Ein falsches Wort

AMNESTY JOURNAL NOVEMBER 2006

EIN FALSCHES WORT – IN DER TÜRKEI WIRD SO KONTROVERS WIE SELTEN ZUVOR ÜBER MEINUNGSFREIHEIT DISKUTIERT

In der Türkei wird so kontrovers wie selten zuvor über Meinungsfreiheit diskutiert. Trotzdem häufen sich die Anklagen gegen Autoren und Journalisten.

Von Sabine Küper-Busch

Die Anklagen klingen absurd: Wegen »Verunglimpfung des Türkentums«, des »Staatsgründer Atatürk« oder des »Militärs« müssen sich derzeit 96 Schriftsteller und Journalisten in der Türkei vor Gericht verantworten. Ihnen drohen Gefängnis- und hohe Geldstrafen.

Mit einer ähnliche Anklage wurde bereits der bekannteste Schriftsteller des Landes, Orhan Pamuk, konfrontiert, der im Oktober den Literaturnobelpreis erhalten hat. Weil er in einem Interview über den Völkermord an den Armeniern sprach, musste er sich wegen »öffentlicher Herabsetzung des Türkentums« verantworten. Der Prozess wurde Anfang des Jahres eingestellt: Selbst der Justizminister fürchtete im Falle einer Verurteilung um das Renomee des Landes.

Weniger bekannte Autoren können nicht auf solche Einsichten hoffen. Zwar wurde am 21. September die Anklage gegen die Schriftstellerin Elif Safak fallen gelassen. Doch kurz darauf stand der Journalist Hrant Dink wegen »Beleidigung des Türkentums« erneut vor Gericht. In einem Interview mit der Agentur Reuters hatte der Herausgeber der türkisch-armenischen Wochenzeitung »Agos« im vergangenen Juli auf die Frage, ob es einen Völkermord an den Armeniern gab, mit »Ja« geantwortet. Bei einer Verurteilung muss Dink die im Oktober 2005 verhängte Bewährungsstrafe von sechs Monaten antreten.

»Die unterschiedlich ausfallenden Urteile in Zensur-Prozessen sind das Knirschen im morschen Gebälk«, erklärte der Journalist kürzlich und sprach damit aus, was viele türkische Intellektuelle derzeit denken. »In der Türkei wird angesichts anstehender Veränderungen und Reformen immer die Nationalismus-Karte gespielt. Es besteht jedoch kein Konsens mehr darüber. Und das ist gut für die Pluralität im Land.«

Tatsächlich wurde in der Türkei noch nie so viel und kontrovers über die Inhalte der »Verunglimpfungs-Paragraphen« diskutiert wie heute. Selbst die Regierung ist sich in dieser Frage nicht einig. Justizminister Cemil Cicek kritisierte Anfang Oktober, man könne doch Gesetze nicht wechseln wie Krawatten. Außenminister Abdullah Gül würde gerne den Paragraphen 301 über die »Beleidigung des Türkentums« ändern, um die Kritik seitens der EU zu mindern. Der Paragraph wurde im Juni vergangenen Jahres eingeführt, um alte Strafgesetze zu ersetzen. Die Reform galt als Voraussetzung für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU und sollte angeblich mehr Meinungsfreiheit schaffen.

Seitdem hat sich nicht viel verändert. Bereits im vergangenen Jahr hat ai darauf hingewiesen, dass der Artikel wegen seiner unbestimmten Formulierungen im Widerspruch zu den Grundrechten der Meinungsfreiheit und den internationalen Verpflichtungen der Türkei steht. ai fordert daher seine Abschaffung.

Dennoch werden die Bestimmungen weiterhin verteidigt. So erklärten Staatspräsident Ahmet Sezer und die Oberbefehlshaber der Streitkräfte angesichts des Anfang November erscheinenden EU-Fortschrittsberichtes, dass der Beitritt zur Union »zwar das Ziel der Türkei« sei, die »anti-seperatistische und laizistische Haltung aber das Fundament des Landes« darstelle. Damit markieren sie die Grenzen der Meinungsfreiheit auf ihre Weise: Der Staat soll weiterhin vor Kritik geschützt sein. Die gesellschaftliche Diskussion nimmt hingegen schon lange keine große Rücksicht mehr auf solche Ansichten – was viele juristische Kuriositäten zur Folge hat.

Der Journalistin Ipek Calislar drohen derzeit viereinhalb Jahre Haft wegen einer Passage in ihrer Biographie über die Ehefrau des Staatsgründers Atatürk. Darin wird geschildert, wie Latife Hanim in der Gründerphase der Republik ihren Mann vor der Ermordung durch Putschisten rettete. Atatürk flüchtete, verkleidet mit einem Schleier, aus dem Haus, während seine Ehefrau in Atatürk-Aufmachung auf einer Apfelsinen-Kiste stand, um durch ihre Silhouette die Angreifer zu täuschen. Obwohl die Schriftstellerin zwei Quellen für diese Anekdote anführt, wurde eine Verfahren wegen »Beleidigung Mustafa Kemal Atatürks und der Nation« eröffnet. Anlass war die Beschwerde eines besorgten Bürgers, der an die Staatsanwaltschaft schrieb: »Für jeden Mann, und vor allem für den siegreichen General Mustafa Kemal, dessen Mut anzuzweifeln sich niemand trauen sollte, bedeutet es die größte Beleidigung, ihm so ein Verhalten zu unterstellen.«

Wer das Militär oder den Sicherheitsapparat kritisiert und bei der so genannten Kurdenfrage die falschen Antworten gibt, ist besonders gefährdet. So wurde der Herausgeber der Zeitung »Azadiya Welat«, Hamdullah Yilmaz, wegen einer Zeitungsannonce mit dem Titel »Abdullah Öcalan repräsentiert meinen politischen Willen« zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht sah den Tatbestand der »Propaganda für eine Terrororganisation« erfüllt.

Birgül Özbaris von der prokurdischen Zeitung »Ülkede Özgür Gündem« muss für 21 Jahre hinter Gitter verschwinden, wenn sie alle sieben Prozesse, die gegen sie geführt werden, verlieren sollte. Das jüngste Verfahren wurde wegen »Verunglimpfung des Militärs« eröffnet, weil Özbaris in einem Text über eine Demonstration von Wehrdienstverweigerern Slogans wie »Schießt nicht auf Eure Brüder« zitierte.

Während sich viele türkische Journalisten lange Zeit nicht trauten, kritische Themen aufzugreifen, gibt es aber auch anderen Zeichen, die für den wachsenden Bedarf an Meinungsvielfalt sprechen. Das Massenblatt »Hürriyet«, das sonst oft als Sprachrohr des Militärs auftritt, veröffentlichte eine Reportage über Angehörige der PKK. In linken wie islamistischen Zeitungen wird mittlerweile, anders als noch vor wenigen Jahren, die Zensur auch dann kritisiert, wenn es sich um ideologisch anders denkende Autoren handelt.

Unberechenbar für Journalisten bleibt dabei allerdings der Umstand, dass immer wieder neue Schwierigkeiten auftauchen. So bestätigte der Programmdirektor des türkischen staatlichen Fernsehens TRT, Muharrem Sevil, im Juni gegenüber »Hürriyet«, dass die Zeichentrick-Serie »Winnie the Pooh« von Walt-Disney wegen »inhaltlichen Unstimmigkeiten mit den Werten der türkischen Kultur« abgesetzt wurde. Der Zeichentrickfilm handelt von dem Bären Winnie und dessen bestem Freund, dem Ferkel Piglet. Das Schwein gilt in den islamischen Interpretationen als unreines Tier.

In dieser Praxis spiegelt sich auch die Grenze der Toleranz des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der 1999 selbst wegen der Rezitation eines Gedichtes vier Monate im Gefängnis saß. Als der Karikaturist Musa Kart Anfang des Jahres Erdogan in einer harmlosen Zeichnung als Katze darstellte, wurde er sofort mit einer Klage wegen Beleidigung und mit Entschädigungsforderungen konfrontiert.

Die Satire-Zeitschrift »Penguen« solidarisierte sich daraufhin mit Kart, indem sie auf ihrer Titelseite »Das Reich der Tayyips«, eine Zoolandschaft mit Erdogan ähnelnden Tieren, präsentierte. Der Ministerpräsident verlor zwar die Klagen, was ihn aber nicht daran hinderte, ein weiteres Verfahren gegen den Zeichner Mehmet Cagcag von »Leman« zu erheben. Auf der Titelseite der Satire-Zeitschrift hatte er Erdogan als Zecke am Hals des türkischen Bürgers dargestellt. Das Verfahren soll im November beginnen.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul.