AMNESTY INTERNATIONAL – Presseerklärung
AI Index: EUR 44/005/2013
Es ist Zeit für wirkliche Menschenrechtsreformen
22. Februar 2013
Amnesty International begrüßt Erklärungen der Regierung, wonach sie ein Paket von Gesetzesänderungen in das Parlament einbringen will, mit denen sie die Strafverfolgung gemäß internationaler Menschenrechtsstandards und Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs reformieren will.
Dieses Paket, das als das „Vierte Gesetzes-Paket“ bezeichnet wird, ist das letzte einer Reihe von Reformen der Regierung. Das ihm vorausgehende “Dritte Gesetzes-Paket” war vom Parlament im Juli 2012 verabschiedet worden. Neben anderen Veränderungen verbesserte es verschiedene Gesetze, mit denen häufig das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden war, oder hob sie auf.
Die im Jahr 2012 verabschiedeten Gesetzesänderungen entsprachen jedoch nicht der grundsätzlichen Reform, die im Rechtssystem notwendig ist, um die weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen insbesondere in Bezug auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu beenden. Die türkische Regierung muss daher die Gelegenheit dieses „Vierten Gesetzes-Pakets“ nutzen, um die grundlegenden Reformen durchzusetzen, die bisher hinausgezögert wurden.
Der Entwurf wurde bisher nicht veröffentlicht. Amnesty International hat jedoch Informationen erhalten, wonach das Gesetz wichtige Reformen enthalten wird, darunter die Aufhebung der Verjährung für Folter. Amnesty International fordert dies seit langem; es wäre ein bedeutender Fortschritt bei der Bekämpfung der Straflosigkeit von Staatsbediensteten, die Folter angewendet haben.
Weitere Berichte über den Entwurfstext legen jedoch nahe, dass er weniger ehrgeizig ist als er sein sollte. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass eine zunächst vorgesehene Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung nicht enthalten sein wird. Eine solche Lücke stünde in deutlichem Widerspruch zum erklärten Willen der Regierung, Verstöße gegen die Menschenrechte im Rechtssystem zu beseitigen. Sie wird darüber hinaus zu weiteren Verurteilungen der Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen, in denen die Weigerung der Türkei, dieses Recht anzuerkennen, als Verletzung des Rechts auf Religions- und Gewissensfreiheit (Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention) festgestellt wird.
Amnesty International fordert die türkische Regierung auf, folgende Schritte zu unternehmen, um die Gesetze in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards zum Recht auf freie Meinungsäußerung zu bringen:
Abschaffung von Gesetzen, die unmittelbar legitime freie Meinungsäußerungen beschneiden:
Die folgenden Artikel verfolgen keine gesetzlichen Ziele, die nicht bereits durch andere Artikel des Straf- oder Zivilrechts abgedeckt würden. Sie werden regelmäßig unter Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung angewendet und sollten aufgehoben werden: Artikel 301 des Strafgesetzes „Verunglimpfung der türkischen Nation“, Artikel 318 „Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst“, Artikel 215 „Loben einer Straftat oder eines Straftäters“, Artikel 125 „Beleidigung“.
Artikel 216 des Strafgesetzes „Aufstachelung zu Hass oder Feindschaft“ ist sehr allgemein und viel weiter gefasst, als es die zulässigen Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Völkerrecht vorsehen. In der Praxis wurde er benutzt, um Kritik an vorherrschenden Überzeugungen und Machtstrukturen strafrechtlich zu verfolgen. Er sollte dahingehend geändert werden, dass er den Anforderungen des internationalen Rechts genügt und somit nur angewendet werden kann, wenn sich die Aufwiegelung zum Hass bis zu Gewalt und Diskriminierung steigert.
Beendigung des verbreiteten Missbrauchs in Anti-Terror-Verfahren
Nach Kenntnis von Amnesty International wird der Entwurf Ergänzungen zu Artikel 6/2 „Veröffentlichen von Erklärungen einer terroristischen Organisation“ und Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes „Propaganda für eine terroristische Organisation“ enthalten um sicherzustellen, dass nur offene Unterstützung gewalttätiger Handlungen und Methoden strafrechtlich verfolgt werden. Diese Änderungen können den vielen Verfahren vorbeugen, die gegenwärtig unter Anwendung dieser Artikel eingeleitet werden und internationale Standards zur Freiheit der Meinungsäußerung verletzen.
Änderungen nur dieser Artikel sind jedoch nicht ausreichend, um die Möglichkeit – und die Praxis – missbräuchlicher Strafverfolgung nach der momentanen Anti-Terror-Gesetzgebung zu beseitigen. Vor allen Dingen muss die Regierung die vage und überbreite Definition von „Terrorismus“ im türkischen Recht ändern, damit sie mit internationaler Standards zu Rechtsklarheit und Rechtssicherheit übereinstimmt.
Ebenso sind die Bestimmungen zu ergänzen, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation unter Strafe stellen (Artikel 314 des Strafgesetzes) und verwandte Bestimmungen in Artikel 220, die Verurteilung von Personen ermöglichen „als wenn sie Mitglieder wären“, um sicherzustellen, dass nur dann Urteile ergehen können, wenn ein erkennbares strafrechtliches Vergehen nach diesen Artikeln vorliegt. Gegenwärtig werden unter diesen Artikeln Verfahren eingeleitet – und Urteile erwirkt – nur auf Grundlage von Schriftstücken, die eine Person verfasst hat, Verbindungen zu bestimmten politischen Gruppen oder der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen, was die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verletzt.
Amnesty International regt an, dass die türkische Regierung sich vor dem Einbringen des Gesetzesentwurfs umfassend mit der Zivilgesellschaft berät und das türkische Parlament die Vorlage sorgfältig überprüft um sicherzustellen, dass sie internationalen Menschenrechtsstandards entspricht.
Ende
Übersetzung durch die Türkei-Koordinationsgruppe. Verbindlich ist das englische Original: http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR44/005/2013/en