Anliegen im 2. Halbjahr 2005

amnesty international

Anliegen in Europa und Zentralasien

Juli – Dezember 2005

TÜRKEI

Dieser Länderbericht ist ein Auszug aus dem im Juni 2006 erschienenen Bericht von amnesty international, Europe and Central Asia: Summary of Amnesty International’s Concerns in the Region: July – December 2005 TURKEY (AI Index: EUR 01/007/2006). Für weitere Informationen über die Anliegen von amnesty international in Europa und Zentralasien wird auf das vollständige Dokument verwiesen. Die Übersetzung wurde von der Türkei-Koordinationsgruppe der deutschen Sektion von amnesty international angefertigt; verbindlich ist das englische Original.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Am 3. Oktober hat der Ministerrat der Europäischen Union nach einem Tag angespannten Verhandelns formell die Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft der Türkei eröffnet.

Die Grundlage dafür war im Jahr zuvor gelegt worden: Der Fortschrittsbericht 2004 bewertete die von der Türkei unternommenen Reformen zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien positiv und der Ministerrat stellte im Dezember 2004 den 3. Oktober 2005 als Verhandlungsbeginn in Aussicht. Allerdings wurde mit dieser Entscheidung erstmals ausdrücklich betont, dass die Verhandlungen jederzeit suspendiert werden können, falls in einem Staat mit Kandidatenstatus erheblich und beharrlich gegen zentrale Prinzipien der Union wie Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Bindung an Gesetz und Recht verstoßen wird.

Es wird erwartet, dass der Beitrittsprozess zwischen zehn und fünfzehn Jahren dauern wird; dem Beitritt der Türkei müssen alle EU-Mitgliedsstaaten zustimmen. Die Erfüllung der EU-Standards auf allen Gebieten wird weiterhin kontinuierlich überwacht werden. Die EU beschreibt deshalb die Verhandlungen als ‚offenen Prozess, dessen Ergebnis nicht von vornherein garantiert ist’.

Im September 2005 ergänzte eine Erklärung von EU-Mitgliedstaaten die Bedingungen um eine weitere, dass nämlich die Türkei die Republik Zypern anerkennen müsse, bevor sie EU-Mitglied werden könne, und verlangte, dass sie ihre Beziehungen zu allen EU-Mitgliedstaaten normalisiere (einschließlich der vollständigen Umsetzung der Zollunion mit allen Mitgliedsstaaten, einschließlich Zyperns). Die Erklärung wies darauf hin, dass die Beitrittsgespräche sich verzögern würden, wenn dies nicht bald passiere.

Im September unterzeichnete die Türkei das Fakultativprotokoll zur UN Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Mit einer Ratifizierung des Protokolls werden die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sämtliche Orte, an denen festgenommene Personen untergebracht sind, von unabhängigen internationalen und nationalen Gremien besucht werden können.

Neue Gesetzgebung und Fortdauer der Einschränkung der Meinungsfreiheit

Nach Inkrafttreten des neuen Türkischen Strafgesetzbuches (TStGB) am 1. Juni 2005 wurde deutlich, dass bei den Staatsanwälten die besorgniserregende Tendenz besteht , Strafrechtsbestimmungen, die in dem neuen Gesetz modifiziert wurden, weiterhin zur Beschränkung der Meinungsfreiheit einzusetzen. Das zeigt zum einen, dass die Änderung einiger Artikel unzulänglich ist und einen weiten Spielraum lässt, friedliche abweichende Meinungsäußerungen quer durch das politische Spektrum zu kriminalisieren, und zum anderen, dass bei einigen Staatsanwälten und Richtern ein Rechtsverständnis fortbesteht, das mangelndes Bewusstsein im Hinblick auf die internationale Menschenrechtsgesetzgebung und unzureichende Kenntnis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erkennen lässt.

Am 16. Dezember wurde ein Verfahren gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk wegen ‚Verunglimpfung des Türkentums’ nach Art. 301 TStGB vor dem Amtsgericht in Şişli/İstanbul eröffnet. Der Schriftsteller wurde wegen Äußerungen in einem Interview im Februar 2005 in einer Schweizer Zeitung (Tagesanzeiger) angeklagt. Er hatte gesagt: „30.000 Kurden und eine Million Armenier sind ermordet worden. Kaum jemand wagt das zu sagen; deshalb sage ich es. Und darum werde ich gehasst.“

Am 7. Oktober wurde Hrant Dink, Journalist und Herausgeber der armenischsprachigen Wochenzeitung Agos, durch das selbe Gericht zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe mit Bewährung wegen ‚Verunglimpfung des Türkentums’ in einem Artikel verurteilt, den er über die armenische Identität geschrieben hatte. Hrant Dink hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Parallel liefen weitere Ermittlungen gegen ihn – ebenfalls auf der Grundlage von Art. 301 – wegen einer Rede, die er auf einer von dem Ortsverein Urfa der Nichtregierungsorganisation ‚Mazlum Der’ am 14. Dezember 2002 veranstalteten Konferenz gehalten hatte. Unter dem Titel ‚Globale Sicherheit, Terror und Menschenrechte, Multikulturalismus, Minderheiten und Menschenrechte’ hatte er sich dort mit der offiziellen Darstellung der türkischen Identität auseinandergesetzt.

Eine Reihe weiterer Prozesse wurde gegen Menschenrechtsverteidiger, Verleger und Journalisten aufgrund des gleichen Strafrechtsartikels eröffnet. ai hat sich gegen diese Verfahren mit der Begründung gewandt, dass die weite und unklare Fassung des Art. 301 eine direkte Bedrohung des Rechts auf freie Meinungsäußerung (vgl. AI-Index: EUR 44/035/2005) bedeute. Im Falle einer Verurteilung und Inhaftierung würde ai diese Personen als gewaltlose politische Gefangene betrachten.

Gegen Ende des Jahres wurde zunehmend deutlich, dass auch andere Artikel des TStGB, insbesondere Art. 216 (Aufstachelung zum Rassenhass) und Art. 288 (Beeinflussung des Gerichtes), in einer Weise angewandt wurden, die eine ungerechtfertigte Einschränkung der Meinungsfreiheit darstellte. Auch andere Gesetze, darunter verschiedene Artikel des Pressegesetzes, wurden weiterhin zur Einschränkung der Meinungsfreiheit benutzt.

Folter und Misshandlung – und Straflosigkeit der Verantwortlichen

Berichte über Folter- und Misshandlungen hielten an. Während es jedoch im Verlauf des Jahres einen Rückgang bei Berichten über Folterungen und Misshandlungen an Personen gab, die unter dem Vorwurf politischer Straftaten festgenommen wurden, blieb die Gefahr der Folter für diejenigen, die unter dem Verdacht gewöhnlicher Delikte (insbesondere Diebstahl und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung) festgenommen wurden, unverändert hoch. Immer wieder wurde berichtet, dass die Strafverfolgungsbehörden das für Festnahmen und Ermittlungen gesetzlich vorgeschriebene Verfahren nicht eingehalten hätten und Staatsanwälte ihre diesbezüglichen Kontrollfunktionen nicht nachgekommen seien. Der fortbestehende Mangel an effektiver und transparenter Überwachung von Hafteinrichtungen sowie die fehlende Einhaltung gesetzlicher Verfahrensvorschriften bringen die Gefahr mit sich, dass Folter und Misshandlungen jederzeit wieder zunehmen können.

Auch dass Angehörige der Sicherheitskräfte, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, nach wie vor nur selten mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, macht einen Mangel an echtem Fortschritt auf diesem Gebiet deutlich. Soweit Ermittlungen durchgeführt wurden, waren diese von schweren Verfahrensfehlern gekennzeichnet und zeigten, dass Teile der Justiz nicht gewillt waren, Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu ahnden. Menschenrechtsverletzer konnten sich weiterhin von einer Atmosphäre der Straflosigkeit geschützt fühlen.

Im Oktober wurden in Ordu, einer Stadt am Schwarzen Meer, fünf Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren bei der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums festgenommen. Sie berichteten, sie seien in der zentralen Polizeistation von Ordu geschlagen, beschimpft und bedroht und ihre Hoden seien gequetscht worden. Nach ihrer Freilassung berichteten zwei von ihnen, sie seien nackt ausgezogen und mit Vergewaltigung bedroht worden. Drei wurden in den polizeilichen Unterlagen nicht als festgenommen registriert. Einem wurde anschließend vorgeworfen, sich der Festnahme mit Gewalt widersetzt zu haben. Die in den ärztlichen Attesten und auf Fotografien dokumentierten Verletzungen stimmten mit den Berichten der Jugendlichen über ihre erlittenen Folterungen überein. Daneben belegten andere Unregelmäßigkeiten im Umgang mit den festgenommenen Jugendlichen durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft vom Moment der Festnahme an eine mangelnde Bereitschaft, gesetzliche Vorschriften einzuhalten. Es ist immerhin positiv anzumerken, dass der Fall nicht unbemerkt blieb: Der türkische Menschenrechtsverein hat einen ausführlichen Bericht über den Vorfall gefertigt und Human Rights Watch hat deshalb einen offenen Brief an die türkische Regierung geschrieben. Die Rechtsanwälte der Jugendlichen haben förmliche Beschwerde wegen Folter erhoben. Entgegen der offensichtlichen Beweislage hat die Staatsanwaltschaft entschieden, die Ermittlungen gegen die beteiligten Polizisten nicht weiterzuverfolgen. Die Rechtsanwälte haben dagegen Rechtsmittel eingelegt.

Gefängnis für einen Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen

Am 10. August wurde der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen Mehmet Tarhan zur weiteren Verbüßung einer vierjährigen Haftstrafe wegen zwei Fällen von Befehlsverweigerung in das Militärgefängnis von Sivas zurückgebracht, aus dem er zuvor entlassen worden war. ai betrachtete ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen. Am 30. September soll ihm ein Gefängnisbeamter in Begleitung von mindestens drei Gefängniswärtern gewaltsam die Haare geschnitten und gegen seinen Willen den Bart rasiert haben, während ihn mindestens sieben Personen festhielten. Mehmet Tarhan berichtete, ihm seien dabei starke Schmerzen zugefügt worden; an seinen Armen und Beinen wurden Hautabschürfungen festgestellt. Zwei Militärärzte die Mehmet Tarhan am folgenden Tag untersuchten, erklärten jedoch, er habe am Körper keine Zeichen von Schlägen aufgewiesen; sie schickten ihn in das Militärgefängnis zurück.

Am 2. November hob das militärische Berufungsgericht die Verurteilung Mehmet Tarhans auf mit der Begründung, seine Homosexualität (weshalb er möglicherweise als ‚für den Militärdienst ungeeignet’ zu betrachten sei) sei nicht mit ‚geeigneten körperlichen Untersuchungen’ nachgewiesen worden. Der Fall wurde an das Militärgericht in Sivas zurückverwiesen, welches diesen Hinweis in seinem Urteil vom 15. Dezember jedoch ignorierte. Der Fall ist nunmehr erneut beim militärischen Berufungsgericht anhängig (vgl. AI Index: EUR 44/ 036/ 2005).

Verschlechterung der Menschenrechtslage in den südöstlichen und östlichen Provinzen

Die Anzahl bewaffneter Zusammenstöße zwischen der türkischen Armee und der bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) nahm weiterhin zu, was eine Erhöhung der Todesfälle auf beiden Seiten zur Folge hatte. In diesem Zusammenhang zeigte sich in der zweiten Jahreshälfte 2005, dass die Menschenrechte in den hauptsächlich von Kurden bewohnten südöstlichen und östlichen Provinzen des Landes immer weiter ausgehöhlt wurden.

Am 12. August besuchte Premierminister Recep Tayyip Erdoğan Diyarbakır und gab Erklärungen ab, in denen er die Existenz eines Kurdenproblems anerkannte. Kurdischen Meinungsführer und Menschenrechtsverteidiger begrüssten dies. Presseberichten zufolge hatte Erdoğan gesagt: „Das Kurdenproblem ist unser aller Problem, zuallererst meines. Die Fehler der Vergangenheit einfach abzutun geziemt sich nicht für starke Staaten. Die Lösung liegt in mehr Demokratie, bürgernäherer Gesetzgebung, mehr Wohlfahrt.“ (Radikal, 13. August 2005). In der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates soll Premierminister Erdoğan aber von den Vertretern des Militärs für seinen Ansatz kritisiert und gewarnt worden sein, den Begriff ‚Kurdenproblem’ weiterhin zu gebrauchen. Die offizielle Pressemitteilung über diese Sitzung hob die Notwendigkeit hervor, die Verfassungsprinzipien zu wahren – insbesondere die ‚Unteilbarkeit des Landes’ – und den Kampf gegen den Terror im Rahmen der Verfassung und der Gesetze fortzusetzen Es wurden verstärkte Anstrengungen gefordert, die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Provinzen anzugehen.

Einige der schlimmsten Vorfälle werden im Folgenden dargestellt, um die negativen Auswirkungen des sich verschärfenden Konfliktes zwischen der Armee und der PKK in den südöstlichen und östlichen Provinzen auf die Menschenrechte zu verdeutlichen.

Am 3. August wurde Hasan Şahin (68) tot in dem zum Dorf Aktuluk gehörigen Weiler Meytan in der Provinz Tunceli aufgefunden. Nach dem Autopsiebericht von Ende August war er erschossen worden. Hasan Şahin lebte, wie zu erfahren war, seit vielen Jahren in Deutschland und war zu einem Sommerurlaub nach Tunceli zurückgekehrt. Menschenrechtsverteidiger äußerten den Verdacht, dass seine Erschießung durch ‚unbekannte Täter’ den Sicherheitskräfte zuzuschreiben sei. Es war bekannt, dass Hasan Şahin Vater eines führenden PKK-Mitgliedes war. ai hat immer wieder die Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass Menschen aufgrund oppositioneller Aktivitäten naher Angehöriger Vergeltungsmassnahmen von staatlicher Seite ausgesetzt sind. Bis zum Jahresende gingen keine weiteren Informationen über den Fortgang der staatsanwaltlichen Ermittlungen in diesem Tötungsfall ein.

Es gab Berichte darüber, dass eine steigende Zahl von Zivilisten unter fragwürdigen Umständen durch Sicherheitskräfte erschossen worden sei. Als Erklärung gaben die Sicherheitskräfte regelmäßig ‚unterlassene Befolgung eines ‚Halt’-Aufrufs’ an. Da sorgfältige Untersuchungen dieser Vorfälle unterblieben – besonders in den südöstlichen und östlichen Provinzen – bleibt der Verdacht, dass viele der Getöteten Opfer exzessiver Gewaltanwendung oder unrechtmäßiger Tötung durch die Sicherheitskräfte geworden sind. So blieben zum Beispiel die genauen Umstände des Überfalles auf ein Haus in Van durch die Sicherheitskräfte in der Nacht vom 21. September unaufgeklärt, bei dem drei Personen zu Tode kamen. Dem Vater von Üzeyir Tasar (einem der Toten, der angeblich in einiger Entfernung von dem Haus erschossen wurde, das Ziel der Polizeioperation war) wurde später dem Vernehmen nach von Beamten im Sicherheitshauptquartier in Van mitgeteilt, die Erschießung seines Sohnes sei ein Versehen gewesen.

Mit Sorge hat ai Berichte von Rechtsanwälten in Van zur Kenntnis genommen, wonach Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Familien, die allem Anschein nach von Sicherheitskräften begangene Menschenrechtsverletzungen beklagten, ihre Beschwerden nicht weiter verfolgten oder Anzeigen zurückzogen, da sie weitere Repressalien befürchteten.

Tötungen von Zivilisten durch bewaffnete oppositionelle Gruppen

Am 6. Juli wurde der frühere stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Volkspartei (HADEP), Hikmet Fidan, in Diyarbakır ermordet. Für diese Tat wurde die PKK verantwortlich gemacht.

Am 16. Juli wurden bei einer Bombenexplosion in einem Minibus in der Stadt Kuşadası an der Ägäis fünf Personen (darunter zwei Touristen) getötet und weitere 13 verletzt. Zu dem Bombenanschlag bekannte sich eine Organisation, die sich selbst ‚Freiheitsfalken von Kurdistan’ nennt. Diese Organisation wird als Unterorganisation der PKK bezeichnet, Details hierzu sind jedoch nicht bekannt. Andere derartige Bombenanschläge, bei denen Zivilisten verletzt wurden, blieben überwiegend unaufgeklärt, könnten aber durchaus von bewaffneten Oppositionsgruppen ausgeführt worden sein.

Die Vorfälle von Şemdinli vom 9. November

Am 9. November wurde in der südöstlichen Stadt Şemdinli eine Bombe in eine Buchhandlung geworfen. Dabei wurde ein Mann, Mehmet Zahir Korkmaz, getötet und andere verletzt (vgl. AI Index: EUR 44/033/2005). Dem Eigentümer des Buchladens und anderen gelang es, den mutmaßlichen Bombenleger und zwei andere Männer festzuhalten, nachdem dieser in ein in der Nähe geparktes Auto gestiegen war, wo ihn die beiden anderen offenbar erwarteten. In dem Auto wurden Waffen, Listen mit Namen von politisch Oppositionellen, Informationen über Personen aus Şemdinli, Landkarten und weitere Dokumente entdeckt. Der Name des Buchhändlers (der in der Vergangenheit eine Gefängnisstrafe wegen PKK-Mitgliedschaft verbüßt hatte) stand angeblich auf der Liste. Von seinem Haus und seiner Arbeitsstelle wurden Lageskizzen gefunden, auch von anderen Örtlichkeiten waren ähnliche Skizzen vorhanden. Nachdem die Menge die drei Männer ergriffen hatte, stellte sich heraus, dass zwei von ihnen, Ali Kaya und Özcan İldeniz, Mitglieder der Sicherheitskräfte waren. Aus ihren Ausweisen ging hervor, dass sie Offiziere des Geheimdienstes der Gendarmerie in Zivil waren (JİT). Der mutmaßliche Bombenleger, Veysel Ateş, wurde in der Folge als PKK-Informant enttarnt (ein früheres PKK-Mitglied, das jetzt für den Geheimdienst der Gendarmerie arbeitete). Die drei Männer wurden von der Polizei abgeführt; der mutmaßliche Bombenleger wurde unter dem Vorwurf des Bombenanschlags und Mordes in Polizeihaft genommen.

Als der Staatsanwalt anschließend am Tatort Ermittlungen durchführte, wurde die versammelte Menge von einem Auto aus beschossen, wobei ein Zivilist, Ali Yılmaz, zu Tode kam und andere verletzt wurden. Die begonnenen Ermittlungen wurden aufgeschoben. Ein Gendarmerie-Unteroffizier, Tanju Çavuş, wurde wegen des Vorwurfs unverhältnismäßiger Gewaltanwendung mit Todesfolge festgenommen.

Der türkische Premierminister, der Justizminister und der Innenminister erklärten umgehend ihre feste Entschlossenheit, alle Dimensionen des Vorfalls aufklären und alle Anstrengung unternehmen zu wollen, um die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Justizminister Çiçek beschrieb dabei die gegenwärtige Epoche in der Türkei als ‚eine Zeit, in der solche Vorfälle nicht im Dunkeln bleiben’.

Wegen der ernstzunehmenden Hinweise auf eine direkte Verstrickung offizieller Stellen in den Vorfall von Şemdinli am 9. November und der damit aufgeworfenen Fragen wandte sich ai an die türkische Regierung, um die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission nach den UN-Grundsätzen über die wirksame Verhinderung von und Ermittlung wegen ungesetzlicher, willkürlicher und summarischer Hinrichtungen zu erreichen. Besondere Aufmerksamkeit wurde auf die Artikel gelenkt, die ‚eine gründliche, unverzügliche und unparteiische Untersuchung’ (Art. 9) durch ein autorisiertes Gremium verlangen, das ‚die Befugnis hat, alle für die Untersuchung notwendigen Informationen zu beschaffen’ und ‚die Kompetenz, alle mutmaßlich an solchen Hinrichtungen beteiligten öffentlichen Funktionsträger zum Erscheinen und zur Aussage zu verpflichten’, sowie ‚die Berechtigung, Zeugen einschließlich der vermutlich in den Fall verstrickten Beamten zu laden und Beweise zu verlangen’ (Art. 10). Ein weiterer Artikel, der in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist, wurde wörtlich zitiert:

‚In Fällen, in denen die üblichen Ermittlungsverfahren wegen fehlender Fachkenntnis und Unvoreingenommenheit, wegen der Bedeutung der Sache oder wegen erkennbarer Muster allgemein missbräuchlichen Verhaltens unzureichend sind, und in Fällen, in denen Beschwerden der Familie des Opfers über diese Mängel oder andere wesentliche Gründe vorliegen, soll die Regierung die Ermittlungen durch eine unabhängige Untersuchungskommission oder ein ähnliches Verfahren durchführen lassen. Die Mitglieder einer solchen Kommission sollen aufgrund ihrer Unvoreingenommenheit, Kompetenz und persönlichen Unabhängigkeit gewählt werden. Insbesondere sollen sie unabhängig sein von jeder Einrichtung, Agentur oder Person, die selbst Gegenstand der Untersuchung sein könnte. Die Kommission soll die Befugnis haben, alle für die Untersuchung notwendigen Informationen zu beschaffen und sie soll die Untersuchung gemäß den aufgeführten Grundsätzen durchführen’ (Art. 11).

ai forderte die Regierung auf, eine solche unabhängige Kommission einzusetzen, die folgende Punkte untersuchen soll: Die Tatmotive für den Vorfall, der als Mord zu qualifizieren ist und mutmaßlich von einem PKK-Informanten und zwei Angehörigen des Geheimdienstes der Gendarmerie begangen wurde; die Tötung eines zivilen Beobachters (und die Verletzung anderer) mutmaßlich begangen durch einen Unteroffizier der Gendarmerie; die Frage, ob der Vorfall aufgrund der Beweismittel, die in dem Auto gefunden worden waren, das vermutlich von den drei in den Bombenanschlag auf die Buchhandlung Verstrickten benutzt worden war, als Teil einer breiter angelegten Politik der Staatssicherheitsdienste angesehen werden muss, die darauf zielt, politische Opponenten in der Region zur Zielscheibe zu machen; von vermuteten Verbindungen zu einem früheren Bombenanschlag in Şemdinli am 1. November 2005, bei dem viele Zivilisten verletzt wurden und großer Sachschaden entstand; sowie der genauen Befehlskette und des Grades der Verstrickung von Führungspersonal der Gendarmerie und des Militärs in die Vorfälle vom 9. November.

Außerdem äußerte ai seine tiefe Besorgnis über die Erschießung von vier Demonstranten durch die Polizei bei Protestdemonstrationen gegen die Vorfälle von Şemdinli in Yüksekova, Hakkari (anderen Städten der Region) und in Mersin sowie über den Einsatz exzessiver Gewalt, die zur Verletzungen mehrerer Demonstranten führte.

Im Anschluss an die Ereignisse vom 9. November gab es eine Reihe überraschender Entwicklungen. Bemerkenswert war das anfängliche Zögern des Staatsanwaltes in Şemdinli, die Aussagen der beiden Gendarmerieoffiziere, Ali Kaya und Özcan İldeniz, aufzunehmen. Nachdem sie ihre Aussagen gemacht hatten, waren sie zunächst von dem Staatsanwalt sogar mangels Beweises freigelassen worden.

Der Prozess gegen die drei Verdächtigen wurde am 22. November dem Chefankläger beim Gericht für schwere Straftaten in Van (dem früheren Staatssicherheitsgericht, zuständig für ‚Terror’-Delikte und organisiertes Verbrechen) übertragen. Erstmalig wurde von der Staatsanwaltschaft Van gegen zwei Militärangehörige und einen Informanten wegen des Verdachts ‚versuchter Aktivitäten zur Zerstörung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität des Landes’ (Art. 302 Abs. 1 und 2 TStGB) und der ‚Bandenbildung zu diesem Zweck’ (Art. 316 Abs. 1 TStGB) ermittelt. Diese Artikel fallen unter das Gesetz zur Bekämpfung des Terrors (3713); die Strafandrohung lautet auf lebenslängliche Haft. Ende des Jahres dauerten die Ermittlungen noch an, ohne dass Anklage erhoben worden wäre.

Der Prozess gegen den Gendarmerie-Unteroffiziers Tanju Çavuş, der während der Ermittlungen am Tatort in die Menge gefeuert und Ali Yılmaz getötet hatte, wurde von dem Verfahren gegen die drei anderen Angeklagten abgetrennt. Dadurch dass der Staatsanwalt in Van diese Schießerei als gesonderten Vorfall behandelt und keine Ermittlungen angestellt hat, ob es eine Verbindung zwischen diesem und dem früheren Bombenanschlag gab, entschied er zugleich, dass der Fall nicht in den Aufgabenbereich des für terroristische Straftaten und organisiertes Verbrechen zuständigen Gerichts für schwere Straftaten fiel, und sandte die Akten an das für diesen Fall örtlich zuständige Amtsgericht in Hakkari. Anschließend wurde Tanju Çavuş von der dortigen Staatsanwaltschaft wegen Gewaltexzess mit Todesfolge angeklagt.

Am 23. November beschloss die Große Nationalversammlung der Türkei (das Parlament) auf Initiative des Premierministers, eine Untersuchungskommission zu den Şemdinli-Vorfällen einzusetzen. Dies wurde von ai kritisiert, weil die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission nicht als den UN-Prinzipien über die wirksame Verhinderung und Ermittlung ungesetzlicher, willkürlicher und summarischer Hinrichtungen entsprechend angesehen werden kann; denn sie verfügt nicht über die notwendigen Befugnisse, alle Unterlagen anzufordern und Zeugen zu laden.

Die Parlamentarische Menschenrechtskommission beschloss, eine eigene Untersuchung der Vorfälle vom 9. November in Şemdinli durchzuführen. Am Jahresende berichtete die Presse über diese Kommission und einige ihrer Stellungnahmen.