizisten sollten sicherstellen, dass keine unverhältnismäßige Gewalt angewendet werde, gab es weiterhin Berichte über solche Vorfälle. Beispielhaft seien diesbezüglich die Demonstrationen, die in vielen Städten in der Türkei gegen die Nato-Konferenz in Istanbul vom 28.-29. Juni 2004 stattfanden, und gegen den Rat für Höhere Bildung am 6. November 2004 genannt. Diese Beschwerden wurden oft mit Gegenvorwürfen gegen die Beschwerdeführer wegen „Widerstands gegen einen Beamten mit Gewalt oder Drohungen“ oder Verletzung des Gesetzes Nr. 2911 über Veranstaltungen oder Demonstrationen beantwortet.

Tötungen unter umstrittenen Umständen

Es gab viele Fälle der Erschießung von Zivilisten durch Sicherheitskräfte, die sich zumeist in den Provinzen im Südosten und Osten ereigneten. Bei manchen Vorfällen behaupteten die Sicherheitskräfte, dass die Opfer Mitglieder einer bewaffneten Gruppe waren und auf sie geschossen hätten, als sie zum Anhalten aufgefordert wurden. Dem wurde häufig von Augenzeugen widersprochen, die behaupteten, es habe sich um außergerichtliche Hinrichtungen gehandelt. Es wurden Besorgnisse darüber bekannt, dass in von Staatsanwälten eröffneten Verfahren nur die Aussagen der beschuldigten Beamten berücksichtigt wurden.
Am 21. November 2004 erschossen Polizisten Mehmet Kaymaz und seinen 12- jährigen Sohn Uğur außerhalb ihres Hauses in Kızıltepe. Die Behörden behaupteten, sie seien bewaffnete Mitglieder der bewaffneten Gruppe Kongra Gel gewesen und hätten auf Polizisten geschossen, die das Feuer erwiderten. Zeugen behaupteten hingegen, dass es sich um eine außergerichtliche Hinrichtung gehandelt habe und dass die Waffen erst nach ihrer Tötung zu den beiden Opfern gelegt worden seien. Gegen vier Polizisten wurde ein Verfahren wegen des Einsatzes übermäßiger Gewalt eröffnet. Die Rechtsanwälte der Familie beklagten jedoch, die Anklage sei teilweise zugunsten der Angeklagten voreingenommen gewesen und habe wichtige Informationen nicht berücksichtigt, welche die Vorwürfe wegen außergerichtlicher Hinrichtung stützten. Die Polizisten erhielten bis zum Beginn des Verfahrens Haftverschonung. Sie blieben weiter im aktiven Dienst und wurden nur auf andere Posten versetzt. Forderungen der Parlamentarischen Menschenrechtskommission nach Kopien der Autop8 sieberichte und der Anklage wurden von dem Staatsanwalt in Mardin mit dem Hinweis auf „Geheimhaltung“ zurückgewiesen.
Am 30. November 2004 wurde der Schäfer Fevzi Can von einem Gendarmen im Kreis Semdinli in der Provinz Hakkari erschossen, weil er angeblich die Stop-Warnung nicht befolgt habe. Menschenrechtsorganisationen erklären, dass er unbewaffnet gewesen sei.

Straflosigkeit

Wie oben dargestellt, fehlt ein Mechanismus, mit dem wirksam die Umsetzung der Haftvorschriften beobachtet und Muster des Missbrauchs durch die Sicherheitskräfte untersucht werden. Ermittlungen von Staatsanwälten nach Vorwürfen von Folter und Misshandlungen waren selten angemessen und führten gewöhnlich zu der Entscheidung, die Strafverfolgung einzustellen. Der Mangel an Sorgfalt bei solchen Untersuchungen stellte ihre Unparteilichkeit in Frage. Beschlüsse basierten oft auf unzulänglichen medizinischen Untersuchungen von Festgenommenen, die entgegen der Vorschriften vielfach in Anwesenheit von Angehörigen der Sicherheitskräfte durchgeführt wurden. In diesem Zusammenhang drückten Menschenrechtsorganisationen ihre Besorgnis über den Mangel an Unabhängigkeit des Gerichtsmedizinischen Instituts aus. Dieses besitzt eine Monopolstellung bei der Erstellung von Gutachten darüber, ob Folter stattgefunden hat; denn festgenommene Personen können keinen Arzt ihrer Wahl für eine Untersuchung beantragen. Die Gerichte zeigten sich ablehnend, Gutachten anderer Quellen als Beweismittel für Folter anzuerkennen, selbst wenn diese von Ärzten an hoch qualifizierten Universitätskrankenhäusern mit Forschung und Lehre angefertigt wurden.
Am 2. Dezember 2004 wurde das Verfahren gegen vier Polizisten wegen Folter, einschließlich sexueller Folter, von zwei Gymnasiastinnen im März 1999 in Iskenderun wieder vertagt. Das Verfahren hatte im April 2000 begonnen und war etwa 30 Mal vertagt worden. Das Gericht hatte länger als drei Jahre auf die Bestätigung des Gerichtsmedizinischen Instituts für medizinische und psychiatrische Gutachten über die angegebene Folter gewartet. Unterdessen ist eine der beiden Schülerinnen, Fatma Deniz Polattaş aufgrund ihrer Verurteilung wegen Mitgliedschaft in der PKK, die Angaben zufolge auf unter Folter erzwungenen Aussagen beruhte, immer noch im Gefängnis. Ermittlungen sowie darauf folgende Verfahren untersuchten gewöhnlich nicht die Befehlskette und verantwortliche Polizisten wurden während solcher laufenden Verfahren nicht vom Dienst suspendiert. Verfahren gegen einzelne Sicherheitskräfte wegen der Anklage der Folter und Misshandlung gingen in der Regel langsam voran und manche Folter-Verfahren wurden wegen der Überschreitung des Verjährungstermins eingestellt. Auch im neuen TStG bleibt die Verjährungsfrist erhalten. Die Strafen gegen Folterer waren vielfach nicht adäquat, die Strafen wurden oft aus verschiedenen Gründen reduziert – z.b. wegen „guter Führung“ der Angeklagten. Andere Personen blieben hingegen aufgrund von Beweismitteln, die vermutlich unter Folter erzwungen wurden, im Gefängnis oder ihre Gerichtsverfahren liefen weiter. Am 10. November 2004 bestätigte der Kassationshof die Verurteilung des Polizisten Mehmet Yutar wegen Beteiligung am Tod des Gewerkschafters Süleyman Yeter, der im März 1999 aufgrund von Folter in Polizeihaft starb. Das Gericht hatte seine 10- jährige Haftstrafe auf vier Jahre und zwei Monate Gefängnis wegen „guter Führung“ des Angeklagten reduziert. In Übereinstimmung mit dem Strafvollstreckungsgesetz wird Mehmet Yutar nur 1 Jahr und 8 Monate Haft verbüßen müssen. Ein dritter Polizist war mangels Beweisen freigesprochen worden.
Mittlerweile wurde ein Verfahren gegen neun Polizisten, die angeklagt waren, Süleyman Yeter und 14 andere Gefangene bei einem anderen Vorfall im Jahre 1997 gefoltert zu haben, eingestellt, da am 11. November 2004 der Verjährungstermin erreicht wurde. Wegen „unzureichender Beweise“ sprach am 30. September 2004 ein anderes Gericht in Istanbul Polizisten von der Anklage der Folterung von drei Personen frei, die bei der Anti-Terror-Polizei im Polizeipräsidium in Istanbul im November 1998 in Haft waren. Dies geschah trotz der Existenz fachkundiger gerichtsmedizinischer Berichte, welche die Angaben der Festgenommenen bestätigten, sie seien während der Polizeihaft u. a. mit Schlägen, Aufhängen an den Armen und Elektroschocks gefoltert worden.
AI ist der Meinung, dass jede neue nationale Menschenrechts-Institution wie z. B. die vorgeschlagenen Menschenrechts-Ombudsperson und die Menschenrechtskommission als Teil der ihr übertragenen Aufgaben in der Lage sein sollten, schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch Vollstreckungsbeamte – wie Vorfälle von Folter, Misshandlung und umstrittene Todesfälle – sorgfältig zu prüfen.

Erbe der Vergangenheit

Neue Beweismittel über schwere Menschenrechtsverletzungen, die während des Konfliktes mit der PKK in den 1990er Jahren von den Sicherheitskräften begangen wurden, kamen ans Licht. Dazu gehörte die Entdeckung von heimlichen Gräbern, von denen angenommen wird, dass sich darin Personen befinden, die von den Sicherheitskräften außergerichtlich hingerichtet wurden oder die „verschwanden“.
Im September 2004 bestätigten DNA-Analysen des Gerichtsmedizinischen Instituts, dass die sterblichen Überreste eines Körpers, der in einem flachen Grab an einem abgelegenen Flecken nahe dem Dorf Körtük in der Provinz Silopi im April 2004 gefunden wurde, Murat Aslan gehörten. Berichten zufolge „verschwand“ Murat Aslan, nachdem er 1994 von Sicherheitskräften in Diyarbakır festgenommen worden war. Der Autopsiebericht stellte fest, dass er durch Erschießen starb. Der Köper war gefunden worden, nachdem Abdulkadir Aygan, der sich selbst als „Geständiger“ bezeichnete (d. h. ein ehemaliges PKK-Mitglied, das für die Sicherheitskräfte arbeitet) und dem berüchtigten Geheimdienst des Militärs (JİTEM) angehört hatte, Interviews in Presse und Funk gab. Er gab Details über seine Verwicklung zusammen mit Mitgliedern der türkischen Sicherheitskräfte in etwa 28 außergerichtliche Hinrichtungen und Fällen von Verschwindenlassen während des Konfliktes mit der PKK bekannt. Er hatte behauptet, dass Murat Aslan von der Straße geholt und zuerst zum Hauptquartier der JİTEM in Diyarbakır und dann zu dem in Silopi gebracht wurde, wo man ihn folterte und danach zu einem Ort nahe dem Dorf Körtük brachte, wo er erschossen und seine Leiche in Brand gesteckt wurde. Obwohl Abdulkadir Aygün den Ort und andere Faktoren über die Ermordung kannte, wurden offenbar von den Behörden keine Ermittlungen aufgrund dieser Behauptungen einer staatlichen Verwicklung an schweren Menschenrechtsverletzungen eingeleitet.
Am 4. November 2004 entdeckte eine von Vertretern des Menschenrechtsvereins IHD angeführte Delegation die sterblichen Überreste mehrerer Leichen im Kreis Kulp in der Provinz Diyarbakır. Man nahm an, dass sie von elf Dorfbewohnern stammten, die am 11. Oktober 1993 von Soldaten der Bolu-Kommando-Brigade nach einer Razzia in ihrem Dorf festgenommen worden waren. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte in diesem Fall geurteilt, dass der türkische Staat für die Verletzung des Rechts auf Leben verantwortlich war, jedoch wurde niemand wegen des „Verschwindens“ vor Gericht gestellt. Es wurde berichtet, dass der Staatsanwalt von Kulp die Angehörigen und die Mitglieder der IHD-Delegation informiert hatte, dass sie „die Knochen zu mir“ bringen sollten, als er über die Entdeckung der sterblichen Überreste erfuhr. AI ist der Auffassung, dass eine solche Antwort zusammen mit der wiederholten Unterlassung des Justizsystems, Mitglieder der Sicherheitskräfte, die solche Menschenrechtsverletzungen angeordnet oder begangen haben, vor Gericht zu bringen, eine unabhängige und unparteiische Untersuchung dieser Vorfälle unbedingt notwendig macht.

Meinungsfreiheit und Menschenrechtsverteidiger

Friedlicher Ausdruck einer nicht-gewalttätigen Meinung führte weiterhin zu Ermittlungen und Gerichtsverfahren, obwohl der Kassationshof und einige unterinterstanzliche Gerichte richtungweisende Urteile erließen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung unterstützten. Gerichtsverfahren wurden eröffnet nach Artikel 159 TStG, der „Beleidigung“ verschiedener Staatsorgane unter Strafe stellt, Artikel 312 TStG, der Aufstachelung zu Feindschaft und Hass bestraft, und Artikel 7 des Anti-Terror- Gesetzes. Viele dieser Gesetze wurden angewendet, um eine Meinung unter verschiedenen Vorwänden zu bestrafen. In manchen Fällen führte dies zu Haftstrafen. Sehr schwere Geldstrafen wurden nach dem alten Pressegesetz und seinem Folgegesetz gegen Zeitungen und Journalisten verhängt. Politiker wurden verfolgt, weil sie ihren Wahlkampf in einer anderen Sprache als Türkisch geführt hatten. Der Journalist Hakan Albayrak wurde aus dem Gefängnis in der Provinz Ankara im November entlassen, nachdem er sechs Monate einer 15-jährigen Haftstrafe wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 5816 über Verbrechen gegen Atatürk abgebüßt hatte. Seine Verurteilung beruhte auf einem Artikel, der die Beerdingungsriten von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Republik Türkei, kommentierte. Ein Gericht in Ankara setzte am 30. Dezember 2004 ein Verfahren gegen den Schriftsteller Fikret Başkaya wegen vorsätzlicher „Beleidigung oder Verächtlichmachung des türkischen Staates“ in seinem Buch „Gegen den Strom“ fort. Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine Haftstrafe bis zu drei Jahren.
Die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs zu Menschenrechtsverteidigern besuchte vom 11.-20. Oktober 2004 die Türkei. Sie sprach ihre Besorgnis über die Eröffnung großer Zahlen von Verfahren gegen Menschenrechtsverteidiger aus und empfahl, dass alle anhängigen Verfahren wieder aufgenommen und überprüft werden sollten. Gegen Personen, die an Menschenrechtsaktivitäten teilnahmen, wurden oft berufliche Sanktionen verhängt, beispielsweise die Entlassung oder Suspendierung akademischer Mitarbeiter oder Studenten von der Universität.
Am 10. Dezember 2004 begann das zweite Verfahren gegen die größte Gewerkschaft der Türkei, die Gewerkschaft der Erziehungsarbeiter (Eğitim-Sen) an der 2. Kammer des Arbeitsgerichtes in Ankara. Die Schließung der Gewerkschaft war beantragt worden, da ihre Satzung einen Passus enthielt, wonach sie für „die Verteidigung der Rechte der Individuen auf Unterricht in ihrer Muttersprache“ arbeiten würden. Es wurde behauptet, dass dies gegen Artikel 42 der türkischen Verfassung verstoße, der vorschreibt, dass „türkischen Bürgern keine andere Sprache als Türkisch in Erziehungs- und Unterrichtseinrichtungen als ihre Muttersprache unterrichtet werden darf.“ In einem vorangegangenen und aus den gleichen Gründen eröffneten Verfahren hatte das Gericht in einem richtungweisenden Urteil beschlossen, dass eine solche Erklärung durch die Rechte auf Vereinigungsfreiheit und auf Meinungsfreiheit garantiert sei, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten festgelegt sind. Der Kassationshof hob dieses Urteil jedoch im November 2004 in einer überraschenden Entscheidung wieder auf. Nach Auffassung des Gerichts könnten solche Rechte mit der vagen Rechtfertigung eingeschränkt werden, dass es nötig sei, „gegen die einheitliche Struktur des Landes gerichtete Aktivitäten zu verhindern als eine Vorsichtsmaßnahme mit dem Ziel, die nationale öffentliche Sicherheit zu schützen und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.“
Inzwischen wurden friedliche Proteste gegen das Verfahren behindert. Berichten zufolge setzte die Polizei am 8. Dezember 2004 in Istanbul unverhältnismäßige Gewalt einschließlich der Anwendung von Schlägen und Tränengas ein, um eine Demonstration von Unterstützern und Mitgliedern von Eğitim Sen zu zerstreuen. Am 27. Dezember 2004 wurde ein weiteres Verfahren gegen den Vorstand von Eğitim Sen eröffnet, das auf dem Vorwurf der Durchführung einer gegen das Verfahren gerichteten nicht erlaubten Demonstration am 13. Juli 2004 beruht.
Gewalt gegen Frauen
Die Menschenrechte von Hunderten von Frauen in der Türkei wurden weiterhin im Rahmen von familiärer Gewalt verletzt. Es gab Berichte über Schläge, Vergewaltigung und Mord sowie erzwungenen Selbstmord. Staatsvertreter versäumten es, geeignete Schritte zum Schutz der Frauen zu ergreifen. Ermittlungen nach Berichten über familiäre Gewalt waren oft nicht adäquat und die Täter wurden nur selten zur Rechenschaft gezogen.
Die Regierung begann jedoch erste Schritte gegen dieses Problem einzuleiten, u. a.

indem sie Änderungen übernahm, die von der Frauenbewegung für den Entwurf des TStG vorgeschlagen worden waren. Als Antwort auf die Klage über die extrem kleine Anzahl von Frauenhäusern für von Gewalt bedrohte Frauen nahm die Regierung in das am 24. Dezember 2004 in Kraft getretene Kommunalgesetz eine Bestimmung mit auf, wonach die kommunalen Behörden in Städten mit einer Bevölkerung von mehr als 50.000 Menschen Frauenhäuser zur Verfügung stellen müssen. Ein am 6. November 2004 verabschiedetes Gesetz sorgte außerdem dafür, dass das dem Ministerpräsidenten unterstehende Direktorat für den Status von Frauen einen anerkannten Rechtsstatus erhielt. Obwohl das Direktorat schon seit mehreren Jahren existierte, fehlte bislang eine derartige gesetzliche Anerkennung. Während diese neuen Gesetze begrüßenswerte Schritte darstellten, blieb die Notwendigkeit einer wirksamen und mit Ressourcen ausgestatteten Umsetzung in Kooperation mit der Frauenbewegung weiter ein Schlüsselproblem.

[1] Presseerklärung von Hina Jilani vom 20. Oktober 2004.