amnesty journal März 2007
Zeit der Entscheidung.
Hrant Dink und sein Traum von einer multikulturellen Türkei.
- Ein Gastkommentar von Cem Özdemir
Hrant Dink war einer der großen Intellektuellen der Türkei, ein überzeugter Demokrat, der sich für die Rechte von Minderheiten ebenso einsetzte wie für eine andere Erinnerungskultur seines Heimatlandes. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, woher er die Kraft und Geduld nahm, um angesichts der nicht endenden nationalistischen Angriffe und Ignoranz nicht zu verzweifeln – er wollte seinen großen Traum verwirklicht sehen.
Sein ganzes Schaffen und Wirken galt der Verwirklichung einer multikulturellen Türkei, mit einer offenen Grenze zu Armenien, einer Türkei, in der das armenische Erbe des Landes endlich gewürdigt wird. Die Frage des Völkermordes hat er keineswegs ausgeblendet. Aber er hat daraus eine bewundernswerte Konsequenz gezogen: Die Schmerzen der Geschichte waren für ihn kein Grund zur Klage, sondern vielmehr Auftrag, Türken und Armenier trotz aller Widerstände auf beiden Seiten einander näher zu bringen. Dink war eine lebende Provokation für die Nationalisten. Allein durch seine Existenz und seinen eigenen biographischen Hintergrund stellte er die Tabus und die geschlossene Gesellschaft der Türkei in Frage.
Nun wurde zwar ein 17-jähriger als mutmaßlicher Mörder festgenommen. Doch sind die ideologischen Hintermänner dieses Attentats nicht minder gefährlich, sie sind gar, ob gewollt oder nicht, die eigentlichen Drahtzieher der Tat. Die Kräfte, die sich durch eine weitere Demokratisierung der Türkei und einen Beitritt zur Europäischen Union in ihren Positionen bedroht fühlen und deshalb eine unerträgliche politische Hetze gegen Bürgerrechtler und liberale Reformer betreiben, sind mitverantwortlich für das furchtbare Verbrechen.
Dass Polizisten mit dem Festgenommen heldenhafte Erinnerungsfotos machten, ist dabei nur ein oberflächlicher Ausdruck eines viel tiefer gehenden Phänomens. Dink wurde auch deshalb ermordet, weil in der Türkei Nationalismus geschürt und ungestraft Hass gegen religiöse und ethnische Minderheiten verbreitet wird. Die Medien, Parteivorsitzende, der Staatspräsident, der Stabschef – sie alle haben harsche Worte gefunden, um die Tat zu verurteilen. Dabei übersehen sie aber geflissentlich die Verbindung zwischen dem Mord an Dink und ihren Kolumnen, Reden, Gesetzen und Taten, die die politische Atmosphäre nachhaltig vergiften. Es wirkt wie blanker Hohn, wenn sie die abscheuliche Tat verurteilen, aber gleichzeitig den absurden Artikel 301 über die angebliche »Beleidigung des Türkentums« verteidigen, der auch Hrant Dink mehrmals für nichts als seine Meinung vor Gericht brachte.
Die Türkei hat zweifellos beides hervorgebracht: Hrant Dink und einen 17-jährigen Jungen aus Trabzon, der ihn ermordete. 100.000 Menschen haben sich während des Trauermarsches in Istanbul hinter dem Slogan versammelt: »Wir sind alle Hrant Dink, Wir sind alle Armenier.« Doch die eigentliche Prüfung beginnt jetzt, wenn es gilt, diesen Geist in den Alltag der Türkei zu tragen, ohne sich durch den chauvinistischen Nationalismus zurückdrängen zu lassen.
Die Zukunft der Türkei hängt davon ab, ob sie mehr Hrant Dinks hervorbringt, die ihr Leben dem Einsatz für Minderheitenrechte und der Verwirklichung der Demokratie widmen – oder noch mehr 17-Jährige, die im blinden Hass bereit sind zu töten. Eine der wichtigsten Aufgaben muss es sein, den Ultra-Nationalismus zu bekämpfen und eine demokratische Zivilgesellschaft hervorzubringen. Es bleibt zu hoffen, dass sich jetzt viele im Land finden, die bereit sind, ihren Beitrag zur »Erziehung zur Demokratie« zu leisten. Denn die Europäische Union kann die Standards auf dem Weg zum Beitritt zwar vorgeben, tatsächlich umgesetzt werden müssen sie jedoch von der Regierung ebenso wie von der Gesellschaft.
Wer das Erbe Hrant Dinks bewahren möchte, muss sich aktiv für eine Entspannung zwischen der Türkei und Armenien einsetzen, die Diskriminierung von Christen in der Türkei scharf kritisieren und eine tabulose Debatte über den Vorwurf des Völkermordes an Armeniern und Assyrern 1915 zulassen.
Sein ganzer Stolz war die zweisprachige türkisch-armenische Wochenzeitung »Agos«, deren Chefredakteur er war. Nun gilt es, »Agos« auch weiterhin als Forum für diese Debatten zu nutzen und die Leserschaft am besten sogar zu vergrößern. Dies kann die armenische Gemeinschaft in der Türkei nicht alleine leisten. Deshalb ist zu hoffen, dass sich auch außerhalb der Türkei viele Leserinnen und Leser finden.
- Cem Özdemir
Der Autor wurde 1994 als erster Abgeordneter türkischer Herkunft für die Grünen in den Deutschen Bundestag gewählt. Seit 2004 ist er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Dort ist er u.a. Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheit und in der innerparlamentarischen EU-Türkei-Delegation.