Jahresbericht 2006

Jahresbericht 2006

Türkei

  • Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2005

Amtliche Bezeichnung: Republik Türkei
Staatsoberhaupt: Ahmet Necdet Sezer
Regierungschef: Recep Tayyip Erdoğan
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Statut des Internationalen Strafgerichtshofs: nicht unterzeichnet
UN-Frauenrechtskonvention und Zusatzprotokoll: ratifiziert

Im Oktober nahmen der Ministerrat der Europäischen Union und die türkische Regierung Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei auf. Bei der Umsetzung von Reformvorhaben, deren Ziel es war, innerstaatliches Recht mit internationalen Standards in Einklang zu bringen, zeichneten sich im Vergleich zu den Vorjahren nur mäßige Fortschritte ab. Die Gesetzeslage in der Türkei ließ nach wie vor Einschränkungen bei der Ausübung fundamentaler Menschenrechte zu. Im Juni trat ein neues Strafgesetzbuch in Kraft, auf dessen Grundlage Personen, die in friedlicher Weise zu bestimmten Themen ihre Ansichten äußern, mit strafrechtlicher Verfolgung und staatlichen Sanktionen rechnen mussten. Nach wie vor trafen Berichte über Folterungen und Misshandlungen ein. Von solchen Praktiken gefährdet waren vor allem unter Straftatverdacht festgenommene Personen. Die Ordnungskräfte gingen erneut mit exzessiver Gewalt gegen Demonstranten vor und erschossen im November vier Protestteilnehmer. Ermittlungen zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen waren von Mängeln behaftet und führten nur selten zur strafrechtlichen Verfolgung der dafür verantwortlichen Polizisten. Vor dem Hintergrund einer steigenden Zahl bewaffneter Zusammenstöße zwischen den türkischen Sicherheitskräften und bewaffneten Einheiten der Kurdischen Arbeiterpartei PKK war in den östlichen und südöstlichen Provinzen des Landes eine Verschlechterung der Menschenrechtssituation zu verzeichnen.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrundinformationen

Im Juni traten ein neues Strafgesetzbuch, eine neue Strafprozessordnung und ein Gesetz über die Vollstreckung von Urteilen in Kraft, die allesamt eine Reihe positiver Änderungen enthielten. Das Strafgesetzbuch beispielsweise bot Frauen einen verbesserten Schutz vor Gewalt. Zugleich waren in ihm aber auch Bestimmungen verankert, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten. Menschenrechtsverteidiger in der Türkei machten überdies Einwände gegen die im Gesetz über die Vollstreckung von Urteilen vorgesehene Disziplinarordnung im Strafvollzug geltend. Ende des Berichtszeitraums hatte ein Unterausschuss des Parlaments seine Beratungen über eine revidierte Fassung des Anti-Terror-Gesetzes noch nicht abgeschlossen. Vorherige Entwürfe für eine Novellierung dieses Gesetzes waren von Menschenrechtsorganisationen kritisch kommentiert worden.

Im September unterzeichnete die türkische Regierung das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe.

Im Oktober nahmen der Ministerrat der Europäischen Union und die Regierung in Ankara offizielle Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei auf.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung

In der Türkei waren nach wie vor eine Reihe von Gesetzen in Kraft, die das Recht auf freie Meinungsäußerung in erheblicher Weise einschränkten. Sie bildeten die Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die sich in friedlicher Weise zu unterschiedlichsten Themen von öffentlichem Interesse zu Wort gemeldet hatten. Die Art und Weise, wie Staatsanwälte und Richter in solchen Verfahren agierten, zeugte oftmals von Unkenntnis einschlägiger internationaler Menschenrechtsnormen. Von führenden Regierungsvertretern waren zudem bisweilen Äußerungen zu vernehmen, aus denen Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen oder auch nur einer offenen Debatte über anhängige Fragen sprach. Solche Äußerungen vermittelten den Eindruck, als werde die strafrechtliche Verfolgung Andersdenkender gutgeheißen.

Im neuen Strafgesetzbuch wurde Paragraph 159 der alten Strafvorschriften durch Paragraph 301 ersetzt, der die Herabwürdigung des Türkentums, der türkischen Republik und der Institutionen des Staates unter Strafe stellt. Im Berichtszeitraum griffen die Behörden in willkürlicher Weise auf beide Paragraphen zurück, um Kritiker einzuschüchtern und Schriftsteller, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Intellektuelle strafrechtlich zu belangen. Davon betroffen waren neben vielen anderen der Journalist Hrant Dink, der Romanautor Orhan Pamuk, die Politik- beziehungsweise Rechtswissenschaftler Baskīn Oran und Ibrahim Kaboğlu sowie Şehmüs Ülek, Stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Mazlum Der.

Eine im Mai an der Bosporus-Universität in Istanbul geplante Konferenz von Historikern über die rückblickende Wahrnehmung der Situation von Armeniern im Osmanischen Reich musste verschoben werden, nachdem Innenminister Cemil Çiçek die Tagung als Verrat an der Türkei gebrandmarkt hatte. Seine Äußerungen stellten einen grundlegenden Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft dar. Die Konferenz konnte letztlich im September an der Universität von Bilgin stattfinden. Allerdings wurden im Dezember gegen fünf Journalisten, die über die versuchte Vereitelung der Tagung berichtet hatten, auf der Grundlage der Paragraphen 301 und 288 des Strafgesetzbuchs rechtliche Verfahren eingeleitet.

Die weitreichenden Einschränkungen, denen der Gebrauch von Minderheitensprachen im öffentlichen Leben unterlag, trugen zu einer zusätzlichen Aushöhlung des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei.

Im Mai ordnete das Oberste Berufungsgericht die Schließung der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen an. Die Begründung hierfür lautete, die Propagierung des Rechts auf »muttersprachlichen Unterricht« in der Satzung der Gewerkschaft verstoße gegen Artikel 3 und 42 der Verfassung, da dort festgelegt sei, dass Unterricht ausschließlich in türkischer Sprache stattfinden dürfe. Um ihre Schließung abzuwenden, sah sich Eğitim Sen gezwungen, den beanstandeten Passus aus ihrer Satzung zu streichen.

Im Oktober beantragte die Staatsanwaltschaft die Schließung der kurdischen Vereinigung Kürd Der. Sie begründete ihren Antrag unter anderem damit, dass sich die Vereinigung in ihrer Satzung einen »nichttürkischen« Namen gegeben und sich für das Recht auf kurdischsprachigen Unterricht ausgesprochen hatte. Zuvor war Kürd Der aufgefordert worden, Satzung und Namensgebung zu ändern.

Bestimmungen im Pressegesetz, die die Berichterstattung über gerichtsanhängige Verfahren regelten, wurden in willkürlicher und völlig überzogener Weise angewandt, um Journalisten davon abzuhalten, eigene Recherchen über Menschenrechtsverletzungen anzustellen oder Verstöße öffentlich zu kommentieren. Auch Menschenrechtsverteidiger sahen sich durch die fraglichen Bestimmungen in ihrer Arbeit behindert.

Im Berichtszeitraum wurden gegen Selahattin Demirtaş, den Vorsitzenden der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakır, und Mihdi Perinçek, einen regionalen Vertreter des Vereins, strafrechtliche Schritte eingeleitet. Auslöser hierfür war ein Bericht über die Tötung von Ahmet und Uğur Kaymaz (siehe unten), den die beiden IHD-Mitglieder in gemeinsamer Herausgeberschaft mit anderen Personen veröffentlicht hatten. In der Anklageschrift hieß es, mit der Veröffentlichung des Berichts sei gegen Paragraph 19 des Pressegesetzes verstoßen worden, da dadurch die Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft in den Todesfällen beeinträchtigt worden seien. Tatsächlich jedoch hatten die Verfasser des Berichts keinerlei Zugang zu den Ermittlungsakten erhalten, da diese aufgrund einer richterlichen Verfügung und unter Hinweis auf Sicherheitsinteressen unter Verschluss gehalten worden waren. Die ersten Anhörungen im Prozess gegen Selahattin Demirtaş und Mihdi Perinçek begannen im Juli.

Folterungen und Misshandlungen

Im Berichtszeitraum trafen erneut Meldungen über Folterungen und Misshandlungen durch Beamte mit Polizeibefugnissen ein. Zu den geschilderten Methoden zählten die Verabreichung von Schlägen, Todesdrohungen, Schlafentzug und die Verweigerung von Wasser und Nahrung. Während die Zahl der Berichte über Folterungen und Misshandlungen an politischen Gefangenen eine rückläufige Tendenz aufwies, sahen sich offenbar gewöhnlicher Straftaten wie Diebstahl oder Störung der öffentlichen Ordnung verdächtigte Personen der erhöhten Gefahr ausgesetzt, Misshandlungen zu erleiden. Dem Vernehmen nach verstießen die Ordnungskräfte vielfach in eklatanter Weise gegen existierende Vorschriften für Inhaftierungen und ordnungsgemäße Ermittlungsverfahren, ohne dass sich die Staatsanwaltschaften davon überzeugten, ob diese Vorschriften eingehalten worden sind oder nicht. Darüber hinaus setzte die Polizei regelmäßig in exzessiver Weise Gewalt gegen Demonstranten ein, insbesondere gegen Angehörige linker Gruppierungen, Anhänger der pro-kurdischen Partei DEHAP, Studenten und Gewerkschafter (siehe unten). Vor allem Personen, die den Vorwurf erhoben, im Zuge von Protestkundgebungen misshandelt worden zu sein, wurden des Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt. Die von ihnen erlittenen Verletzungen erklärte die Polizei gewöhnlich damit, dass sie bei dem Versuch zustande gekommen seien, die betreffenden Personen zu fixieren.

Im Oktober wurden bei der Eröffnung eines Einkaufszentrums in Ordu fünf Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren verhaftet. Sie gaben an, bei der Festnahme und anschließend auf dem Polizeipräsidium von Ordu geschlagen, beschimpft und bedroht worden zu sein. Außerdem habe man ihnen die Hoden gequetscht. Zwei der fünf Jugendlichen, die allesamt später wieder freigelassen wurden, erklärten zudem, sie hätten sich nackt ausziehen müssen und seien mit Vergewaltigung bedroht worden. In den Polizeiakten waren drei der Festnahmen nicht einmal registriert. Gegen einen der Jugendlichen wurde Anklage erhoben, weil er sich gewaltsam seiner Verhaftung widersetzt haben soll. Nicht nur die Misshandlungsvorwürfe, die anhand medizinischer Gutachten und Fotografien untermauert werden konnten, sondern auch die übrigen Unregelmäßigkeiten in der Handhabung des Falls machten das Versagen von Polizei und Staatsanwaltschaft deutlich, rechtlichen Vorschriften konsequent Folge zu leisten.

Im März löste die Polizei im Istanbuler Stadtteil Saraçhane eine Demonstration anlässlich des Weltfrauentags gewaltsam auf, indem sie auf die Teilnehmer mit Knüppeln einprügelte und aus nächster Nähe Pfefferspray gegen sie einsetzte. Berichten zufolge mussten sich anschließend drei Frauen im Krankenhaus behandeln lassen. Im Ausland stieß der Vorfall auf harsche Kritik. Im Dezember wurden 54 Polizisten wegen unverhältnismäßiger Anwendung von Gewalt unter Anklage gestellt, nicht jedoch ihre Vorgesetzten, von denen drei lediglich einen »Verweis« erhielten.

Straffreiheit

Ermittlungen zur Aufklärung von Vorwürfen über Folterungen und Misshandlungen waren weiterhin mit schweren Mängeln behaftet und zeugten von fehlendem Willen der Justizorgane, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen. Nach wie vor herrschte ein allgegenwärtiges Klima der Straffreiheit vor.

Im April sprach ein Gericht in İskenderum vier Polizisten frei, denen die Anklage zur Last gelegt hatte, 1999 die beiden jungen Frauen Nazime Ceren Salmanoğlu und Fatma Deniz Polattaş gefoltert und mit einem Schlagstock vergewaltigt zu haben. Der Prozess hatte sich mehr als sechs Jahre hingezogen und war mindestens 30 Mal unterbrochen worden. Als Begründung für die Freisprüche nannte das Gericht die »unsichere Beweislage«. Die Verteidiger der zwei Frauen kündigten Berufung gegen das Urteil an. Nazime Ceren Salmanoğlu und Fatma Deniz Polatta waren auf der Grundlage von Geständnissen, die sie offenbar unter Folterungen abgelegt hatten, zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden.

Rund 15 Jahre nach dem gewaltsamen Tod des Studenten Birtan Altınbaş war vor der Zweiten Kammer des Strafgerichts Ankara nach wie vor ein Prozess gegen vier tatverdächtige Polizeibeamte anhängig. Birtan Altınbaş war am 15. Januar 1991 gestorben, nachdem die Polizei ihn unter dem Verdacht, einer verbotenen Organisation anzugehören, sechs Tage lang in Haft gehalten und Verhören unterworfen hatte. Der Fall, der im Ausland für Empörung gesorgt und von der türkischen Presse weithin aufgegriffen worden war, warf ein erneutes Schlaglicht auf die diversen Defizite im Strafrechtssystem der Türkei.

Im Februar begann ein Gerichtsverfahren gegen vier Polizisten, die angeklagt waren, am 21. November 2004 den zwölfjährigen Uğur Kaymaz und dessen Vater Ahmet Kaymaz getötet zu haben. Die beschuldigten Beamten befanden sich weiterhin auf freiem Fuß und waren nicht vom Dienst suspendiert. Gegen ihre für die damalige Polizeioperation verantwortlichen Vorgesetzten war weder ermittelt noch Anklage erhoben worden. Dieses Versäumnis bestätigte Kritiker in dem Verdacht, dass die Staatsanwaltschaften in solchen Fällen die Frage der Befehlsstrukturen in ihren Ermittlungen weitgehend unberücksichtigt ließen.

Zweifel an der Fairness von Gerichtsverfahren

Die gegenüber der Anklagevertretung nach wie vor schwächere Position der Verteidigung und die Einflussnahme der Exekutive auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten stellten ein Hindernis auf dem Weg zu einer wirklich unabhängigen Justiz dar. Seit dem Inkrafttreten der strafprozessualen Reformen im Juni verfügten Häftlinge zwar über einen verbrieften Anspruch auf Rechtsbeistand und konnten sich darauf berufen, dass ohne Beisein eines Anwalts gemachte Aussagen vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen werden dürfen. Doch nur wenige Staatsanwälte an den neu geschaffenen Strafgerichten – die 2004 an die Stelle der Staatssicherheitsgerichte getreten waren – unternahmen den Versuch, anhängige Fälle aus der Zeit vor Juni zu überprüfen, als Aussagen noch ohne Hinzuziehung von Rechtsanwälten zulässig gewesen waren. Selbst wenn Angeklagte den Vorwurf erhoben, zu »Geständnissen« gezwungen worden zu sein, blieben die Strafverfolgungsbehörden meist untätig. Überdies war generell zu beobachten, dass die Staatsanwaltschaften kaum Anstrengungen unternahmen, Beweise zu recherchieren, die der Entlastung von Angeklagten dienten. Anträge der Verteidigung auf Einvernahme von Zeugen wurden vielfach abgelehnt.

Inhaftierung von Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen

Der türkische Gesetzgeber erkannte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an und stellte keine zivile Alternative zum Militärdienst zur Verfügung.

Im August wurde der Kriegsdienstverweigerer Mehmet Tarhan vom Militärgericht der Stadt Sivas zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die Richter sprachen ihn der »Befehlsverweigerung« schuldig, weil er seinen Militärdienst nicht angetreten hatte. amnesty international betrachtete Mehmet Tarhan als gewaltlosen politischen Gefangenen.

Tötungen unter umstrittenen Umständen

Am 9. November wurden bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Buchhandlung in Şemdinli in der Provinz Hakkâri ein Mann getötet und mehrere andere Personen verletzt. Die türkischen Behörden nahmen im Zusammenhang mit dem Vorfall drei Männer in Haft. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei dem mutmaßlichen Bombenleger um einen ehemaligen PKK-Kämpfer, der die Seiten gewechselt hatte und zum Informanten der türkischen Behörden geworden war. Bei seinen beiden Mittätern soll es sich um Angehörige der staatlichen Sicherheitsdienste gehandelt haben. Ihre Papiere wiesen sie als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der türkischen Gendarmerie aus. Als später die Staatsanwaltschaft am Tatort Spuren zu sichern versuchte, wurden auf dort versammelte Menschen von einem Fahrzeug aus Schüsse abgefeuert, durch die ein Zivilist zu Tode kam und mehrere Personen verletzt wurden. Die Staatsanwaltschaft sah sich daraufhin gezwungen, ihre Ermittlungen vor Ort zunächst auszusetzen. Im Zusammenhang mit dem Vorfall wurde gegen einen Gendarmeriebeamten wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung mit Todesfolge Anklage erhoben. amnesty international rief die Regierung in Ankara eindringlich dazu auf, eine unabhängige Kommission mit der lückenlosen Aufklärung der Vorgänge in Şemdinli zu beauftragen und sicherzustellen, dass Vorwürfe über eine Beteiligung offizieller Stellen gründlich untersucht werden. Die Ereignisse in Şemdinli lösten Protestkundgebungen aus, in deren Verlauf in Yüksekova drei Menschen und in Mersin eine Person von der Polizei erschossen wurden.

Im Berichtszeitraum wurden etwa 50 Menschen Opfer tödlichen Schusswaffengebrauchs durch die Polizei. Mehr als die Hälfte der Toten waren in den östlichen und südöstlichen Provinzen des Landes zu beklagen. Allem Anschein nach handelte es sich in der Mehrzahl um extralegale Hinrichtungen oder um Tötungen als Folge exzessiver Gewaltanwendung seitens der türkischen Sicherheitskräfte. Nach gängiger Darstellung der Behörden waren die Opfer getötet worden, »weil sie der Aufforderung zum Stehenbleiben nicht Folge geleistet hatten«.

PKK-Kämpfer sollen ihrerseits mindestens zwei Menschen getötet haben. Am 17. Februar fiel Kemal Şahin, der sich von der PKK losgesagt und eine der Patriotischen Demokratischen Partei von Kurdistan nahe stehende Organisation gegründet hatte, in der Nähe von Suleimaniya im Norden Iraks einem Mordanschlag zum Opfer. Hikmet Fidan, ehemals Stellvertretender Vorsitzender der Partei DEHAP, wurde am 6. Juli in Diyarbakır getötet.

Eine Organisation namens »Kurdische Freiheitsfalken« bekannte sich zu einem im Juli verübten Bombenanschlag auf einen Bus in der Stadt Kuşadası an der Türkischen Ägäis, bei dem fünf Zivilisten getötet wurden.

Gewalt gegen Frauen

Das neue Strafgesetzbuch bot Frauen einen verbesserten Schutz vor familiärer Gewalt. Das ebenfalls neu in Kraft getretene Gesetz über die Gemeindeverwaltungen enthielt eine Vorschrift, wonach alle Gemeinden mit mehr als 50 000 Einwohnern Frauenhäuser einrichten müssen. Zur Umsetzung dieser Verordnung war eine angemessene finanzielle Unterstützung der Zentralregierung ebenso notwendig wie eine umfassende Kooperation mit zivilgesellschaftlich engagierten Frauenorganisationen vor Ort. Eine weitere Aufgabe der Behörden bestand darin sicherzustellen, dass Beamte mit Polizeibefugnissen, Staatsanwälte und Angehörige der Heilberufe mit den Inhalten des bislang wenig bekannten Gesetzes über den Schutz der Familie vertraut gemacht werden.

Staatliche Menschenrechtsinstitutionen

Dem Amt des Ministerpräsidenten unterstehende staatliche Gremien zur Überwachung der Menschenrechtssituation erwiesen sich als nur eingeschränkt effektiv und verfügten nicht über die notwendigen umfassenden Vollmachten, Rechtsverstöße zu untersuchen und öffentlich zu machen. Der Beratende Ausschuss für Menschenrechte des Ministerpräsidenten, dem zivilgesellschaftliche Organisationen angehörten, sah sich in seiner Arbeit behindert und stellte seine Aktivitäten praktisch ein. Im November wurden gegen den ehemaligen Ausschussvorsitzenden Ibrahim Kaboğlu und Baskın Oran, ein Mitglied des Ausschusses, Strafverfahren eingeleitet. Den Hintergrund hierfür bildete ein Bericht über Minderheiten in der Türkei, den Baskın Oran im Auftrag des Ausschusses verfasst hatte. Die auf Provinzebene von der ebenfalls beim Ministerpräsidenten angesiedelten Menschenrechtspräsidentschaft geschaffenen Menschenrechtsausschüsse unterließen es, Verstöße gegen die Menschenrechte mit der gebotenen Sorgfalt zu untersuchen. Ein Gesetzentwurf, der die Einrichtung eines Bürgerbeauftragten vorsah, lag ersichtlich auf Eis.

Berichte und Missionen von amnesty international

Berichte

Turkey: Memorandum on AI’s recommendations to the government to address human rights violations (ai-Index EUR 44/027/2005)

Concerns in Europe and Central-Asia: January–June 2005: Turkey (ai-Index: EUR 01/012/2005)

Missionen

Delegierte von amnesty international hielten sich im November in der Türkei auf.