Zwangsheirat verstößt gegen die Menschenrechte

GASTKOMMENTAR

Im Namen der Familie

Eine Zwangsheirat ist keine Frage der kulturellen Differenz, sondern ein Verstoß gegen die Menschenrechte.

amnesty international veröffentlichte im letzten Jahr eine Studie zur Lage der Frauen in der Türkei. Danach wurden in den östlichen und südöstlichen Provinzen der Türkei, d.h. in den vornehmlich von Kurden bewohnten Gebieten, über die Hälfte aller Frauen ohne ihre Zustimmung verheiratet. Wie die Folter ist auch die Zwangsheirat in der Türkei per Gesetz verboten. Aber wenige halten sich daran. Zwischen den Worten und der Wirklichkeit klaffen oft Welten. Viele türkische oder kurdische Familienväter wollen ihren Töchtern die Entscheidung, wie sie leben sollen, nicht selbst überlassen. Die Ehe gilt im Islam als einzig angemessene Lebensform. Sobald ein junges Mädchen zur Frau wird, muss es verheiratet werden, damit es die Ehre der Familie nicht beschmutzen kann. Denn die Frau gilt als verführerisch und teuflisch, sie stellt eine Versuchung für die Männer dar. Der Mann ist nach der traditionellen Auffassung ein triebhaftes Wesen, das sich angesichts der Frau nicht zu kontrollieren weiß. Deshalb muss die Frau aus der Öffentlichkeit verschwinden, unter dem Kopftuch, aber noch besser im Haus als Braut.

Voreheliche Kontakte zwischen Mädchen und Jungen, gar vorehelicher Geschlechtsverkehr wären für eine muslimische Familie eine Katastrophe. Da jungen Mädchen als sündigen Wesen grundsätzlich misstraut wird, schränken die Eltern die außerfamiliären Kontakte massiv ein.

Als ich in die Pubertät kam, verbot mein Vater mir die Teilnahme am Sportunterricht und jeden anderen Kontakt nach draußen, ich verbrachte die Nachmittage und Abende meiner Jugend hinter dem Fenster unserer Wohnung. Und ich lebte weder in Diyarbakir noch in Istanbul, sondern in einer Kleinstadt in Niedersachsen. Die einfachste Lösung, um die Töchter in kontrollierte Bahnen zu lenken, scheint die frühe Heirat zu sein. Die Entscheidung, wann und wen sie heirateten, steht nicht den jungen Leuten zu, sondern den Eltern. Sie bestimmen über das Leben der Jugendlichen und arrangieren auch ihre Ehen. Nach der Hochzeit wird der Ehemann für die Tochter zuständig, das entlastet die Eltern, denn die Ehre der Familie ist an die Tugendhaftigkeit der Tochter geknüpft. Und der Verlust der Ehre würde soziale Ächtung bedeuten.

Es ist eine Tradition des Misstrauens. Die Ehe ist im Islam kein Sakrament, sondern ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen zwei Familien. Er wird durch die Unterschriften beider Seiten besiegelt, wobei die Frau noch nicht einmal persönlich zugegen sein muss, sondern ihr Vater oder ihr ältester Bruder als Vertreter fungieren können. Auf das Standesamt geht es faktisch nur, um diesen Vertrag beurkunden zu lassen.

Man mag diese Praxis als Extremfall abtun. Doch sie ist die Ursache für eine soziale Katastrophe mitten in Deutschland. In jedem Jahr kommen aufgrund von Familienzusammenführungen über 20.000 Personen aus der Türkei nach Deutschland. Nach meinen Recherchen sind mindestens die Hälfte dieser Ehen erzwungen oder arrangiert. Die Unterscheidung zwischen Zwangsheirat und arrangierter Ehe ist schmal. Stimmt ein Mädchen, das schweigt oder weint, der Ehe zu? Oder muss sie schreien, wenn sie nicht einverstanden ist? In jedem Fall kann sie ihren Partner und ihre Lebensweise nicht selbst bestimmen. Man nennt die jungen Frauen, die im Alter zwischen 15 und 20 mit ihnen unbekannten jungen türkischen Männern in Deutschland verheiratet werden, „Importbräute“.

Für mein Buch „Die fremde Braut“ habe ich mit über 50 Frauen gesprochen, die auf diese Weise nach Deutschland kamen. Keine hatte sich ihren Mann selbst ausgesucht. Die typische Importbraut ist meistens gerade 18 Jahre alt, stammt aus einem Dorf oder einer Kleinstadt und hat in vier oder fünf Jahren Schule notdürftig lesen und schreiben gelernt. Sie wird von ihren Eltern mit einem ihr unbekannten türkischen Mann, vielleicht einen Cousin zweiten oder dritten Grades, verheiratet. Vielleicht hat die Familie des Bräutigams den Brautpreis übernommen, oder die Aussicht, nach Deutschland auszuwandern, war Bezahlung genug. Sie kommt nach der Hochzeit in der Türkei (das ist die Voraussetzung für eine Familienzusammenführung) in eine deutsche Stadt, in eine türkische Familie. Sie lebt ausschließlich in dieser Familie, hat keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der türkischen Gemeinde. Sie kennt weder die Stadt noch das Land , in dem sie lebt.

„Ich bin nicht nach Deutschland gekommen“, sagte eine solche Braut zu mir, „sondern in eine Familie.“ Sie spricht kein Deutsch, kennt ihre Rechte nicht, noch weiß sie, an wen sie sich in ihrer Bedrängnis wenden könnte. In den ersten Monaten ist sie völlig abhängig von der ihr fremden Familie, denn sie hat kein eigenes Aufenthaltsrecht. Sie muss tun, was ihr Mann und ihre Schwiegermutter von ihr verlangen – oder sie wird in die Türkei zurückgeschickt, was ihren realen oder sozialen Tod bedeuten würde. Sie wird bald ein, zwei, drei Kinder bekommen. Ohne Kinder gilt sie nichts und könnte wieder verstoßen werden. Sie wird die Kinder so erziehen, wie sie erzogen wurde, nach islamischer Tradition. Sie wird in Deutschland leben, aber nie angekommen sein.

Bisher hat sich kaum jemand für die „Importbräute” interessiert und selbst die Vertreter der in Menschrechtsfragen sich gern zu Wort meldenden Grünen sehen die arrangierte Ehe als Problem der „kulturellen Differenz“. Für mich hört diese Toleranz allerdings auf, wo Verfassung und Menschenrechte in Gefahr sind. Ich würde es begrüßen, wenn der Tatbestand der „Zwangsheirat“ als schwere Nötigung ins Strafgesetzbuch aufgenommen würde.

Durch weitere Gesetze allein wird sich jedoch nichts ändern. Eine zivile Gesellschaft lebt nicht von Verboten, sondern von Normen und Werten, über die ein gesellschaftlicher Konsens erzielt wurde. Auch Zwangsheirat und arrangierte Ehen werden nicht zuerst durch Verbote verhindert, sondern es wird sie erst dann nicht mehr geben, wenn allen klar ist, dass unsere Gesellschaft sie nicht akzeptiert. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

  • Necla Kelek

Die Autorin ist Professorin für Soziologie an der Fachhochschule für Sozialpädagogik in Hamburg.