08. Dezember 2014 – Hakan Yaman war am 3. Juni 2013 in Istanbul auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als er einer Demonstration gegen Polizeigewalt begegnete. Kurz darauf wurde der 37-Jährige von Polizisten angegriffen, und zwar so brutal, dass sich sein Leben für immer veränderte. Ein Gespräch mit Hakan Yaman über die Folgen des Angriffs und die Frage, warum bis heute niemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde.
Können Sie sich noch an den gesamten Vorfall erinnern?
Es ist schwer für mich, die Ereignisse wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen. Erst wurde ich von einem Wasserwerfer angeschossen, dann traf mich aus zwanzig Metern Entfernung ein Tränengaskanister. Anschließend prügelten mehrere Polizisten auf mich ein. Einer von ihnen drückte mir einen harten Gegenstand ins Auge.
Sie waren nicht an der Demonstration beteiligt?
Nein, das alles geschah vor meiner Haustür. Es war wie ein Schlachtfeld, jeder hat etwas abbekommen. Auf der Straße waren Kinder, Erwachsene, Frauen mit Babys, alte Menschen. Ob man an der Demonstration beteiligt war oder nicht, spielte keine Rolle. Nachdem ich von der Kartusche getroffen und verprügelt worden war, lag ich auf dem Boden. Die Polizei hätte mich einfach auf die Wache bringen und weitere Schritte einleiten können. Aber das war nicht der Fall.
Stattdessen hat Sie die Polizei weiter drangsaliert.
Ja. ich hörte noch, wie einer der Polizisten sagte: “Der ist fertig, wir sollten ihn endgültig erledigen.” Dann zerrten sie mich in ein Feuer, wodurch ich Verbrennungen am ganzen Rücken erlitten habe. Dafür gibt es auch Zeugen. Als ich zu mir kam, habe ich mich zunächst totgestellt. Mir war bewusst, dass wenn ich aufstehe, mich ein Wasserwerfer überfahren oder etwas in der Art passieren würde.
Es gelang ihnen, sich aus den Flammen zu befreien. Demonstrierende brachten sie in ein Krankenhaus…
Ja, ich wurde noch am selben Tag zum ersten Mal operiert. Die Ärzte sagten meiner Familie, sie müsse mit allem rechnen, unter Umständen würde ich nicht überleben. Ich hatte einen Schädelbruch, ein Knochen war zersplittert, ebenso meine Wange. Ein Auge war eingedrückt, mein Gebiss gebrochen. Die Ärzte haben an fünf Stellen meines Körpers Knochen und Gewebe entnommen, um mein Gesicht zu rekonstruieren. Es war ein Wunder, dass ich gerettet wurde. Ich kann seitdem nicht mehr riechen und nicht mehr richtig sehen. Mir stehen noch weitere Operationen bevor. Ich lebe nur noch mit Antidepressiva und habe Schlafstörungen.
Der Vorfall wurde gefilmt. Woher kamen die Aufnahmen?
Es war eine Privatperson, die aus dem vierten Stock eines Hauses gefilmt hat. Sie hat auch als Zeuge ausgesagt. Die Videoaufnahmen dokumentieren, was die Polizei getan hat. Man kann darauf auch die Nummern erkennen, mit denen die Polizeihelme und der Wasserwerfer gekennzeichnet waren.
Sie haben Anzeige wegen versuchten Mordes erstattet. Wurden die Verantwortlichen mittlerweile belangt?
Meine Verletzungen wurden von der Gerichtsmedizin und in einem Bericht des Krankenhauses dokumentiert. Es ist erwiesen, dass die Polizei dafür verantwortlich ist. Dennoch sind die Personen, die mir das angetan haben, immer noch frei. Obwohl die Staatsanwaltschaft den Fall seit 15 Monaten untersucht, ist dabei noch nichts herausgekommen.
Warum konnte keiner der Polizisten identifiziert werden?
Die Polizei erklärte, die Kameras seien kaputt gewesen, deshalb würden keine richtigen Aufnahmen existieren. Außerdem hätten die Polizisten auf dem Weg zum Einsatz ihre Helme untereinander vertauscht, sodass man die Nummern nicht mehr einer konkreten Person zuordnen könne.
Welche Folgen hatte die Gewalttat für Sie?
Ich bin verheiratet und Vater von zwei Mädchen im Alter von 13 und acht Jahren. Bis zum Tag des Angriffs arbeitete ich als Busfahrer. Das kann ich jetzt nicht mehr. Außerdem mussten wir den Bus verkaufen, um einen Teil der Behandlungskosten zu tragen. Seit dem Vorfall wurde ich sechs Mal operiert und bin immer noch in Behandlung. Ich kann mich noch nicht orientieren. Ich weiß im Moment eigentlich gar nichts.
Erhalten Sie Unterstützung?
Es gab hilfsbereite Menschen, die meine Familie und mich unterstützt haben. Vom Staat habe ich jedoch nichts erhalten, auch nicht von der Krankenversicherung. Wenn es nur um mich ginge, wäre das alles kein Problem. Aber ich habe Kinder und eine Familie, und keiner denkt an sie. Die Kinder gehen ja noch zur Schule und müssen versorgt werden.
Wie hat Ihre Familie reagiert?
Zunächst hat mir niemand geglaubt, dass die Polizei für den Vorfall verantwortlich war. Am ersten Tag hat man den Kindern gesagt, ich hätte einen Verkehrsunfall erlitten. Sie waren schockiert, als sie mich gesehen haben. Meine Familie ist psychisch am Ende, auch die Kinder. Meine kleine Tochter wollte vier Monate lang keinen Kontakt zu mir. Sie hat sich erst nach vielen Operationen wieder angenähert, als sie mich wiedererkannt hat. Und jetzt lässt sie mich gar nicht mehr los.
Es gab während der Gezi-Park-Proteste zahlreiche Opfer von Polizeigewalt. Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Einige haben mich besucht, auch im Krankenhaus. Aber ich komme erst jetzt langsam zu mir und kann mich anderen Menschen gegenüber öffnen. Ich habe eine sehr harte Zeit hinter mir.
2013 war Ihr Fall Teil des Amnesty-Briefmarathons. Dabei wurden mehr als Hunderttausend Briefe verschickt. Hat diese Aktion etwas bewirkt?
Es kamen unglaublich viele Briefe aus allen Teilen der Welt an, nicht nur bei mir, sondern auch beim Justizministerium. Das hat mir sehr geholfen. Ich bin dankbar für die Unterstützung und bin mir der Arbeit und Mühe von Amnesty International bewusst. Ich fühle, dass ich nicht alleine bin. Auf der ganzen Welt ist nun bekannt, was mir widerfahren ist. Dass alle mitkämpfen, gibt mir Hoffnung.
Interview: Anton Landgraf