Amnesty International
Interview mit Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International, 19.07.2016
“Die Todesstrafe ist ein Symbol von autoritären Regimen”
Nach dem Putschversuch in der Türkei geht die Regierung mit äußerster Härte gegen mutmaßliche Unterstützerinnen und Unterstützer des Umsturzes vor. Sogar über die Wiedereinführung der Todesstrafe soll im Parlament diskutiert werden. Ein Interview mit Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International.
Interview: Ralf Rebmann
Wie ist die Stimmung in der Türkei nach dem Putschversuch?
Sehr angespannt. Nach den jüngsten Zahlen, die die Regierung am Montag veröffentlicht hat, gab es mindestens 145 zivile Opfer. Die Bevölkerung ist geschockt und muss sich erst bewusst machen, was alles passiert ist. Gleichzeitig gibt es Gerüchte, dass ein anderer Teil des Militärs diese Woche einen erneuten Putschversuch starten könnte. Die Regierung hat deshalb ihre Unterstützerinnen und Unterstützer aufgerufen, weiter zu demonstrieren und auf den Straßen zu bleiben. Leider beobachten wir, dass der Widerstand in Gewalt umgeschlagen ist. Regierungsfreundliche Mobs attackieren mutmaßliche Unterstützerinnen und Unterstützer des Predigers Fethullah Gülen, religiöse Minderheiten und andere säkulare oder kritische Gruppen.
Tausende Beamtinnen und Beamte und Polizistinnen und Polizisten wurden zwischenzeitlich entlassen, Tausende Militärangehörige festgenommen. Welche Bedenken hat Amnesty angesichts dieser Entwicklungen?
Zunächst muss man sagen, dass es absolut richtig ist, Personen, die hinter dem Putschversuch stecken, zur Verantwortung zu ziehen. Soldaten haben willkürlich auf Zivilistinnen und Zivilisten geschossen. Diese Taten müssen jedoch in einem fairen und rechtstaatlichen Verfahren beurteilt werden. Seit kurzem sehen wir Bilder und Videos von festgenommenen Soldaten – lediglich in Unterwäsche und manche mit sichtbaren Wunden. Es gibt viele Indizien, dass die Haftbedingungen schlecht sind und die Rechte der Festgenommen nicht beachtet werden.
Wie beurteilen Sie die Aussage von Präsident Erdoğan, einer Wiedereinführung der Todesstrafe zustimmen zu wollen?
Diese Aussage ist unglaublich gefährlich. Die Todesstrafe ist ein Symbol von Militärregierungen und autoritären, repressiven Regimen. Nach dem Militärputsch 1980 wurden in der Türkei 50 Menschen hingerichtet, Zehntausende festgenommen, es gab unzählige Fälle von Folter und willkürlichen Tötungen. Es wäre ironisch, wenn eine zivile Regierung, die gerade den Gefahren eines Militärputsches entkommen ist, die Todesstrafe wählt. Die Wiedereinführung würde zudem gegen alle Vereinbarungen verstoßen, die die Türkei auf internationaler Ebene und mit der EU getroffen hat – ganz konkret gegen das Protokoll 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Erdoğan hat betont, dass er sich in dieser Entscheidung nach dem “Willen des Volkes” richten will.
Es ist überhaupt nicht klar, dass die Todesstrafe der Wille des Volkes ist. Was wir gesehen haben, ist eine Minderheit, die sehr laut und sichtbar danach gerufen hat. Ich glaube, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung mit Entsetzen auf eine mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe schaut. Rein rechtlich bedarf es zudem einer Verfassungsänderung, und die Haltung der politischen Parteien dazu ist nicht ganz eindeutig. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP hat sich leider nicht konsequent dagegen ausgesprochen und sagte, er würde den Vorschlag der Regierung abwarten. Die nationalistische MHP befürwortet die Todesstrafe wahrscheinlich. In jedem Fall darf die Regierung nicht nach den Wünschen eines wütenden Mobs handeln. Damit würde sie sich von aller Rechtsstaatlichkeit verabschieden.
Welche Konsequenzen müssen Regierungskritikerinnen und Regierungskritiker und Journalistinnen und Journalisten im Land nun fürchten?
Seit den Gezi-Protesten und den Korruptionsvorwürfen hat die türkische Regierung in einer immer autoritäreren Art und Weise reagiert. Sie hat alles dafür getan, dass regierungskritische Stimmen unterdrückt werden. Auch hier stehen Journalistinnen und Journalisten und mutmaßliche Sympathisantinnen und Sympathisantinnen von Fethullah Gülen im Fokus. Dass am Wochenende mehr als 2700 Richterinnen und Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte suspendiert wurden, also rund ein Fünftel aller Beamtinnen und Beamten, ist ebenfalls sehr beunruhigend. Wir haben diese Entwicklungen bereits zuvor beobachtet. Das Ausmaß hat seit dem Putschversuch jedoch deutlich zugenommen.