Länderkurzinfo zur Menschenrechtslage (2005)

amnesty international

Länderkurzinfo Türkei

Koordinationsgruppe Türkei der deutschen Sektion

Juli 2005

Angesichts der in jüngster Zeit zu beobachtenden Tendenz, dass das Bundesamt für Migration und Flücht­linge ebenso wie einige deutsche Verwaltungsgerichte die Reformen in der Türkei zum Anlass nehmen, um die Menschenrechtssituation in der Türkei pauschal als unproblematisch darzustellen, nimmt die deutsche Sektion von amnesty international zu einigen zentralen Punkten Stellung. amnesty international hat die zahlreichen Reformschritte begrüßt, die die türkische Regierung im Bereich der Menschenrechte in Angriff genommen hat. Dennoch ist in der Türkei fortgesetzt ein Muster von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen festzustellen. Seit der Entscheidung des Europäischen Rates vom 17. Dezember 2004 sind sogar die Verlangsamung des bisherigen Reform­prozesses und Rückschritte bei der Umsetzung zu beobachten.

1. Gesetzeslage und Umsetzung in die Praxis

Trotz vieler begrüßenswerter Gesetzesänderungen ist die Wahrnehmung grundle­gender Rechte nach wie vor durch eine Vielzahl von restriktiven Gesetzen eingeschränkt. Wie unten im Einzelnen dargestellt, bietet auch das neue Strafgesetzbuch, das oft als Beweis für die Reformfähigkeit der Türkei heran­ge­zogen wird, ein breites Spektrum zur Einschränkung der Meinungs- und Presse­freiheit. Weiter ist zu bedenken, dass auch Gesetze, die grundsätzlich mit internationalen Menschenrechts­stan­dards im Einklang stehen, so ausgelegt werden können, dass sie im Ergebnis zu politisch moti­vierter Verfolgung herangezogen werden. Für die Türkei, in der Staat, Gesellschaft und Justiz nach wie vor ein sehr gespanntes Verhältnis zu pluralistischer Meinungsvielfalt haben, gilt dies in besonderem Maße. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie beispielsweise „Aufstachelung zu Hass und Feindschaft“, „Verächt­lich­machung von Staatsorganen“ oder „Werbung für eine kriminelle Verei­nigung“ wurden in der Vergangen­heit sehr weit ausgelegt. Auch wenn Gesetzesänderungen und Grundsatz­urteile des Kassationsgerichts hier einen engeren Rahmen gesetzt haben, ist politische Verfolgung mit den Mitteln des Strafrechts nach wie vor an der Tagesordnung. Darüber hinaus sind die rechtlichen Reformen bisher nur höchst unzureichend in die Praxis umge­setzt worden, wie die weit verbreitet praktizierte Folter und Misshandlung durch Sicherheits­kräfte und deren mangelhafte juristische Ahndung, exzessive Gewalt gegenüber Demonstranten, Sanktionen gegen Menschen­rechts­organisationen und Gewalt gegen Frauen zeigen. Es ist nicht erkennbar, dass die bei der Regierung angesiedelten Kommissionen zur Überwachung der Reformen hier wirksam auf eine Umsetzung in die Praxis drängen. In diesem Zusammen­hang ist daran zu erinnern, dass auch der Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004 ausdrücklich gravie­rende Mängel bei der Umsetzung der Reformen in die Praxis aufgezeigt hat.

2. Einschränkung der Meinungsfreiheit

Das am 1. Juni 2005 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch wird von türkischer Seite als zentrale Reform­maßnahme zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes präsentiert. Zwar enthält die Gesetzesnovelle viele positive Änderungen, gleichwohl birgt das Gesetz die Möglichkeit, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken und Personen als gewaltlose politische Gefangene zu inhaftie­ren. Strafrechtsartikel, die in der Vergangenheit der Verfolgung von Meinungsäußerungen dienten, wurden in inhaltlich identischer Form in das neue Strafgesetzbuch übernommen. So taucht beispiels­weise Art. 159 des alten Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung oder Verunglimpfung“ verschiedener staatlicher Institutionen unter Strafe stellte, in Form von Art. 301 im Abschnitt „Verbre­chen gegen Symbole der staatlichen Souveränität und die Ehrung ihrer Organe“ wieder auf. Darüber hinaus wurden neue restriktive Artikel aufgenommen, wie z. B. Art. 305 tStGB, nach dem Handlungen gegen die grund­legenden nationalen Interessen der Türkei mit drei bis zehn Jahren Haft bestraft werden können. In der Begründung für diesen Artikel wurden als Beispiele für eine mögliche Tatbestands­erfüllung die Forde­rung nach einem Abzug der türkischen Truppen aus Zypern oder die Verbreitung der These vom Völkermord an den Armeniern angeführt1. Weiterhin bestehen bleibt auch das Gesetz zum Schutz des Andenkens an Atatürk, nach dem ein breites Spektrum von Meinungs­äußerungen bzw. kritischer Auseinandersetzung mit der türkischen Geschichte sanktioniert werden kann. In Bezug auf exilpolitische Tätigkeiten ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass auch nach dem neuen Art. 301 tStGB die „Belei­digung des Türkentums“ mit einem um ein Drittel erhöhten Strafmaß belegt ist, wenn sie von einem türkischen Staatsangehörigen im Ausland begangen wird. Die massive Kritik am Gesetz­entwurf durch türkische Journalisten­verbände und Menschenrechts­organisationen hat bezüglich der Inhalte so gut wie keinen Eingang in das aktuelle Gesetz gefunden. Lediglich die Strafver­schärfung bei Verbreitung von Äußerungen durch die Presse wurde weitgehend zurückgenommen; dieser Strafver­schär­fungs­grund behält dennoch bei mehreren Artikeln Gültigkeit, indem er durch den Tatbestand „öffentliche Begehung“ oder durch das Pressegesetz erfasst ist.

Vor der jüngsten Strafrechtsreform hatte es von 2002 bis 2004 Gesetzesreformen gegeben, die zu Ände­run­gen in den Artikeln 159, 169 und 312 tStGB a. F. und zur Abschaffung von Art. 8 Anti-Terror-Gesetz (ATG) führten. Auch wenn Strafverfahren und vor allem Verurteilungen nach den genannten Artikeln abgenommen haben, wurden seitdem die Artikel 159, 169 und 312 tStGB a. F. sowie Art. 7 des Anti-Terror-Gesetzes (ATG) weiter häufig angewandt, um unliebsame Meinungsäußerungen und Kritik von Menschenrechtsverteidigern, Journalisten und Vertretern oppositioneller Parteien juristisch zu verfolgen. Gründe sind neben der mangelhaften Annahme durch die türkischen Justizorgane auch strukturelle Umstände. So wurde in der Begründung zur Abschaffung von Art. 8 ATG darauf hin­ge­wiesen, dass Art. 312 II tStGB stattdessen bei separatistischen Äußerungen angewendet wer­den kann.

Vor allem Menschenrechtler werden nach wie vor wegen „Beleidigung der Sicherheitskräfte ange­klagt“, wenn sie Menschenrechtsverletzungen öffentlich anprangern, obwohl dem hier rele­van­ten Art. 159 a. F. der Zusatz beigefügt wurde, dass bloße Kritik nicht strafbar sei. Auch die Sonder­bericht­erstatterin des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Menschen­rechts­vertei­diger, Hina Jilani, berichtete im Anschluss an ihre Türkei-Mission vom 11. bis 20. Oktober 2004 über andauern­de gravie­rende Repressionen gegen Menschenrechtler in der Türkei. Gegen den Vorsitzenden der IHD-Zweig­stelle Diyarbakır sind 56, gegen die stellvertretende IHD-Vorsitzende und Leiterin eines Rechts­hilfe­zentrums für sexuell misshandelte Frauen, Eren Keskin, sind 87 Strafverfahren anhängig. Viele derartige Verfahren enden zwar inzwischen mit Freisprüchen, es kommt aber nach wie vor zu Verurteilungen zu Geld- oder sogar Haftstrafen.

Eren Keskin und weitere Vorstandsmitglieder der Zweigstelle Istanbul des IHD haben im Frühjahr 2005 – nach zahlreichen ähnlichen Vorfällen und auch physischen Angriffen in der Vergangenheit – erneut schriftliche Morddrohungen von den so genannten „Türkischen Rachebrigaden“ erhalten, die sich dabei ausdrücklich auf ihren Mordanschlag auf den IHD-Vorsitzenden Akin Birdal im Mai 1998 bezogen3. Auch türkische Politiker, darunter auch Ministerpräsident Erdoğan, haben die Menschen­rechtler in der Türkei wiederholt als Sympathisanten von Terrororganisationen diffamiert.

3. Folter

Trotz Verbesserungen auf rechtlicher Ebene (u. a. Verkürzung der Dauer der Polizeihaft, Recht auf sofortigen Anwaltszugang für alle Festgenommenen) sind Folter und Misshandlungen noch immer weit verbreitet. Selbst das im Amt des Ministerpräsidenten angesiedelte Direktorium für Menschenrechte bestätigt, dass Folter und Misshandlungen ein schwerwiegendes und weitver­brei­tetes Problem sind. Nach seiner Statistik standen im Jahr 2004 Beschwerden wegen Folter mit 158 Personen an erster Stelle der Beschwer­den. Die Zahlen der unabhängigen Menschenrechts­orga­nisationen lagen deutlich höher. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) gab im Juni 2005 bekannt, dass im Jahr 2004 insgesamt 922 Personen bei der Stiftung einen Antrag auf kostenlose Behandlung von Beschwerden infolge von Folter gestellt haben, während es im Jahr 2003 insgesamt 925 Personen gewesen seien. Auch amnesty international erhält weiterhin kontinuierlich neue Informationen über Folterungen. Der von der AKP-Regierung angekündigten Politik der „Null Toleranz“ gegenüber der Folter wider­sprechen Stellungnahmen türkischer Politiker, die von einem mangelnden Problembewusstsein gegen­über der Praxis der Folter zeugen. So erklärte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan im Oktober 2004 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und bei Gesprächen mit Presse­vertretern in Deutschland, es gäbe in seinem Land keinerlei Folter, weder systematische noch nicht systematische. Menschenrechtsorganisationen, die dies anzweifelten, bezeichnete er als “ideologisch verblendet“ und unterstellte ihnen, Beziehungen zu Terror­organi­sationen zu haben4. Die Frage, ob die Folter in der Türkei „systematisch“ sei, hat auch im Zusammenhang mit dem EU-Kommissionsbericht vom Oktober 2004 Diskussionen ausgelöst. Eine solche Klassifizierung kann nur sinnvoll sein, wenn der Begriff zugleich konkret definiert wird. Der ehemalige Erweiterungskommissar Verheugen vertrat die Position, systematisch sei Folter nur, wenn sie von der Regierung angeordnet wird. Dies ist eine sehr enge und auch problematische Definition, da man die direkte Anordnung einer Regierung nur sehr selten wird nachweisen können. Die Menschenrechts­stiftung der Türkei berief sich in der Debatte um den Begriff auf folgende Definition: Syste­matisch sei Folter, wenn sie eine „administrative Praxis (ist), wenn trotz des Verbots von Folter und Misshandlungen die Vorgesetzten derartige Taten dulden, nichts in Richtung Bestrafung unter­nehmen, eine Wieder­holung nicht verhindert wird oder wenn trotz einer hohen Anzahl von Beschwer­den hochrangige Offizielle keine Ermittlungen zur Überprüfung der Richtigkeit einleiten oder den Beschwerde­führern keine Möglichkeit gegeben wird, ihre Beschwerde einer neutralen Gerichtsbar­keit vorzulegen“5. Abgesehen von dem letzten Punkt – Folteropfer haben die Möglich­keit, sich vor Gericht zu beschweren, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, oftmals in Form von Bedrohungen durch die Polizei, und meist mit geringem Erfolg – treffen diese Kriterien auf die Türkei noch immer zu: Folter ist weit verbreitet, trotz positiver Schritte auf gesetzlicher Ebene gibt es in der Praxis keine wirksamen Kontroll­mechanismen, da die staatlichen regionalen und lokalen Menschenrechtskommis­sionen weder ausreichende Befugnis noch Expertise und teilweise scheinbar auch keine ausreichende Bereitschaft haben, um adäquate Untersuchungen durchzu­führen, und da die direkt Verantwortlichen – die Leitungs­ebene der Polizei und die Staatsanwalt­schaften – ihrer Aufgabe zur Verhinderung der Folter nicht nachkommen und dafür vom Staat bzw. der Justiz nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Die Vorschriften zur Ingewahrsamnahme und Vernehmung durch Polizei und Gendarmerie wer­den nach Erkenntnissen von amnesty international in der Praxis vielfach nicht eingehalten. So werden Besuche von Anwälten oft verhindert, medizinische Unter­suchungen von Festgenommenen werden entgegen den Vorschriften vielfach in Anwesenheit von Angehörigen der Sicherheitskräfte durchgeführt. In diesem Zusammenhang drückten türkische Menschenrechts­organisationen ihre Besorgnis über den Mangel an Unabhängigkeit des Gerichtsmedizinischen Instituts aus, welches eine faktische Monopol­stellung bei der Erstellung von Gutachten über erlittene Folter hat. Anlass für Kritik war die Ernennung von Dr. Nur Birgen zur Leiterin der Abteilung des Gerichtsmedizinischen Instituts, die für Gutachten über Folterfälle zuständig ist. Gegen Dr. Birgen wurden von der Türki­schen Ärztekammer mehrfach Diszipli­nar­strafen verhängt, weil sie in Gutachten Folterspuren vertuscht hatte.

Die strengeren Vorschriften bezüglich der Polizeihaft haben die Praxis der Folter zwar nicht verhindert, aber dazu beigetragen, dass in letzter Zeit vorrangig Foltermethoden angewandt werden, die keine längerfristig nachweisbaren physischen Spuren hinterlassen. Methoden wie Bastonade, Aufhängen an den Armen und Elektroschocks kommen deutlich seltener zur Anwendung, verbreitet sind dagegen Schläge, Abspritzen mit kaltem Wasser unter Hochdruck, sexuelle Misshandlungen und Demütigungen, Drohungen mit Tod oder Vergewaltigung, Zwang zum langen Verharren in schmerzhaften Körperposi­tionen sowie Schlaf- und Nahrungsentzug.

Umgangen werden die Vorschriften auch durch zunehmend dokumentierte unregistrierte Fest­nahmen. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) hat in ihrer Jahresstatistik für 2004 angegeben, dass von den 922 Antragstellern auf Behandlung 56 % erklärten, außerhalb regulärer Haft gefoltert worden zu sein6.

Neben dem neuen Strafgesetzbuch ist zum 1.6.2005 auch eine neue Strafprozessordnung in Kraft getreten, mit der mehrere zuvor eingeführte Verbesserungen des Schutzes von Festgenommenen rückgängig gemacht wurden. So muss, wer ohne richterliche Anordnung festgenommen wurde, nicht mehr sofort einem Staatsanwalt vorgeführt werden. Anwälten kann, wenn sie wegen bestimmter tStGB-Artikel strafrechtlich verfolgt werden oder deshalb gegen sie ermittelt wird, gem. Art. 151 tStPO n. F. verboten werden, ihre Klienten bei bestimm­ten Anklagepunkten zu vertreten oder diese in Haft aufzu­suchen. Unter diesen tStGB-Artikeln sind auch die Nachfolgeartikel von Artt. 159, 169, 312 tStGB a. F. und Art. 7 ATG, die besonders häufig angewandt wurden, um Menschenrechtsaktivisten mit offen­sicht­lich unbegründeten Anklagen in ihrer Arbeit zu behindern. Schließlich ist Art. 7 tStPO a. F.7 entfernt worden, der vorschrieb, dass Ermittlungen und Anklagen bei Folter und Misshandlung prioritär zu behan­deln seien und dass in derartigen Prozessen die Frist zwischen Verhand­lungs­terminen nicht mehr als 30 Tage betragen darf und die Verfahren auch während der Gerichtsferien fortgesetzt werden müssen. Diese Regelung war eine Reaktion darauf, dass Verfahren gegen mutmaßliche Folterer oft verschleppt und verzögert wurden, sodass viele Prozesse aufgrund der in der Türkei geltenden Verjährungsfristen auch bei laufendem Verfahren ohne Verurteilung zum Erliegen kamen. Auch die genannten Bestimmun­gen hatten dieses Problem nicht zufriedenstellend gelöst, jetzt gibt es jedoch überhaupt keine Rege­lungen mehr, um der gezielten Prozess­ver­schlep­pung einen Riegel vorzu­schieben.

All diese Faktoren tragen weiterhin zur weitgehenden Straflosigkeit von Folterern bei. Die Staats­anwälte ermitteln praktisch nie von sich aus, wenn sie, z. B. in Gerichtsverhandlungen, von Folter­vorwürfen hören. Wenn von Betroffenen Anzeige wegen Folter erstattet wird, werden die Vorwürfe nicht adäquat und unparteiisch untersucht, und es ist schon schwierig, die Eröffnung eines Verfahrens zu erreichen. In einem hohen Prozentsatz von Klagen über Folter und Misshandlung, in denen Staats­anwälte entschieden haben, kein Verfahren einzuleiten, fand offenbar nur eine kurze Untersuchung statt, die sich gewöhnlich auf die Prüfung des Arztberichtes beschränkte. Schon das Europäische Antifolter­komitee hatte diese Praxis kritisiert. Die Problematik liegt darin, dass die während der Polizeihaft vorgeschrie­benen ärztlichen Untersuchungen in vielen Fällen im Beisein der begleitenden Polizisten durchgeführt werden. Dies führt dazu, dass die Festgenommenen oftmals nicht ernsthaft untersucht werden und Angst haben, über erlittene Folter zu berichten. Ärzte werden von den Polizisten immer wieder unter Druck gesetzt, Folterspuren nicht zu dokumentieren. Andere Beweismittel wie z. B. Zeu­gen­aussagen von Mitgefangenen werden von den Gerichten in der Regel ignoriert.

Die Angehörigen der Sicherheitskräfte bleiben auch bei einer Anklage wegen schwerwiegender Men­schen­rechts­verletzungen im Dienst, sogar dann, wenn Gerichtsverfahren gegen sie eingeleitet wurden. Polizeibeamte, die schwerer Menschenrechts­verletzungen wie „Verschwindenlassen“, außer­ge­richtlicher Hinrichtung und Folter und Misshandlung angeklagt sind, wurden oft an andere Dienststellen versetzt und manchmal sogar befördert.

Wenn es überhaupt zur Verurteilung von Folterern kommt, sind die Urteile in der Regel der Schwere der Straftat nicht angemessen. Während die Opfer schwere Verletzungen erlitten, erhalten die Polizisten in der Regel nur minimale Strafen, die oft noch reduziert und/oder ausgesetzt werden – z. B. wegen guter Führung vor Gericht. Nur selten müssen Haftstrafen tatsächlich verbüßt werden. Wie gering auch das Interesse der Regierung an einer Aufklärung von Folterfällen ist, zeigt die Tatsache, dass der der Beteili­gung an der Folterung von vier Personen im Jahr 2002 angeklagte Polizist Hanefi Karal nach Berichten seiner Anwälte zu dem Gerichtstermin am 29.06.2005 in Ankara nicht kommen konnte, weil er im Amt des Ministerpräsidenten Dienst tue8.

Auch wenn es inzwischen zahlreiche Beispiele gibt, in denen Angeklagte freigesprochen wurden, da keine anderen Beweis­mittel als unter Druck erlangte Geständnisse vorlagen, ist die Verwendung von unter Folter erpressten Aussagen oder Geständnissen nach Aussagen von Rechts­an­wälten in der Türkei nach wie vor weit verbreitet.

Beispielsweise wurde Servet Özgün am 9.6.2005 vom Gericht für schwere Straftaten in Diyarbakir zu lebenslanger Haft nach § 125 tStGB verurteilt. Er hatte sich der Polizei gestellt, nachdem sein Bruder Mehmet Sait Özgün an einem von der PKK verübten Anschlag im Stadtteil Mardinkapı von Diyarbakir beteiligt gewesen und dabei getötet worden war. Servet Özgün war nach eigener Aussage selbst niemals Mitglied der PKK, hat aber unter Folter und Todesdrohungen bei der Polizei eine PKK-Mitglied­schaft und Beteiligung an dem Anschlag gestanden. Aus Angst vor den Drohungen hat er diese Aus­sage auch bei der ersten Vernehmung durch den Haftrichter bestätigt, in dem Gerichts­verfahren aber erklärt, seine Aussage sei auf Druck der Polizei zustande gekommen und entspreche nicht den Tatsa­chen. Nach Aussage seiner Rechtsanwältin Meral Danış-Beştaş wurde Servet Özgün aus­schließ­lich aufgrund seiner in dem Verfahren zurückgezogenen Aussage bei der Polizei verurteilt, weitere Beweis­mittel hätten nicht vorgelegen.

Ein weiteres Beispiel ist das Verfahren gegen den aus Deutschland abgeschobenen Metin Kaplan. Ein wesentlicher Pfeiler der Anklage gegen ihn sind belastende Aussagen von ehemaligen Anhän­gern seiner Organi­sation, die selbst erklären, sie hätten diese Aussagen unter Folter gemacht. Über die erlittene Folter liegen in diesen Fällen auch ärztliche Atteste vor. Die Anwälte von Metin Kaplan haben in der Verhand­lung vor dem Schwurgericht Istanbul am 4.4.2005 auf diesen Umstand hingewiesen, die ärztlichen Atteste vorgelegt und beantragt, die Belastungszeugen durch das Gericht anzuhören. Dieser Antrag wurde von dem Gericht zurückgewiesen mit der Begründung, die genann­ten Personen seien rechtskräftig verurteilt und ihre erneute Vernehmung würde keine neuen Erkenntnisse bringen.

Zur Gefahr der Folter nach Abschiebung: Während in den vergangen Jahren – bis ca. 2000 – mehrfach Kurden, selbst wenn sie nur auf sehr niedrigem Niveau politisch aktiv gewesen waren, nach ihrer Abschiebung in die Türkei festgenommen und gefoltert wurden, sind derartige Fälle in den letzten Jahren nicht mehr bekannt geworden. Im Falle von Personen, die von den türkischen Behörden ver­dächtigt werden, Mitglieder militanter politischer Organisationen zu sein, geht amnesty international aber nach wie vor von einer erheblichen Foltergefahr aus, vor allem wenn bei ihnen Kenntnisse über Orga­nisa­tionsstrukturen im Ausland oder in der Türkei vermutet werden. amnesty ist der Fall eines Kurden bekannt, der nach seiner Abschiebung im August 2004 drei Nächte lang in der Antiterror­abtei­lung der Polizei in Istanbul gefoltert und anschließend für drei Monate (bis zur ersten Gerichts­verhand­lung) inhaftiert wurde, weil er der Verantwortung für einen Anschlag der PKK bezichtigt wurde – obwohl er in der gleichen Sache vor seiner Flucht nach Deutschland vom Gericht freigesprochen worden war.

4. Sippenhaft

Eine wichtige Rolle in Asylentscheidungen spielt auch die Frage der so genannten Sippenhaft. Oft wird dieser Begriff verengt ausgelegt auf die Frage, ob Familienangehörige von Mitgliedern verbotener Organisationen gerichtlich belangt werden. Dies ist in der Tat im türkischen Recht nicht vorgesehen. Vor allem Angehörige gesuchter PKK-Mit­glieder sind jedoch starkem Druck ausgesetzt. Sie werden oft bedroht, aufgefordert, die betreffenden Verwandten herbeizuschaffen, oder verdäch­tigt, selbst die PKK zu unterstützen. Es kommt aber auch zu Festnahmen und Folterungen. So wurde ein 12jähriges Mäd­chen in Diyarbakir gefoltert, weil sie den Aufenthaltsort ihrer Schwester nicht angab (bzw. nicht angeben konnte)9. Weiter wurde im Oktober 2004 im Dorf Baluka in der Provinz Siirt der 61jährige Abdurrahman Aydın, dessen Sohn Guerilla­kämpfer der PKK war, gewaltsam aus seinem Haus abgeholt und in der Nähe des Dorfes in freier Landschaft von Soldaten und Dorfschützern nackt ausgezogen, gefoltert und mit dem Tode bedroht. Ihm wurde vorgeworfen, er würde die Terroristen unterstützen. Sein Cousin Resul Aydın berichtete dem Menschenrechtsverein in Siirt, er sei zuvor ebenfalls von demselben Gen­dar­merie­offizier und denselben Dorfschützern gefoltert worden. In einem weiteren amnesty international bekannt gewordenen Fall wurde auch ein Rechtsanwalt gefoltert, weil er PKK-Mitglieder verteidigt hat10. 5. Haftbedingungen in F-Typ-Gefängnissen

Die neuen F-Typ-Gefängnisse werden genutzt, um ein System von Einzel- und Kleingruppen­isolierung einzuführen. Die Gefange­nen sind in Einzel- oder Dreierzellen untergebracht und auch die Höfe vor den Zellen können nur von jeweils höchstens drei Gefangenen genutzt werden. Als gefährlich eingestufte Häft­linge oder solche, gegen die eine Disziplinarstrafe verhängt wurde, werden vollkommen isoliert. Möglichkeiten für Gemeinschafts­aktivitäten waren anfangs überhaupt nicht vorhan­den und sind auch jetzt nur für wenige Stunden in der Woche vorgesehen. Wenn auch die Hungerstreiks gegen die F-Typ-Gefängnisse Züge eines Macht­kampfes hatten, der von be­stimmten politischen Organisationen geführt wurde (und in dem auch in­haftier­te Organisati­onsmitglieder unter Druck gesetzt wurden), sollten die Missstände in den Gefäng­nissen doch deutlich benannt und Abhilfe gefordert werden. Dazu gehört vor allem, dass die Türkei der Forderung der Kommission zur Verhütung von Folter des Europarates folgt, dass Gefangene sich mindestens acht Stunden täglich außerhalb ihrer Zelle aufhalten und mit anderen Gefan­genen zusam­men­treffen können.

Rechtsanwälte politischer Gefangener berichten amnesty international immer wieder von Fällen von Misshandlungen im Gefängnis und insbesondere bei den Transporten der Gefangenen zum Gericht oder in ein Kranken­haus. Im Jahr 2004 wurden dem Menschenrechtsverein IHD 57 Fälle von Folter und Misshandlung im Gefängnis gemeldet, darüber hinaus gab es neun Todesfälle wegen Verwei­gerung medizinischer Behandlung (Bilanz des Menschenrechtsvereins der Türkei 2004). 6. Situation in den kurdischen Gebieten

Während sich die Situation in den kurdi­schen Gebieten nach der praktischen Einstellung der bewaffne­ten Auseinandersetzungen zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften seit ca. 2000 deutlich entspannt hatte, hat der Konflikt seit der Aufkündigung der von der PKK einseitig erklärten Waffenruhe im Frühsommer 2004 erneut an Schärfe gewonnen. Im Zuge dieser Eskalation ist auch ein erneuter Anstieg von Übergriffen staatlicher Kräfte (vor allem der Gendarmerie) auf kurdische Dorfbewohner zu verzeichnen.

Die im Rahmen der Reformen zugestandenen kulturellen Rechte für die Kurden beschränken sich auf ein minimales Niveau: Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache für ca. 1 Stunde pro Woche (die Gesamtsendezeit in Minderheitensprachen von 5 bzw. 4 Stunden pro Woche ist auf mehrere Minderheitensprachen aufgeteilt) und die Zulassung privater Sprachkurse. Verboten ist der Gebrauch der kurdischen Sprache nach wie vor für Parteien und im Rahmen von Wahl­kämpfen. Auch in jüngster Zeit wurden Mitglieder von Parteivorständen zu Haftstrafen verurteilt, weil sie kurdische Redebeiträge auf Parteiversammlungen zugelassen hatten; ebenso Kandidaten pro-kurdischer Parteien, die bei Wahlkundgebungen die Besucher auf Kurdisch begrüßt hatten. Anfang Juli 2005 hat das Amtsgericht in Halfeti (Urfa) die stellvertretende Vorsitzende der DEHAP, Handan Cağlayan, und den Vorsitzenden für die Provinz Urfa, Ahmet Dağtekin, wegen einer kurdischen Ansprache auf einer Wahlveranstaltung am 28. März 2004 verurteilt. Weil sie auf der Veranstaltung Kurdisch gesprochen haben und damit gegen das Gesetz für politische Parteien verstießen erhielt Ahmet Dağtekin eine Haftstrafe von 6 Monaten und eine Geldstrafe von 440 YTL (Neue Türkische Lira) und wurde Handan Cağlayan zu einer Haftstrafe von 7 Monaten und einer Geldstrafe von 513 YTL verurteilt. Derzeit läuft außerdem ein Verbotsverfahren gegen die Gewerkschaft für Mitarbeiter des Erziehungs­bereichs, Eğitim Sen, weil in ihren Statuten das Recht auf muttersprachlichen Unterricht für alle Kinder im staatlichen Bildungssystem gefordert wird. 7. Gesundheitsversorgung

Türkische Staatsangehörige, deren Einkommen ein Drittel des gesetzlichen Mindestlohnes (der Mindest­lohn liegt derzeit bei monatlich 190 Euro) nicht überschreitet, die keinen Anspruch auf Leistungen irgend­einer Sozialversicherung haben und über kein Vermögen verfügen, haben Anspruch auf Aus­stellung einer „Yeşil Kart“ (Grüne Karte), die zu kostenloser ambulanter und stationärer Behandlung, Kostenübernahme für lebensnotwendige Medikamente, Zahnbehandlung (nur Ziehen und notwendige Füllungen oder Prothesen einfacher Ausführung) und Versorgung mit Sehhilfen berechtigt. Die Übernahme psychiatrischer Behandlungen ist im Gesetz und den Ausführungsbestimmungen nicht aufgeführt. Auch das Auswärtige Amt macht in seinen Berichten zur Gesundheitsversorgung dazu keine Angaben, sondern erklärt lediglich, dass psychiatrische Behandlung (einschließlich PTBS) in der Türkei möglich sei. Es ist anzunehmen, dass eine Intervention bei akuten, schweren psychotischen Krisen auch im Rahmen der Behandlung mit der Yeşil Kart vorgenommen wird, die Übernahme einer längeren psy­cho­therapeutischen Behandlung ist jedoch schwer vorstellbar, da die Bestimmungen über die Versor­gung mit der Yeşil Kart generell auf eine Minimalversorgung ausgerichtet sind. Eine kostenlose psycho­the­rapeutische Behandlung ist prinzipiell in den Behandlungszentren der Menschen­rechtsstiftung der Türkei in Ankara, Istanbul, Izmir, Adana und Diyarbakır möglich. Für viele Menschen würde dies jedoch bedeuten, dass sie so lange Wege zurücklegen müssten, dass zumindest eine kontinuierliche Therapie nicht möglich ist. Darüber hinaus sind die finanziellen und damit auch personellen Kapazitäten dieser Behandlungszentren sehr begrenzt. Sie sind schon mit der Behandlung der Folteropfer, die in der Türkei geblieben sind, überlastet; für eine Therapie müssen Wartezeiten von mehreren Monaten in Kauf genommen werden. Leider ist auch die finanzielle Unterstützung der EU für die dringend notwendige Arbeit der Menschenrechtsstiftung gekürzt worden. Unabhängig von der Einschätzung der Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei sollte es sich jedoch aus humanitären Gründen verbieten, traumatisierte Folteropfer in das Land abzuschieben, in der sie das Trauma erlitten haben.

Für viele Menschen ist es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, sich die Grüne Karte ausstellen zu lassen. Der Antrag muss in dem Ort gestellt werden, in dem die Person registriert ist. Menschen, die in ihrer Heimatregion politische Verfolgung zu fürchten haben, im Asylverfahren aber auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen wurden, sind somit vor die Alternative gestellt, entweder auf medizinische Versorgung oder auf die angebliche inländische Fluchtalternative verzichten zu müssen. Außerdem wird in der Presse und in den Berichten der Menschenrechtsstiftung der Türkei immer wieder berichtet, dass vor allem Kurden, bei denen von einer oppositionellen Einstellung ausge­gan­gen wird, die Ausstellung der Grünen Karte verweigert wird. Nach Berichten der TIHV betrifft dies vor allem Mitglieder der pro-kurdischen Partei DEHAP und Angehörige von PKK-Mitgliedern.

Kurden, die aus ihren Dörfern fliehen mussten, haben oft auch das Problem, dass im Grundbuch Häuser oder Land auf ihren Namen eingetragen ist. Dies führt dazu, dass ihnen die Grüne Karte verweigert wird, auch wenn ihr Haus zerstört und ihr Land von Dorfschützern in Beschlag genommen wurde, sodass sie ihren auf dem Papier existierenden Besitz real nicht nutzen können. Erhebliche Probleme haben auch Menschen, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden und nirgends einen registrierten Wohnsitz haben. Nach Aussage der TIHV bekom­men in den kurdischen Gebieten ca. 70 % der Antragsteller die Yeşil Kart nicht.

8. Gewalt gegen Frauen

Dank intensiver Lobbyarbeit von Frauenorganisationen in der Türkei hat es bei der Ahndung von Gewalt gegen Frauen im neuen türkischen Strafgesetzbuch wesentliche Verbesserungen gegeben. In den Artikeln zur Folter wird sexuelle Folter erstmals ausdrücklich benannt und mit erhöhten Strafen belegt. Entsprechendes gilt für die so genannten „Ehrenmorde“ und familiäre Gewalt. Auch die intensivierte Diskussion in der türkischen Gesellschaft hat dazu geführt, dass derartige Verbrechen häufiger ange­zeigt und öffentlich gemacht werden. Trotz dieser positiven Entwicklungen sind „Ehrenmorde“ aber nach wie vor weit verbreitet. Betroffen sind vor allem Frauen, die eine außereheliche Beziehung eingegangen sind (insbesondere, wenn sie dadurch schwanger werden) oder ihren Ehemann verlassen haben. Aber auch Nichtigkeiten, wie z. B. Sprechen mit einem Mann auf der Straße, können für Frauen und Mädchen tödliche Folgen haben. Frauen, die vergewaltigt wurden, sei es in staatlicher Verantwortung von Poli­zisten, Soldaten oder Dorfschützern oder im Rahmen außerstaatlicher Kriminalität, finden oft bei ihrer Familie keinen Schutz, sondern werden verstoßen, gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten (wenn die Vergewaltigung angezeigt wurde, führt die Heirat mit dem Opfer nach dem neuen Strafrecht aller­dings nicht mehr zur Strafverschonung) oder sogar ermordet. Frauen, die „die Ehre der Familie befleckt haben“, werden auch landesweit von der Familie gesucht und verfolgt. Eine „inländische Fluchtal­ter­native“ steht ihnen somit nicht zur Verfügung.