Von oben nach unten

AI-JOURNAL FEBRUAR 2006

KOLUMNE

Von Sabine Küper

VON UNTEN NACH OBEN

Bei dem Thema Zensur zeigen sich derzeit alle Probleme des türkischen Reformprozesses: Die Äußerung von Orhan Pamuk zum Tod von einer Millionen Armeniern und 30.000 Kurden ließ eine absurde Anklage folgen. „Verunglimpfung des Türkentums“ kann mit sechs Monaten Gefängnis bestraft werden. Der Paragraph 301 des Türkischen Strafgesetzes und andere Artikel, wie etwa die „Entfremdung des Volkes vom Militär“, bedienen sich semantisch dehnbarer Formulierungen, mit denen alle kritischen Fragen sanktioniert werden können.

Neben Prominenten wie Orhan Pamuk werden momentan vor allem Journalisten, Politiker und Akademiker angeklagt, die sich mit Minderheiten-Fragen, der Macht des Militärs und anderen unbequemen Themen befassen, deren Aufarbeitung für den türkischen Demokratisierungsprozess unerlässlich sind. Doch obwohl das Militär mittlerweile verstanden hat, dass es Macht abgeben muss, sabotiert es eine unzensierte Debatte über die Situation der Kurden – auch um der Frage zu entgehen, welche Folgen die Art und Weise ihres Kampfes gegen die PKK im Südosten des Landes nach sich zog. Viele strukturelle Probleme des Landes, wie die immense Landflucht, die Situation der verarmten Bevölkerung in der Osttürkei oder die so genannten „Ehrenmorde“ hängen damit zusammen.

Die türkische Regierung hat durch ihren Reformkurs in Richtung Europäische Union eindeutige Weichen gestellt. Doch politische Veränderungen dürfen nicht mehr nur von oben, von der Staatsbürokratie, forciert werden. Mit dieser Tradition muss Ankara endlich brechen. Die EU kann im Rahmen der Konsolidierungsgespräche eine große Unterstützung leisten. Die EU-Tauglichkeit der Türkei infrage zu stellen, wie dies nun in vielen Mitgliedsstaaten latent geschieht, wird jedoch nicht helfen. Die Türkei hat kluge Schriftsteller, mutige Journalisten und eine reifende Zivilgesellschaft. Dieses Potenzial sollte in Europa nicht bemitleidet, sondern als zukunftsweisende Kraft unterstützt werden.

Sabine Küper ist Journalistin und lebt in Istanbul.