Unter uns
Der Mord an Hatun Sürücü in Berlin ist kein Einzelfall. Weltweit sterben tausende Frauen, weil sie angeblich die Ehre der Familie verletzt haben.
- Von Tatjana Schütz
An einem kalten Donnerstag im Februar mache ich mich auf den Weg nach Berlin-Tempelhof. Die junge Frau, die dort an einer Bushaltestelle ermordet wurde, hatte einen kleinen Sohn und ihr Leben noch vor sich. Dann war es plötzlich vorbei. Man findet sie in einer Blutlache auf dem Bürgersteig. Wenige Minuten später war sie tot. Hingerichtet mit drei gezielten Schüssen in den Kopf. Zeugen beobachteten noch, wie sich der mutmaßliche Schütze vom Tatort entfernte.
Hatun Sürücü war 23 Jahre alt. Geboren wurde sie in Berlin als Kind türkischer Einwanderer. Mit 16 zwangen ihre Eltern sie, ihren Cousin in Istanbul zu heiraten. Hatun bekam ein Kind von ihm, doch in der Türkei leben wollte sie nicht. Nach einem Jahr kehrte sie mit ihrem Sohn nach Deutschland zurück, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In Berlin holte sie ihren Schulabschluss nach und begann eine Ausbildung. Die Familie missbilligte ihren Lebenswandel und fällte das Todesurteil für Hatun.
»Gestern Nacht wurde in Berlin-Tempelhof eine junge Frau auf der Straße erschossen. Das Motiv der Tat ist bisher unklar«, hieß es morgens im Radio. Zwar griffen die Medien den Tod der jungen Frau sofort auf, doch erst Tage später wurde die Tat als Ehrenmord bezeichnet. Drei Brüder des Opfers sitzen inzwischen unter dringendem Verdacht in Untersuchungshaft. Mutmaßlicher Grund ihrer Tat: Sie sahen durch das Verhalten ihrer Schwester die Ehre der Familie verletzt. Die Scheidung und ihr »westlicher Lebensstil« könnten der jungen Frau zum Verhängnis geworden sein. Ein Lebensstil, der für Frauen in Berlin selbstverständlich ist. Freiheiten einer Gesellschaft, in der Hatun Sürücü aufwuchs, die aber nie ihre waren.
Recherchen der Autorin Necla Kelek ergaben, dass bei etwa 10.000 Familienzusammenführungen in Deutschland eine Zwangsheirat zugrunde liegt. Arrangiert werden sie oft auf der Hochzeit eines Verwandten, eines Nachbarn oder Freundes der Familie.
Der Mord an Hatun Sürücü ist bei weitem kein Einzelfall. Nach Schätzungen der UNO fallen weltweit 5.000 Frauen pro Jahr in 14 Ländern so genannten Ehrenmorden zum Opfer. Die Dunkelziffer ist viel höher, denn die wenigsten Fälle werden strafrechtlich verfolgt. Ehrenmorde gelten in vielen Ländern als ein zivilrechtliches Delikt. »Dadurch liegt es oftmals in der Macht der Familie des Opfers, dem Täter zu vergeben. Vergibt man ihm, hat er keine Haftstrafe zu befürchten«, erklärt Angelika Pathak, die seit Jahren für amnesty international insbesondere zu Ehrenmorden in Pakistan arbeitet. ai setzt sich deshalb neben vielen anderen Organisationen dafür ein, dass Ehrenmorde vor Gericht als Verbrechen bestraft werden. »Auch wenn sich die Gesetzeslage in Pakistan seit Ende 2004 verändert hat, finden Ehrenmorde unvermindert statt. Benötigt werden vor allem Zufluchtsstätten für bedrohte Frauen. Die deutsche ai-Sektion unterstützt ein Frauenhaus in der pakistanischen Stadt Karachi. Hier wird den Frauen unbürokratisch geholfen«, berichtet Pathak über ihre Arbeit.
Die internationale Dimension von Ehrverbrechen ist erschreckend. Doch auch in Deutschland ist das Ausmaß bedrückend. So gab es allein in Berlin in den letzten fünf Monaten sechs Ehrenmorde.
Um die Bushaltestelle versammeln sich kaum zehn Personen. Alle Anwesenden scheinen enttäuscht: »Ich hatte gehofft, dass Hunderte kommen«, sagt eine Frau und zündet eine Kerze an. Zwei Tage zuvor hatten sich etwa 100 Menschen an einer Gedenkveranstaltung für Hatun beteiligt. »Wir wollen ein selbstbestimmtes Leben«, steht auf einem der vielen Briefe und Bilder, die auf dem Boden liegen.
Der pensionierte Pfarrer Klaus Gramel und der Lehrer Andreas Pfütze sind heute zu der Kundgebung gekommen, weil sie »nicht einfach hinnehmen wollen, dass solche Verbrechen in Berlin passieren«. Er empfinde dies als ein gesellschaftliches Versagen, meint Andreas Pfütze. »In Berlin bilden sich zunehmend Ghettos, die Kriminalität begünstigen«, erklärt der Pädagoge. Für Klaus Gramel besteht das Problem darin, dass sich in den meisten islamischen Gesellschaften ein streng patriarchalisches Gesellschaftssystem herausgebildet hat, welches Ehrverbrechen begünstigt. Diese Struktur ist jedoch nicht dem Koran inhärent, sondern eher eine Frage seiner Interpretation. »Zu anderen Zeiten wurde er freier interpretiert, und die islamischen Gesellschaften waren ausgesprochen tolerant«, meint Gramel. Tatsächlich lassen sich Ehrenmorde nicht direkt auf den Islam zurückführen. Sie liegen vielmehr in konservativen Traditionen begründet, die unabhängig von der Religion gepflegt werden. Ehrverbrechen finden auch in christlich geprägten Ländern statt.
Der Ehrbegriff spielte bei dem Mord eine zentrale Rolle. Im Wertesystem vieler streng patriarchalischer Länder hängt die Ehre eines Mannes zu einem großen Teil vom normgerechten Verhalten seiner weiblichen Familienangehörigen ab. Wenn eine Frau die ihr auferlegten Regeln und Normen verletzt, »entehrt« ihr Verhalten die gesamte Familie. Die Ehre kann nur durch eine Bestrafung der Frau wiederhergestellt werden. Diese Bestrafungen reichen von körperlichen Misshandlungen bis hin zum Mord.
Die Popularität des Ehrbegriffes in Deutschland nimmt zu. Doch auch die Feindseligkeit gegenüber vermeintlich »Anderen« wächst. »Ich finde, Deutschkurse sollten für alle ausländischen Familien verpflichtend sein«, erklärt eine Frau an der Stelle, an der Hatun erschossen wurde. »Unsere Werte können schließlich nur dann vermittelt werden, wenn auch die Sprache beherrscht wird.« Doch sprachen sowohl das Opfer, als auch die mutmaßlichen Täter fließend deutsch. Und es war gerade Hatuns »westlicher Lebenstil«, der zu ihrem Todesurteil führte.
- Die Autorin studierte Europawissenschaften und lebt in Berlin.