Interview mit Andrew Gardner
Türkei: Rechtsstaatliche Prinzipien werden missachtet
05. Oktober 2016 – In der Türkei hat sich die Menschenrechtslage seit Einführung des Ausnahmezustands nach dem Putsch im Juli 2016 zusehends verschlechtert. Nun hat Präsident Erdogan sogar angekündigt, den Ausnahmezustand um weitere drei Monate zu verlängern. Ein Gespräch mit Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International.
Seit dem 21. Juli gilt in der Türkei der Ausnahmezustand. Unzählige Personen wurden seither suspendiert oder festgenommen. Wie steht es um den Rechtsstaat in der Türkei?
Es ist legitim, dass die türkische Regierung Maßnahmen ergreift, um die Verantwortlichen für den Putschversuch zu finden und dafür sorgt, dass kein weiterer unternommen wird. Ein Putschversuch würde jedes Land erschüttern. Es ist jedoch kein Widerspruch, diese Maßnahmen durchzusetzen und sich gleichzeitig an Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu halten. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands wurden jedoch unzählige Personen suspendiert, entlassen oder festgenommen. Der Ausnahmezustand macht es den Behörden noch einfacher, jenseits der parlamentarischen Kontrolle und Justiz gegen kritische Stimmen vorzugehen. Rechtsstaatliche Prinzipien werden missachtet und nicht eingehalten. Außerdem ist der Zustand des Justizwesens äußerst bedenklich.
Derzeit laufen Verfahren gegen zahlreiche Journalistinnen und Journalisten wegen angeblicher Terrorunterstützung. Können sie auf ein faires Verfahren hoffen?
Es ist fragwürdig, ob im Moment ein faires Verfahren gewährleistet werden kann. Mehr als ein Fünftel aller türkischen Richterinnen und Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälten wurde entlassen oder sogar festgenommen. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen für ein Justizwesen, das unabhängig sein muss, um funktionieren zu können. Wir haben die Sorge, dass selbst grundlegende Aspekte eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht beachtet werden, so zum Beispiel das Recht, eine Anwältin oder einen Anwalt sprechen zu dürfen. Zudem sind derzeit mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten in Untersuchungshaft. Es sieht so aus, dass die Regierung ihre Strategie, Journalistinnen und Journalisten wegen regierungskritischer Artikel vor Gericht zu bringen, fortsetzt, nur in einem sehr viel größeren Ausmaß als bisher.
Amnesty International hat die türkischen Behörden dafür kritisiert, Foltervorwürfe gegenüber mutmaßliche Unterstützerinnen und Unterstützer des Putsches nicht zu untersuchen. Hat die Regierung inzwischen reagiert?
Vertreter des Justizministeriums haben uns mitgeteilt, dass ihnen derzeit keine Verfahren bekannt seien, in denen solche Vorwürfe untersucht würden. Wir fordern, dass festgestellt wird, ob tatsächlich Personen in Haft gefoltert wurden, und ob bestimmte Regeln zur Verhinderung von Folter eingehalten wurden. Aus diesem Grund müssen unabhängige Beobachterinnen und Beobachter Zugang zu den jeweiligen Haftanstalten bekommen. Die türkischen Behörden haben erst vor kurzem eine Recherche-Reise des UNO-Sonderberichterstatters über Folter auf unbestimmte Zeit verschoben. Das ist enttäuschend. Lediglich das “Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe” konnte die Türkei bereits besuchen. Wir hoffen, dass der Bericht des Komitees bald veröffentlicht wird. Da die türkischen Behörden der Veröffentlichung jedoch zustimmen müssen, ist nicht klar, wann dies geschieht.
Amnesty geriet durch die Folteranschuldigungen in die Schusslinie regierungstreuer Medien. Was wurde der Organisation vorgeworfen?
Der Justizminister warf uns vor, Teil der von den Behörden als Terrororganisation bezeichneten Fethullah-Gülen-Bewegung zu sein. Manche Medien berichteten sogar, dass Amnesty Geld für mutmaßliche Putschistinnen und Putschisten sammeln würde. Diese Behauptungen sind alle unbegründet. Wir reagieren darauf, indem wir unsere Arbeit fortführen, unabhängig und objektiv vor Ort recherchieren, Zeuginnen und Zeugen befragen und auch mit den türkischen Behörden im Dialog bleiben. Die Attacke gegen Amnesty ist lediglich ein Beispiel dafür, wie hoch der Druck für die türkische Zivilgesellschaft im Moment ist. Für viele lokale Aktivistinnen und Aktivisten, Rechtsbeistände und NGOs ist die Situation weitaus schwieriger als für Amnesty. Auch deshalb haben wir eine Verpflichtung, unsere Arbeit weiterzumachen.
Fragen: Ralf Rebmann