Keine strafrechtliche Verfolgung abweichender Meinung!

Keine strafrechtliche Verfolgung abweichender Meinung!

Das Recht auf freie Meinungsäußerung muss gewährt werden

Diese Übersetzung der Koordinationsgruppe Türkei ist eine gekürzte Fassung des englischen Berichts „Turkey: Decriminalize Dissent. Time to Deliver on the Right to Freedom of Expression“, AI Index EUR 44/001/2013 vom März 2013. Bei der Kürzung wurden insbesondere die sehr ausführlichen Endnoten nicht vollständig übernommen, auf die wörtliche Wiedergabe von Gesetzestexten verzichtet und eine Reihe von Einzelheiten in den Fallbeschreibungen weggelassen. Diese Informationen können im englischen Text nachgelesen werden. Verbindlich ist das englische Original.

Einführung

Die Meinungsfreiheit wird in der Türkei immer wieder angegriffen. Jedes Jahr werden Hunderte Strafverfahren missbräuchlich gegen politische Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Rechtsanwälte und andere angestrengt. Die Anklagen kennzeichnen eines der hartnäckigsten Menschenrechtsprobleme in der heutigen Türkei. Meist werden sie gegen Personen erhoben, die den Staat kritisieren oder bei heiklen Themen eine andere als die offizielle Meinung äußern. Zwar sind Fortschritte zu erkennen: Frühere Tabu-Themen, wie Kritik an der Armee, die Situation von Minderheiten in der Türkei oder die Frage, ob die Massaker von 1915 an den Armeniern als Völkermord anzusehen sind, können offener diskutiert werden. Der Staat bedient sich jedoch weiterhin problematischer Gesetze, um Staatsbedienstete vor legitimer Kritik zu bewahren und abweichende Meinungsäußerungen zu umstrittenen Themen strafrechtlich zu verfolgen. Dazu zählen insbesondere der Konflikt zwischen der bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem türkischen Militär, und die kurdische Frage im weiteren Sinn. Eine besonders negative Entwicklung in den letzten Jahren ist die zunehmend willkürliche Anwendung der Anti-Terror-Gesetze. Dadurch werden legitime Aktivitäten wie politische Reden, kritisches Schreiben, Teilnahme an Demonstrationen und Verbindungen zu anerkannten politischen Gruppen und Organisationen verfolgt. Dadurch werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit verletzt.

Damit dieser Gesetzesmissbrauch ein Ende findet, muss die Türkei die unzureichende Verfassungsvorschrift zum Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung sowie die Regelungen im Strafrecht und im Anti-Terror-Gesetz überarbeiten. Die Reformpakete der letzten Jahre haben den notwendigen grundsätzlichen Wandel nicht herbeigeführt. Das bisher letzte, dritte „Gesetzesreform-Paket“, das im Juli 2012 verabschiedet wurde, brachte zwar einige begrenzte Verbesserungen: Dies gilt insbesondere für Vergehen, mit denen Journalisten belangt wurden, die über laufende Ermittlungen und Strafverfahren berichteten. Darüber hinaus führte es zur bedingten Aussetzung vieler Verfahren, in denen das Recht auf freie Meinungsäußerung bedroht war, und reduzierte das Strafmaß in anderen Vorschriften . Es behandelte jedoch nicht das tiefer liegende Problem: Die Definition der jeweiligen Vergehen in den Gesetzen verletzt entweder direkt das Recht auf freie Meinungsäußerung, oder sie ist so breit und allgemein formuliert, dass sie missbräuchlicher Strafverfolgung Tür und Tor öffnet.

Regierungsäußerungen ließen zunächst den Schluss zu, dass das „Vierte Gesetzesreform-Paket“ die strafrechtliche Verfolgung von Meinungsäußerungen internationalen Menschenrechtsstandards und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anpassen würde. Der Gesetzesentwurf, der jetzt dem Parlament vorliegt, geht jedoch nicht annähernd weit genug. Zwar ändert er fünf Straftatbestände, die häufig auf eine Weise benutzt werden, die das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt . Viele Gesetze bleiben jedoch unverändert, obwohl sie unmittelbar die Meinungsfreiheit einschränken und daher vollständig aufgehoben werden sollten. Andere Vorschriften, die das Recht auf freie Meinungsäußerung durch viel zu dehnbare Formulierungen bedrohen, werden durch die Vorlage ebenfalls nicht in Übereinstimmung mit internationalen Standards gebracht. Sollte das Parlament das Gesetz in seiner aktuellen Form verabschieden, wäre dies eine weitere verpasste Gelegenheit für eine echte Menschenrechtsreform.

Grundlage für diesen Bericht sind zahlreiche Prozessbeobachtungen und Auswertungen hunderter von Fällen, in denen das Recht auf freie Meinungsäußerung bedroht ist. Außerdem wurden Gespräche mit Organisationen der Zivilgesellschaft, Rechtsanwälten, Wissenschaftlern, verfolgten Personen und Staatsbediensteten geführt. Der Bericht enthält eine Analyse der gegenwärtigen Gesetzeslage und untersucht die Anwendung der Gesetze, die das Recht auf freie Meinungsäußerung am meisten bedrohen. Darüber hinaus enthält der Bericht Empfehlungen an die türkische Regierung und das Parlament, welche Artikel im Strafrecht und in den Anti-Terror-Gesetzen aufgehoben oder grundlegend überarbeitet werden sollten, damit das türkische Recht den internationalen Standards zum Recht auf freie Meinungsäußerung genügt.

Der Schutz der Meinungsfreiheit im internationalen Recht

Die Türkei ist sowohl dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR) als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten. Beide garantieren in den Artikeln 19 bzw. 10 das Recht auf freie Meinungsäußerung. Der Staat kann dieses Recht nach Maßgabe der genannten Konventionen in gewisser Weise beschränken. Damit gewährleistet ist, dass die Beschränkungen mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten im Einklang stehen, müssen drei Kriterien erfüllt sein:
• Die Beschränkungen müssen zum Ziel haben, die Rechte oder den Ruf anderer, die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder Sittlichkeit zu schützen
• Die Beschränkungen müssen durch Gesetz bestimmt werden
• Sie müssen notwendig und verhältnismäßig in Bezug auf das zu erreichende Ziel sein

Nach Auffassung von Amnesty International genügen viele der Artikel des türkischen Strafrechts, die zur Beschränkung der Meinungsfreiheit herangezogen werden, diesen Kriterien nicht.

In Ausnahmefällen verpflichten internationale Menschenrechtsstandards die Staaten, bestimmte Meinungsäußerungen zu beschränken. Beispielsweise fordert Artikel 20 des IPBPR:
„(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.
(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.“
Auch diese Einschränkungen müssen die oben angeführten Kriterien erfüllen. Insbesondere sollen Staaten die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der jeweiligen Beschränkung nachweisen .

Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen überwacht die Umsetzung des Paktes und hat Leitlinien für die Interpretation von Artikel 19 herausgegeben . Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat zahlreiche Strafverfahren in der Türkei überprüft und dabei wiederholt Verletzungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung festgestellt. Im Jahr 2012 betrafen mehr als elf Prozent der vom Gerichtshof behandelten Fälle die Türkei. Nach Russland befindet sich die Türkei auf Platz zwei der 47 Mitgliedsstaaten. In acht von 123 Verfahren gegen die Türkei wurde festgestellt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden war – die höchste Zahl unter allen Mitgliedsstaaten .

Die Prozesse, die in diesem Bericht untersucht werden, gefährden noch weitere durch die Konventionen geschützte Menschenrechte. So können vor allem Anklagen aufgrund der Teilnahme an friedlichem Protest oder Verbindung zu anerkannten Organisationen das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verletzen. Diese Freiheiten sind in den Artikeln 21 und 22 des IPBPR und Artikel 11 der EMRK enthalten .

Wenn Behörden gezielt einzelne Personen, die entweder bestimmte politische Meinungen äußern oder die einer bestimmten Gruppe angehören, in ihrer freien Meinungsäußerung beschränken, kann dies außerdem gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen .

Die Meinungsfreiheit ist in der Türkei durch die Verfassung geschützt. Allerdings sind die Beschränkungen dieser Freiheit weitreichender als es das internationale Recht zulässt. Zu den Gründen für eine solche Beschränkung zählt z.B. [der Schutz] „… der grundlegenden Merkmale der Republik und die Sicherung der unteilbaren Einheit des Staates mit seinem Staatsgebiet und seiner Nation“. Artikel 26 der türkischen Verfassung besagt:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung und Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf andere Weise allein oder zusammen mit anderen zu äußern und zu verbreiten. Dieses Recht schließt die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe von Behörden ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, dass die Übertragung durch Radio, Fernsehen, Kino und ähnliche Mittel einem Genehmigungsverfahren unterworfen wird.

Die Ausübung dieser Freiheiten kann zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und öffentlichen Sicherheit, der grundlegenden Merkmale der Republik und der unteilbaren Einheit des Staates mit seinem Staatsgebiet und seiner Nation, der Verbrechensverhütung, der Bestrafung von Straftätern, dem Schutz von korrekt eingestuften Staatsgeheimnissen, dem Schutz des guten Rufes, der Rechte anderer und deren Privat- und Familienleben, dem Schutz von Berufsgeheimnissen gemäß gesetzlicher Vorschrift oder der ordnungsgemäßen Funktion des Gerichtswesens Einschränkungen unterworfen werden.“

Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen hat eindeutig klargestellt, dass Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung nur wegen der ausdrücklich in der Konvention aufgeführten Gründe zulässig sind: Nationale Sicherheit, Öffentliche Ordnung, Schutz der Volksgesundheit und der öffentlichen Sittlichkeit, und Schutz der Rechte und des guten Rufes anderer . Zu den zulässigen Beschränkungen zählen solche, die gemäß Artikel 20 des IPBPR zwingend notwendig sind, um das Eintreten für Hass, der direkt zu Gewalt oder Diskriminierung aufstachelt, zu unterbinden. Andere Gründe können von vornherein Beschränkungen nicht rechtfertigen. Es ist Aufgabe der Regierung nachzuweisen, dass Beschränkungen rechtmäßig und unbedingt notwendig sind, um eines der zulässigen Ziele zu erreichen.

Unabhängig von den Gesetzesreform-Paketen hat die türkische Regierung ihre Absicht bekundet, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Amnesty International drängt die Regierung und das Parlament, den verfassungsrechtlichen Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Artikel 26 zu überarbeiten, so dass er im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsstandards steht.

Strafprozesse bedrohen die Meinungsfreiheit

In diesem Abschnitt werden die Artikel des türkischen Strafrechts untersucht, die am häufigsten zur Einschränkung der freien Rede benutzt werden. Beispiele zeigen, wie die Meinungsfreiheit unter Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Türkei beschränkt wird. Alle betroffenen Artikel entstammen dem gegenwärtigen Strafrecht, das im Jahr 2005 in Kraft trat . In vielen Fällen sind die Formulierungen der Artikel denjenigen der vorher geltenden Gesetze sehr ähnlich. Die Besorgnis von Amnesty International bezüglich dieser Gesetze reicht daher lange zurück.

Mehrere Bestimmungen des türkischen Strafrechts beschränken die Meinungsfreiheit auf eine Weise, die nach internationalen Standards unzulässig ist. Andere wiederum sind so weit gefasst, dass sie eine missbräuchliche Anwendung geradezu herausfordern. Die Gesetzesauslegung durch Richter und Staatsanwälte ist häufig willkürlich und steht im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen der Türkei, Freiheit der Meinungsäußerung und ein ordentliches Gerichtsverfahren sowie die Gleichheit vor dem Gesetz zu gewährleisten.

Seit einiger Zeit haben Richter und Staatsanwälte dazu tendiert, einige dieser Strafrechtsvorschriften eher gemäß internationaler Standards auszulegen. Kritische Bemerkungen über das Massaker an den Armeniern 1915 haben nicht mehr in allen Fällen strafrechtliche Konsequenzen. Die Bezeichnung „Kurdistan“ oder die Anrede des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan als „Herr“ (sayın, eine häufig benutzte höfliche Anrede, die in etwa „Herr“ entspricht) werden nun sehr viel seltener verfolgt als noch vor fünf Jahren . Immer weniger der eingeleiteten Verfahren führen zu Verurteilungen. Allerdings zieht die Strafverfolgung gleicher Äußerungen nach wie vor verschiedene Konsequenzen nach sich: Vor manchen Gerichten kommt es zu Verurteilungen, vor anderen zu Freisprüchen. Die unterschiedliche Auslegung durch Gerichte führt zu Rechtsunsicherheit.

Es kommt vor, dass gleich lautende Äußerungen vor unterschiedlichen Gerichten nach unterschiedlichen Strafrechtsvorschriften verhandelt werden. In einigen Fällen werden Äußerungen zwar nicht als strafrechtlich relevant, aber als Verstoß gegen die schwerwiegenderen Anti-Terror-Gesetze eingestuft. Beispielsweise sah ein Gericht die Anrede von Abdullah Öcalan mit „sayın” als von der Meinungsfreiheit geschützt an, ein anderes wertete dies dagegen als terroristische Propaganda .

Viele, die wegen gewaltloser Vergehen angeklagt wurden und deren Fälle einen Bezug zur Meinungsfreiheit aufwiesen, wurden freigesprochen. Verurteilungen führten meistens zu Geld-, selten zu Gefängnisstrafen. Trotzdem wirken sich diese Verfahren negativ aus, weil sie häufig als Schikane der Justiz wahrgenommen werden. Gegen viele der Personen, deren Fälle in diesem Bericht geschildert werden, wurde mehrfach Anklage zur selben Zeit erhoben. Dies trägt zu einem Klima der Unterdrückung bei: Sich zu umstrittenen oder sensiblen Themen zu äußern und somit sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen, birgt immer auch das Risiko der Strafverfolgung.

Artikel 301: Verunglimpfung der türkischen Nation

Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes ist seit langem eine der problematischsten Vorschriften in Bezug auf die Meinungsfreiheit. Bis 2008 stellte der Artikel die „Verunglimpfung des Türkentums“ unter Strafe. Reformen ersetzten diese Formulierung durch die „Verunglimpfung der türkischen Nation, der türkischen Republik, des türkischen Parlaments (TBMM), der Regierung der türkischen Republik und der staatlichen Justizorgane“. Außerdem müssen nun Staatsanwälte vor Einleitung eines Strafverfahrens die Genehmigung des Justizministers einholen . Beide vordergründig dem Schutz der Meinungsfreiheit dienenden Maßnahmen befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als unzureichend. Im Verfahren Altuğ Taner Akçam gegen die Türkei entschied das Gericht, dass „ein System vorheriger Genehmigung im Einzelfall durch den Justizminister keine dauerhafte Lösung sei, welche die Umsetzung der Maßstäbe der Konvention in das türkische Recht und die Rechtspraxis ersetzen kann“ . Der Gerichtshof stellte weiterhin fest, dass es „trotz des Austauschs des Begriffs ‚ Türkentum‘ durch den Begriff ‚Türkische Nation‘ keine Änderung oder wesentlichen Unterschied in der Interpretation dieser Konzepte zu geben scheint, da sie vom Kassationsgericht in derselben Weise ausgelegt werden. Auch die den Begriff ergänzende und erklärende Formulierung des Gesetzgebers in der Gesetzesvorschrift führt nicht zu einer wesentlichen Änderung und trägt daher nicht zu einem umfangreicheren Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei“ .

In der Praxis hat die Genehmigungspflicht dazu geführt, dass Artikel 301 seltener zur menschenrechtswidrigen Verfolgung der Meinungsfreiheit angewendet wurde. Vollständig unterbunden hat sie die Verfolgung jedoch nicht, wie der Fall von Temel Demirer zeigt. Beamte des Justizministeriums gaben gegenüber Amnesty International an, dass der Minister im Jahr 2011 in 8 von 305 Fällen die Aufnahme der Strafverfolgung genehmigt hat .

Temel Demirer ist Wissenschaftler und Menschenrechtsverteidiger. Am 20.Januar 2007 hielt er eine Rede bei einem Protest gegen die Ermordung von Hrant Dink am Tag zuvor. Dabei sagte er, Hrant Dink sei nicht nur ermordet worden, weil er Armenier war, sondern auch weil er öffentlich über die Massaker an den Armeniern in der Türkei im Jahr 1915 gesprochen habe. Er stellte außerdem Mutmaßungen über die Rolle des Staates bei dem Mord an. Am 24. Dezember 2007 wurde er nach Artikel 301 wegen „Verunglimpfung der türkischen Republik“ und nach Artikel 216 wegen „Aufstachelung zu religiösem oder rassischem Hass“ angeklagt. Temel Demirer focht die Genehmigung zur Strafverfolgung des Justizministers an. Er argumentierte, der Justizminister habe in die Unabhängigkeit der Justiz eingegriffen, indem er öffentlich äußerte: „Ich werde nicht zulassen, dass der Staat ein Mörder genannt wird.“ Dadurch habe er die Justiz offenbar angewiesen, aktiv zu werden.

Bis zur Entscheidung des höchsten Verwaltungsgerichts, des Staatsrats (Danıştay), über die Beschwerde wurde das Verfahren ausgesetzt. Bei einer Verhandlung am 19. Februar 2013 entschied das Gericht jedoch, dass das Verfahren nach den Bestimmungen des „dritten Gesetzesreform-Pakets“ für weitere drei Jahre ausgesetzt bleiben und dann eingestellt werden sollte, falls Temel Demirer in dieser Zeit keinen Gesetzesverstoß im Zusammenhang mit Meinungsäußerungen begehen würde. Temel Demirer hatte ein abschließendes Urteil seitens des Gerichtes gefordert. Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes wiederholte er öffentlich die Worte von 2007. Zur Zeit ist nicht bekannt, ob der Staatsanwalt eine Genehmigung des Justizministers für eine weitere Strafverfolgung nach Artikel 301 beantragen wird. (Darstellung gekürzt. Für weitere Einzelheiten siehe englische Fassung)

Artikel 301 stellt auch nach der teilweisen Reform aus dem Jahr 2008 weiterhin eine direkte, unzulässige Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung dar. Die einzige Lösung, mit der die Türkei ihre Verpflichtungen nach internationalem Recht erfüllen kann ist die Aufhebung von Art. 301.

Artikel 318: Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst

Artikel 318 des türkischen Strafgesetzes stellt die „Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst“ unter Strafe. Das Strafmaß beträgt maximal zwei Jahre, es kann um ein weiteres Jahr erhöht werden, wenn das Vergehen mittels der Medien begangen wird. Der Artikel wird häufig verwendet, um die Unterstützung für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durch Demonstrationen auf der Straße oder durch Zeitungsartikel zu sanktionieren, wie die Verfahren gegen Halil Savda zeigen .

Artikel 318 genügt nicht den strengen internationalen Anforderungen an zulässige Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Für das vorgebliche Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit ist die Vorschrift zu weit gefasst und der Zusammenhang zur nationalen Sicherheit zu vage, um solch umfassende Beschränkungen zu rechtfertigen. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, dessen Förderung mit dieser Regelung direkt angegriffen wird, ist ein international anerkanntes Menschenrecht .

Artikel 318 und sein Vorgänger, Artikel 155, werden seit langem auch von internationalen Menschenrechtseinrichtungen wie dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof kritisiert .

Das Justizministerium veröffentlicht keine Statistiken über die Anklagen nach einzelnen Strafrechtsartikeln, daher liegen auch keine Angaben vor, wie häufig die Staatsanwaltschaft auf Artikel 318 zurückgreift. Eine Reihe gut dokumentierter laufender Verfahren zeigt jedoch, wie der Artikel verwendet wird, um Kritik an der Armee und öffentliche Unterstützung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung strafrechtlich zu verfolgen (siehe z.B. den Fall von Halil Savda).

Die Journalistin Yasemin Çongar wurde wegen des am 10. November 2010 in der Zeitung Taraf erschienen Artikel „Ich möchte kein Soldat sein“ angeklagt. Der Artikel enthielt den Satz „Nicht jeder Türke wird als Soldat geboren, aber jeden Tag stirbt – ein Türke – in diesem Land, weil er Soldat ist“ . Nachdem das Büro des Oberbefehlshabers der Streitkräfte Anzeige erstattet hatte, wurde Anklage erhoben. Im Juni 2012 wurde Yasemin Çongar freigesprochen .

Der Gesetzentwurf des „Vierten Gesetzesreform-Pakets“ sieht folgende Änderung des 1. Absatzes von Artikel 318 vor:

„Personen, die Wehrdienstleistende direkt auffordern, vom Militärdienst zu desertieren, und Wehrpflichtige dazu, ihren Dienst nicht anzutreten, werden für sechs Monate bis zu zwei Jahren inhaftiert.“

Damit wird die Definition des Vergehens geändert. Statt der Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst wird das Abbringen der Dienstleistenden und Wehrpflichtigen von der Ausübung des Militärdienstes unter Strafe gestellt. Auch in der geänderten Form würde der Artikel die strafrechtliche Verfolgung der Befürwortung von Kriegsdienstverweigerung ermöglichen.

Amnesty International empfiehlt, Artikel 318 vollständig aufzuheben, da die darin auferlegten Beschränkungen der Meinungsfreiheit mit internationalem Recht unvereinbar sind.

Der Kriegsdienstverweigerer und Menschenrechtsverteidiger Halil Savda wurde in mehreren Verfahren nach Artikel 318 angeklagt und verurteilt. Die durch häufigen Aufschub hinausgezogenen Strafverfahren sind typisch für das türkische Justizwesen.

Halil Savda wurde nach Artikel 318 wegen einer öffentlichen Rede während eines Protestes vor der Botschaft Israels in Istanbul im Jahr 2006 angeklagt. Er hatte auf diese Weise das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und insbesondere zwei israelische Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Im Juni 2008 wurde er zu einer Haftstrafe von 100 Tagen verurteilt. Diese Entscheidung wurde vom Kassationshof (Yargıtay) im November 2010 bestätigt. Die Strafe wurde zunächst nicht vollzogen, ab Februar 2012 verbüßte er jedoch einen Teil davon. Nach einer Änderung des Gesetzes über die Verbüssung von Strafen wurde er unter Auflagen freigelassen.

Eine Verurteilung durch ein örtliches Gericht vom Juni 2010 zu sechs Monaten Haft nach Artikel 318 wegen Unterstützung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung ist noch beim Kassationshof anhängig.

Im Dezember 2012 wurde Halil Savda in zwei weiteren Verfahren nach Artikel 318 freigesprochen. In einem der Verfahren wurde er zusammen mit den Aktivisten Mehmet Atak, Fahri Fatih, Ahmet Aydemir (Vater des Kriegsdienstverweigerers Enver Aydemir) und dessen Anwalt Davut Erkan angeklagt, nachdem sie im Januar 2010 an einer Demonstration zur Unterstützung des Kriegsdienstverweigerers Enver Aydemir auf der Straße teilgenommen hatten. Zu den im Gerichtsverfahren vorgelegten Beweismitteln gehörten folgende Slogans, die die Angeklagten bei der Demonstration gerufen haben: „Kriegsdienstverweigerung für Frieden“, „Freilassung von Enver Aydemir“ und „Jeder ist als Baby geboren“. Im zweiten Verfahren wurde Halil Savda der „Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst“ beschuldigt, weil er am Tag eines Gerichtstermins in dem ersten Verfahren vor dem Gerichtsgebäude in Eskisehir eine Presseerklärung abgegeben hatte. Laut Anklage sagte Halil Savda: „Wir glauben nicht, dass Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst eine Straftat ist, wir sind überzeugt, dass es ein demokratisches Recht ist wie jede andere Meinungsäußerung auch. Wir sagen es hier wieder. Wir sagen zu den Leuten: Entfremde dich vom Militärdienst! Denn wenn die Öffentlichkeit sich vom Militärdienst entfremdet, wird es zum Frieden kommen. Wenn die Gesellschaft sich vom Militärdienst entfremdet, werden Freiheiten verwirklicht und das Land wird demokratisiert.“

Die Anklageschrift, die von Amnesty International geprüft wurde, enthält keinerlei Beweis für Äußerungen, die – entsprechend internationalem Recht – zu Hass oder einem anderen Fehlverhalten führen, wodurch staatliches Eingreifen berechtigt wäre.

Artikel 125: Beleidigung und üble Nachrede

Artikel 125 des Strafgesetzes stellt Beleidigung und üble Nachrede unter Strafe, die folgendermaßen definiert ist: „Handlung oder Tatsachenbehauptung“ gegen eine Person, welche deren Ehre, Würde oder den guten Ruf herabsetzen kann, oder … ein Angriff auf jemandes Ehre, Würde oder guten Ruf durch Beschimpfung“. Artikel 125 sieht eine Höchststrafe von zwei Jahren Gefängnis vor oder eine Geldstrafe vor. Bei Beleidigung von Beamten können höhere Strafen verhängt werden. Amnesty International sind Dutzende Verfahren bekannt, die jedes Jahr nach diesem Artikel eingeleitet werden. Da auch hier offizielle Statistiken fehlen, ist die tatsächliche Anzahl der Verfahren unbekannt, aber wahrscheinlich ist sie sehr viel höher.

Artikel 125 wird häufig verwendet, um Kritik an Handlungen von Politikern und anderen Staatsbediensteten strafrechtlich zu verfolgen. Dies geschieht trotz der verbindlichen Interpretation der internationalen Standards zur Meinungsfreiheit, wonach Staatsbedienstete ein höheres Maß an Kritik ertragen müssen als andere Bürger . Journalisten, die Menschenrechtsverletzungen öffentlich machen und Maßnahmen von Beamten kritisch kommentieren, sind besonders dem Risiko der Verfolgung ausgesetzt. Typischerweise leiten Staatsanwälte Verfahren nach Anzeigen von Staatsbediensteten ein, die später neben dem Strafverfahren noch Zivilklage auf Schadenersatz erheben . Insbesondere der Ministerpräsident hat eine Reihe von Fällen nach diesem Artikel vor Gericht gebracht .

Gerichte verhängen bei einer Verurteilung wegen Beleidigung oder übler Nachrede in der Regel Geldstrafen und nur selten Gefängnisstrafen. Angesichts der Höhe der Bußgelder (oft mehr als 10.000 Türkische Lira ) und der Häufigkeit, mit der Journalisten nach Artikel 125 vor Gericht gestellt werden, wirken die Existenz und die Anwendung des Artikels besonders abschreckend. Staatsbedienstete werden dadurch in gewisser Weise davor bewahrt, über ihre Amtsführung Rechenschaft ablegen zu müssen.

Die Anklage gegen den Rechtsanwalt Selçuk Kozağaçlı vom Verein zeitgenössischer Juristen (ÇHD) ist ein Beispiel für Strafverfolgung nach Artikel 125, bei der das Recht auf Meinungsfreiheit verletzt wird. Die Strafverfolgung wurde im Februar 2010 nach einer Anzeige der Staatsanwaltschaft Istanbul und des Hauptquartiers der Sicherheitskräfte in Ankara (Emniyet Güvenlik Şube Müdürlüğü) eingeleitet. Selçuk Kozağaçlı hatte in einer Presseerklärung im Dezember 2009 zum Tod von Gefangenen bei der Gefängnisoperation „Zurück zum Leben“ (hayata dönüs) Gerechtigkeit gefordert. Im Dezember 2000 waren im Zusammenhang mit einer Militäroperation in 20 Gefängnissen im ganzen Land zur Beendigung eines lang andauernden Hungerstreiks 30 Gefangene und zwei Soldaten gestorben. Selçuk Kozağaçlı hatte gefordert, den damaligen obersten Verantwortlichen für das Gefängniswesen in der Türkei, Ali Suat Ertosun, vor Gericht zu stellen. Heute ist dieser einer der höchstrangigen Mitglieder der Justiz, Richter beim Kassationshof und Mitglied im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK). Im Strafverfahren wurde Selçuk Kozağaçlı freigesprochen. Danach wurde jedoch Zivilklage mit einer Forderung von 25.000 TL (11.166 €) gegen ihn erhoben. Im Januar 2013 wurde Selçuk Kozağaçlı außerdem wegen Mitgliedschaft in der verbotenen Revolutionären Volksbefreiungs-Partei/Front (DHKP-C) angeklagt und kam in Untersuchungshaft. Der Ausgang der Zivilklage ist seinen Rechtsanwälten nicht bekannt.

Der Schriftsteller Yalçın Küçük und der verantwortliche Redakteur Mehmet Bozkurt wurden auf Grund einer Anzeige des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach Artikel 125 angeklagt wegen eines Cartoons in der Kolumne Yalçın Küçüks in der Zeitschrift Aydınlık. Der Cartoon zeigt den Ministerpräsidenten an eine US-amerikanische Flagge gekettet . Im März 2012 wurde Mehmet Bozkurt zu elf Monaten und zwanzig Tagen Gefängnis verurteilt, was in eine Geldstrafe von 7.000 türkische Lira (ca. 3.000 €) umgewandelt wurde. Yalçın Küçük wurde freigesprochen. Das Urteil wurde zunächst an den Kassationshof gesandt, dann aber wegen Inkrafttreten des „dritten Gesetzesreform Pakets“ ohne Entscheidung des Kassationshofs ausgesetzt.

Internationalen Menschenrechtsstandards zufolge hat die uneingeschränkte Meinungsfreiheit bei „öffentlichen Debatten über Personen des öffentlichen Lebens im politischen Umfeld und öffentlichen Institutionen“ hohe Bedeutung . Der Menschenrechtsausschuss hat klargestellt, dass „das bloße Erachten von Äußerungen als Beleidigung einer Person des öffentlichen Lebens keine ausreichende Rechtfertigung für das Verhängen von Strafen ist“ . Beleidigung als Straftat zu normieren, um so legitime Kritik an Regierung oder Staatsbediensteten direkt oder mittelbar zu unterdrücken, verletzt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Amnesty International lehnt Strafgesetze ab, die Beleidigung oder Geringschätzung von Staatsoberhäuptern, Personen des öffentlichen Lebens, des Militärs, staatlicher Institutionen, Flaggen oder Symbolen verbieten (wie Gesetze zu Majestätsbeleidigung oder Beamtenbeleidigung). Amnesty International spricht sich darüber hinaus grundsätzlich gegen Beleidigung als Straftatbestand aus, auch wenn Privatpersonen betroffen sind. Dies sollte ausschließlich eine Angelegenheit des Zivilrechts sein. Staatsbedienstete sollten keine staatliche Unterstützung erhalten, wenn sie Zivilklage wegen Beleidigung erheben. Amnesty International empfiehlt daher, Beleidigung als Straftatbestand aufzuheben.

Artikel 215: Loben einer Straftat oder eines Straftäters

Nach Artikel 215 des Strafgesetzes wird „Loben einer Straftat oder eines Straftäters für die Tat, die er begangen hat“ mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft. Die allgemeine Formulierung übersteigt das legitime Ziel, die Anstiftung zu einer Straftat unter Strafe zu stellen, wie es Artikel 217 bereits vorsieht. Der Weg für menschenrechtswidrige Strafverfolgung ist damit vorgezeichnet. Die Verurteilungen nach Artikel 215 überschreiten häufig die nach internationalem Recht zulässigen Einschränkungen. In der Vergangenheit wurde er beispielsweise häufig verwendet, um den höflichen Verweis auf den inhaftierten Führer der PKK, Abdullah Öcalan, als „Herr (sayın) Öcalan“ , die Bezeichnung von bewaffneten PKK-Mitgliedern als „Guerillas“ oder das Gedenken an Führer linksradikaler Gruppen in den 60er Jahren strafrechtlich zu verfolgen.

Im Mai 2012 hob der Kassationshof die Verurteilung von Selim Sadak und Hatip Dicle nach Artikel 215 wegen Verwendung der Begriffe „sayın“ und „Guerilla“ auf. Er sah die Äußerungen als durch die Meinungsfreiheit geschützt an . Nach türkischem Recht sind die Urteile des Kassationshofs jedoch nicht bindend für die anderen Instanzen. Die Entscheidung kann daher nicht weitere solche Verurteilungen verhindern. Weiterhin werden Personen, die mit „sayın“ auf Abdullah Öcalan Bezug nehmen, unter dem schwerwiegenderen Vorwurf „Propaganda für eine bewaffnete Organisation“ zu betreiben, angeklagt. Der Gebrauch der Worte „Kurdistan“ und „Guerilla“ wurde häufig als Beweis für Anklagen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung herangezogen (siehe den Fall von Ziya Çicekçi).

Artikel 215 wird auch dann zur Strafverfolgung von Veröffentlichungen zu umstrittenen Themen eingesetzt, wenn die Schilderungen einzelner von der behördlichen Darstellung abweichen. Der Fall von Levent Yılmaz ist ein bezeichnendes Beispiel hierfür.

Der Journalist Levent Yılmaz veröffentlichte am 22. Juni 2011 in der Zeitung Taraf den Artikel „Homo Sacer olarak Abdullah Öcalan“ (Abdullah Öcalan als Homo Sacer). Darin beschrieb er Abdullah Öcalan als einen „Führer, eine sehr populäre aber ausgestoßene Person, ein Gott für das kurdische Volk, ein Held, da er die einzige Persönlichkeit ist, die für die Kurden die Verbindung zu ihrer Vergangenheit herstellt; eine Person, von der Statuen und Büsten errichtet würden; eine Person, die ihre eigene Geschichte, Erzählungen und Institute der Revolution haben soll; jemand, nach dem Straßen und Flughäfen benannt werden sollen“ . Die Anklage erfolgte nach Artikel 215 und nach Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“. Im März 2012 wurde Levent Yılmaz vom Amtsgericht freigesprochen .

Im „Vierten Gesetzesreform-Paket“ ist als Ergänzung zu Artikel 215 vorgesehen:

„Im Fall einer eindeutigen unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung wegen des Lobens eines Verbrechens oder eine Verbrechers wird der Täter mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft“.

Damit wird vorgeblich ein legitimer Grund, der Schutz der öffentlichen Ordnung, eingeführt. Der Artikel bleibt jedoch sehr weit formuliert und bietet ein erhebliches Missbrauchs-Potential. Klare Vorgaben für Staatsanwälte, wie dieser Artikel menschenrechtskonform auszulegen ist, könnten dieses Potential vermindern. Legitim zu verfolgende Vergehen können jedoch auch nach anderen Artikeln des Strafgesetzes vor Gericht gebracht werden.

Amnesty International empfiehlt daher, den Artikel 215 des Strafgesetzes vollständig aufzuheben.

Artikel 216: Aufstachelung zu Hass oder Feindseligkeit
(Text von Artikel 216 in der englischen Fassung)

Artikel 216 ist außerordentlich breit und vage formuliert und überschreitet erheblich die nach internationalem Recht zulässigen Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Dem Wortlaut nach soll er Aufstachlung zu Hass unter Strafe stellen, was grundsätzlich im Einklang mit Artikel 20 des IPBPR stünde. Die weite Definition und die Kriminalisierung von „abfälligen Bemerkungen“ in Paragraf 2 vertragen sich jedoch nicht mit Artikel 19 dieser Konvention.

In Bezug auf die sehr ähnlich lautende Bestimmung in der Europäischen Menschenrechtskonvention hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof festgestellt: „Meinungsfreiheit ist eine der wesentlichen Grundlage einer [demokratischen] Gesellschaft, eine der Grundbedingungen für ihren Fortschritt und für die Entwicklung jedes Einzelnen […] sie gilt nicht nur für „Information“ oder „Ideen“, die wohlwollend aufgenommen oder als nicht beleidigend oder als gleichgültig angesehen werden, sondern auch für solche, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.“

Daraus folgt, dass die Beleidigung als solche genauso wenig verfolgt werden sollte wie „abfällige Bemerkungen“, soweit auf diese Weise nicht zu Gewalt angestachelt wird.
In der Praxis wird Artikel 216 jedoch zur Verfolgung von Kritik an vorherrschenden Überzeugungen und Machtstrukturen verwendet und nach Kenntnis von Amnesty International gerade nicht, um Aufstachlung zu Gewalt an gefährdeten Gruppen oder ihrer Diskriminierung zu sanktionieren. Im Februar 2012 kritisierte der Vorsitzende der parlamentarischen Menschenrechtskommission, Ayhan Sefer Üstün, die praktische Bedeutung von Artikel 216: Nach seinen Worten wurde diese Vorschrift im Jahr 2005 zur Bekämpfung von Hassreden eingeführt, von den Staatsanwälten aber nicht dafür angewendet .

Der Fall von Fazıl Say ist ein besonders augenfälliges Beispiel für die missbräuchliche Strafverfolgung nach Artikel 216. Fazıl Say, ein international bekannter Pianist, wurde im April 2012 nach Artikel 216/3 wegen „Beleidigung religiöser Werte“ angeklagt. Er hatte sich in Tweets über religiöse Personen und islamische Vorstellungen vom Himmel lustig gemacht. Die Anklageschrift zählt neun eigene und wiedergegebene Tweets auf. Unter anderem wurden die folgenden als Beweis herangezogen: „Ist Gott jemand, für den du leben oder sterben würdest, oder für den du zum Tier wirst und jemanden tötest?? Denk mal drüber nach!“; „Was wäre, wenn es im Himmel Raki gäbe, aber nicht in der Hölle? Aber wenn es Chivas Regal [eine Whiskey-Marke] in der Hölle gäbe, jedoch nicht im Himmel? Was passiert dann? Das ist doch die alles entscheidende Frage!!!“; „Ich weiß nicht, ob ihr es bemerkt habt, aber überall, wo eine Laus ist, keine Einheit, Zwielicht, ein Dieb oder ein Narr, da handelt es sich um einen Allah-Anhänger. Ist das ein Widerspruch?“; „Der Muezzin trägt das Abendgebet in 22 Sekunden vor. Pretissimmo con fuca!!! Warum so schnell? Eine Geliebte? Raki?“; „Ich bin Atheist, und ich bin stolz, dass ich das so leicht sagen kann“; „Ich bin ein Atheist. Ich weiß von nichts.“; „ Es scheint, als sei die Hälfte der Bevölkerung wahre Atheisten und die andere Hälfte traumatisierte Atheisten, nur dass sie es nicht wissen.“; „Ihr sagt, dass dort Ströme von Wein fließen, ist der Himmel eine Kneipe? Ihr sagt, dass jedem Gläubige zwei wunderschöne Frauen gegeben werden, ist der Himmel ein Bordell?“; „Heute Abend wurden viele zu Atheisten, der Dank geht an sie!“
Bis Februar 2013 kam es bereits zu zwei gerichtlichen Anhörungen, eine dritte ist für den 15. April angesetzt.

Amnesty International drängt die türkischen Behörden, Artikel 216 unverzüglich zu ändern, so dass die Beschränkungen der Meinungsfreiheit sich im Rahmen des internationalen Rechts bewegen. Insbesondere empfiehlt Amnesty International, die Paragrafen (2) und (3) aufzuheben, die in ihrer gegenwärtigen Fassung die zulässigen Einschränkungen der Meinungsfreiheit überschreiten.

Strafverfolgung nach dem Anti-Terror-Gesetz bedroht das Recht auf Meinungsfreiheit

„Die Arbeit einer terroristischen Organisation findet nicht nur in den Bergen, Ebenen, Städten und Straßen statt, sondern auch indem sie sich in den Hinterhöfen einrichtet und kaltschnäuzig in der Nacht angreift, es ist nicht nur bewaffneter Terror. Es gibt auch psychologischen Terror, wissenschaftlichen Terror. Es gibt ein Hinterzimmer des Terrors, das ihn nährt. Mit anderen Worten, es gibt Propaganda, terroristische Propaganda. Wie wird so etwas übertragen, es kann sein, dass er ein Bild malt und es auf einer Leinwand wiedergibt, in einem Gedicht, in einer Kolumne in einer Zeitung, in einem Witz. Er kann sich nicht zurückhalten, er zielt in seiner Kunst auf den Soldaten, (und) den Polizisten, die am Kampf gegen den Terrorismus in seiner Arbeit teilnehmen, um sie beide zu demoralisieren. Diejenigen, die gegen den Terrorismus kämpfen, sind einem Kampf gegen sich selbst ausgesetzt. Das Hinterzimmer, in dem der Terror sich aufhält und von dem aus er seine Aktivitäten durchführt, ist in Istanbul, Izmir, Bursa, Wien, Deutschland, London, oder auch ein Podium in einer Universität, ein Verein, eine Organisation der Zivilgesellschaft. Ich denke, der Kampf gegen den einen in den Bergen ist leicht, aber in den Hinterzimmern sind alle – Unkraut und Kresse – miteinander vermischt. Alle sehen dort grün aus. Aber manches ist giftig, manches ist es nicht. Nur wenn du es isst, weißt du was gesund und was giftig ist.“
Der Innenminister Idris Naim Sahin bei einem Symposium der Polizei über Terrorbekämpfung, 26. Dezember 2011.

In diesem Abschnitt werden Anti-Terror-Bestimmungen untersucht, mit denen Verhalten bestraft wird, das von internationalem Menschenrecht geschützt ist. Er konzentriert sich auf fünf Vorschriften: Artikel 6/2 des Anti-Terror-Gesetzes „Drucken oder Veröffentlichen von Erklärungen oder Aussagen terroristischer Organisationen“, Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes „Propaganda für eine terroristische Organisation“, Artikel 314 des Strafgesetzes „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ und der damit zusammenhängende Artikel 220/6 des Strafgesetzes „Straftaten im Namen einer verbotenen Organisation“ und Artikel 220/7 „Wissentliche und freiwillige Unterstützung einer verbotenen Organisation“.

Regionale und internationale Institutionen wie der Menschenrechtskommissar des Europarats, der Sonderberichterstatter für Menschenrechte bei der Bekämpfung des Terrorismus und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben ebenso wie Amnesty International und internationale Organisationen der Zivilgesellschaft immer wieder ihre Bedenken wegen der Auswirkungen der Verfahren nach dem Anti-Terror-Gesetz auf das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Türkei erhoben . In den Jahren 2010 und 2012 wurden einige Änderungen an den Anti-Terror-Gesetzen vorgenommen. Minderjährige Demonstranten werden jetzt nicht mehr nach den Anti-Terror-Bestimmungen angeklagt , Richter erhielten einen größeren Ermessensspielraum bei der Reduzierung des Strafmaßes bei bestimmten Vergehen , und Artikel 6/5 des Anti-Terror-Gesetzes wurde aufgehoben, der ermöglichte, zeitweise das Erscheinen von Zeitschriften zu verbieten. Diese Reformen ließen jedoch ebenso wie andere das Kernproblem unberührt. Die türkische Gesetzgebung enthält weiterhin Artikel mit dehnbaren und ungenauen Formulierungen, so dass Verfahren eingeleitet und Verurteilungen ausgesprochen werden für Verhalten, das durch das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit geschützt ist. Dazu zählen kritische Artikel, politische Reden, Teilnahme an Demonstrationen und Verbindung zu zugelassenen Organisationen, die von den Behörden verdächtigt werden, mit bewaffneten Organisationen zu sympathisieren .

Offizielle aktuelle und detaillierte Statistiken über die terrorbezogenen Strafverfahren liegen nicht vor. Die genaue Anzahl an Verfahren nach den jeweiligen Gesetzesartikeln ist nicht bekannt. Unvollständige regelmäßige Veröffentlichungen des Justizministeriums zeigen, dass jedes Jahr Zehntausende Anklagen nach dem Anti-Terror-Gesetz erhoben werden, und dass die Zahl in den letzten Jahren zugenommen hat. Nachforschungen von Associated Press im Jahr 2011 haben ergeben, dass von 30.000 Verurteilungen nach Anti-Terror-Bestimmungen weltweit seit dem Jahr 2001 mehr als ein Drittel, ungefähr 12.000, in der Türkei verkündet wurden .

Das Justizministerium gibt die Anzahl der abgeschlossenen Ermittlungen durch Sondergerichte für schwere Straftaten (mit Zuständigkeit für organisiertes Verbrechen, Verbrechen gegen die nationale Sicherheit und Terrorismus) für das Jahr 2010 mit 68.108 an. Strafverfahren wurden gegen 36.364 Personen eröffnet. Die Zahl der Ermittlungen hat sich seit 2008 verzehnfacht. Von 2001 – 2007 gab es zwischen siebentausend und neuntausend Ermittlungen pro Jahr, im Jahr 2008 waren es 12.564, und in 2009 und 2010 jeweils 69.000 .

Die Definition von Terrorismus

Viele der Probleme bei der Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes schlagen sich in der Definition von Terrorismus in Artikel 1 des Anti-Terror-Gesetzes nieder. Dessen Wortlaut ist:

„Terrorismus ist jede Handlungsweise, die von einer Person oder von Personen begangen wird, die einer Organisation angehören, die zum Ziel hat, die Eigenschaften der Republik, wie sie in der Verfassung definiert sind, das politische, rechtliche, säkulare und wirtschaftliche System zu ändern, die unteilbare Einheit des Staates mit seinem Territorium und seiner Nation zu beschädigen, die Existenz des türkischen Staates und der Republik in Gefahr zu bringen, die staatliche Autorität zu schwächen, zu zerstören oder zu ergreifen, die grundlegenden Rechte und Freiheiten zu beseitigen, die innere und äußere Sicherheit des Staates, die öffentliche Ordnung oder die allgemeine Gesundheit zu beschädigen durch Zwang und Gewalt, Druck, Einschüchterung, Abschreckung, Unterdrückung oder Drohungen.“

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte bei der Bekämpfung von Terrorismus hat anlässlich seines Besuchs in der Türkei im Jahr 2006 festgestellt, dass diese Definition von Terrorismus extrem breit und nur in Bezug auf die Ziele gefasst ist , ohne dass Handlungen vorausgesetzt werden, die zum Tod von Personen oder anderer schwerer Gewalt gegen Personen führen. Dadurch können Anti-Terror-Vergehen „zu schwerwiegenden Beschränkungen legitimer, kritischer Meinungsäußerung gegenüber der Regierung oder staatlichen Institutionen wie auch der Gründung von Organisationen zur Verfolgung legitimer Zwecke und der Versammlungsfreiheit führen. “

Tatsächlich werden häufig Personen vor Gericht gestellt, die dieselben politischen Ideen unterstützen wie bewaffnete Gruppen, auch wenn die Beschuldigten nicht selbst zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufgerufen haben und nicht wegen direkter Verwicklung in Gewalttaten angeklagt sind. Solche Strafverfolgungen nach dem Anti-Terror-Gesetz betreffen zum Beispiel Forderungen nach Unterricht in der kurdischen Sprache, eine größere Autonomie für Provinzen, kostenlose Bildung, ein Ende der Militäroperationen gegen die PKK, das Ende der bewaffneten Zusammenstöße von Armee und PKK, die Lösung der kurdischen Frage durch Verhandlungen, Proteste gegen Polizeigewalt und andere mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen und Teilnahme an Trauermärschen bei Beerdigungen von PKK-Mitgliedern.

2012 hat der Sonderberichterstatter eine Definition für Terrorismus vorgeschlagen, die zu überschreiten „aus Menschenrechtssicht problematisch wäre“:

„Terrorismus ist eine Handlung oder der Versuch einer Handlung bei der

1. Die Handlung
a) Eine geplante Geiselnahme darstellt; oder
b) Den Tod oder die schwere Verletzung von einer oder mehreren Personen der Bevölkerung oder Teilen davon beabsichtigt; oder
c) Einher geht mit tödlicher oder massiver physischer Gewalt gegen eines oder mehrere Mitglieder der Gesellschaft oder Teilen davon; und

2. Die Handlung begangen oder versucht wurde in der Absicht
a) Die Öffentlichkeit oder einen Teil davon in Angst zu versetzen
b) Eine Regierung oder internationale Organisation zwingen, etwas zu tun oder nicht zu tun (zu unterlassen); und

3. Die Handlung sich deckt mit:
a) Der Definition einer schweren Straftat im nationalen Recht, das beschlossen wurde um internationale Konventionen und Protokolle zu Terrorismus oder Resolutionen des Sicherheitsrates zu Terrorismus umzusetzen; oder
b) Allen Elementen eines durch nationales Recht definierten schweren Verbrechens“

Amnesty International empfiehlt den türkischen Behörden, die nationale Definition von Terrorismus an dieser auszurichten.

Artikel 314: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung

Die problematische Definition von Terrorismus spiegelt das Verständnis von einer terroristischen Aktivität wider, wie sie in dem Zitat des türkischen Innenministers am Anfang des Kapitels ausgedrückt wird. Diese Sichtweise, die nicht unterscheidet zwischen friedlichem Protest, abweichender Meinung und gegen den Staat gerichteten Meinungen auf der einen Seite und gewalttätigen Handlungen zur Verfolgung dieser Ziele auf der anderen, ist tief verankert bei türkischen Sicherheitskräften und beim juristischen Personal. Dies führt zu den missbräuchlichen Strafverfolgungen, die in diesem Bericht beschrieben sind.

Die sich daraus ergebende Einstellung und die Definition von „Terrorismus“ haben erhebliche Auswirkungen auf die Strafverfolgung wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ nach Artikel 314 des Strafgesetzes. Das Strafmaß beträgt bei Artikel 314 zehn bis fünfzehn Jahre Gefängnis . Wie die folgenden Fälle zeigen, wird Verhalten, das selbst nicht strafbar ist, als Beweismittel für eine Beziehung zu einer terroristischen Organisation gewertet, weil die Strafverfolgungsbehörden es als das Verfolgen derselben Ziele wie eine terroristische Gruppe ansehen. Daher wurden Personen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung belangt, die sich friedlich und gesetzeskonform an prokurdischen Aktivitäten beteiligten.

Nach einer Verhaftungswelle in Istanbul im Oktober 2011 wurde Anklage gegen 193 Personen wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung der verbotenen Union der kurdischen Gemeinschaften (KCK), eine mit der PKK verbundene Organisation, erhoben. Die Angeklagten sollen für die Istanbuler Einheit der KCK gearbeitet haben. Zu ihnen zählt die Akademikerin Büşra Ersanlı, die nach Artikel 314/1 des Strafgesetzes angeklagt wurde, weil sie eine Führerin der KCK gewesen sein soll. Die Anklage beruht im Wesentlichen auf ihrer Arbeit für die Politische Akademie der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), eine legale prokurdische politische Partei . Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass die Politische Akademie eine Einrichtung der KCK sei und mit dem Ziel betrieben werde, die Ideologie der PKK zu verbreiten und neue Mitglieder für sie zu gewinnen .

Das Belastungsmaterial gegen Büşra Ersanlı besteht aus Informationen über ihre Rolle bei der Politischen Akademie, ihrer Teilnahme an friedlichen Demonstrationen, die als Unterstützung der Ziele der KCK gewertet wurden, aus abgehörten Telefongesprächen sowie Notizen und Dokumenten, die bei Durchsuchungen ihres Hauses, Autos und ihrer Arbeitsstelle gefunden wurden. Die Anklageschrift listet auf:

Sie hat Dokumente an die Politische Akademie geschickt; sie hat Personen als Dozenten empfohlen; sie hat nach dem Unterrichtsprogramm gefragt; sie sagte, sie wolle zur Demonstration am 1. September, dem Weltfriedenstag, gehen (was sie auf Grund anderer Verpflichtungen dann nicht tat), und dass sie Sorge trägt, die Polizei wende bei der Demonstration exzessive Gewalt an; sie hat eine (nicht spezifizierte) Reise mit einer Person unternommen, die an der Demonstration teilgenommen hat; sie hat eine Einladung von ROJ.TV, um über die Verfassung zu sprechen, aus Zeitgründen abgelehnt, und gefragt, ob andere an ihrer Stelle sprechen könnten; sie hat über einen Sitzstreik der BDP gesprochen (aus Protest über das ungelöste Kurdenproblem); sie hat Studenten unterstützt, die an der Marmara-Universität, an der sie als Wissenschaftlerin arbeitet, ein Masterstudium aufnehmen wollten; sie hat eine Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung zu einem „Runden Tisch“ angenommen; sie hat Berichte der Medien über Militäroperationen und KCK-Festnahmen mit Sebahat Tuncel, einer BDP-Abgeordneten diskutiert; sie hat mit der Journalistin Nuray Mert über Militäroperationen gesprochen; sie ist vom Menschenrechtsverein (einer führenden türkischen NGO) per SMS eingeladen worden, dagegen zu protestieren, dass Abdullah Öcalan seine Anwälte nicht treffen durfte.

Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung, ihres Autos und Arbeitsplatzes wurden die folgenden Dinge gefunden und als Beweismittel präsentiert:

Ein Dokument, in dem sie äußerte, dass sie eine Nachricht an Firat News (eine pro-kurdische Internetseite, die Behörden als der PKK nahe stehend ansehen), geschickt habe, Notizen zu „Autonomie“; handschriftliche Notizen, die der Staatsanwalt in Verbindung zu einer Konferenz von 2008 in Diyarbakır über „lokale Verwaltung und Frauen“ stehen sieht – wobei sie de facto Bezug nehmen auf Vorbehalte gegenüber der CEDAW-Konvention, und auf zu Föderalismus führende Schritte – die Staatsanwälte sagen, dies spiegele das Denken der KCK wider; Dokumente mit handschriftlichen Bemerkungen über demokratische Autonomie und Stadträte (kent konseyleri), die Teil der KCK-Struktur sein sollen; ein öffentlich erhältliches Dokument, von dem gesagt wird, es sei „der Entwurf für eine Frauen-Verfassung/Vertrag“ – und als KCK-Dokument angesehen. Die Anklage bezieht sich auf eine Webseite der Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK), dass dieses Dokument als Anstoß zur Diskussion zeigen möchte, Dokumente über Aktivitäten der Akademien überall in der Türkei, ein veröffentlichtes Magazin mit dem Titel „Tausend Hoffnungen auf Frieden und Demokratie“

Der Akademiker Ragıp Zarakolu ist ebenfalls in dem Verfahren angeklagt. Die Beweismittel gegen ihn beruhen in ähnlicher Weise auf der Teilnahme an Aktivitäten der Politischen Akademie. Die angebliche Mitgliedschaft von Ragıp Zarakolu in der KCK wird vor allem durch seine Vorträge an der Politischen Akademie begründet. Er ist jedoch nach Artikel 220/7 TSTG dafür angeklagt, „wissentlich und willentlich eine Terrororganisation unterstützen“. Beweise für die Vorträge von Ragıp Zarakolu und anderes Engagement innerhalb der Akademie bestehen aus Nachrichten, wonach Ragıp Zarakolu bei der Eröffnungszeremonie und einer Abschlussfeier der Politischen Akademie anwesend gewesen sei. Der in der Anklageschrift zitierte Artikel sagt nichts darüber aus, ob Ragıp Zarakolu die KCK erwähnt hat, und dient nur dazu, seine Anwesenheit bei der Eröffnungszeremonie zu belegen. Laut der Nachrichtenagentur Dicle kritisierte ein anderer Redner die KCK Verfahren als unfair, weil sie nur auf mitgeschnittenen Telefongesprächen und abgehörten Veranstaltungen basieren, die dazu dienen sollen, legitime politischer Aktivitäten zu verfolgen. In dem Bericht über die Rede Ragıp Zarakolus äußert er, dass politische Akademien im Allgemeinen eine wichtige Stütze für die sozialistischen Bewegungen in aller Welt gewesen seien, und dass die Einrichtung einer solchen Akademie von Kurden sinnvoll sei. Er erklärte, dass die sozialistische Bewegung Deutschlands stark von solch einer Akademie profitiert habe und dass es eine Menge gebe, was von Kurden und den Akademien gelernt werden könne. Er bot der Akademie seine (nicht spezifizierte) Unterstützung an. Der Artikel berichtet, dass die Schwester eines PKK Mitgliedes, neben BDP Parlamentariern und Dozenten wie Ragıp Zarakolu, an der Abschlussfeier der Politischen Akademie teilnahm. Abschlüsse in folgenden Lehrgängen wurden abgelegt: „Management“, „Philosophie“, „Quantenphysik“, „Geschichte der Zivilisation“, „Geschichte des Nahen Ostens“, „politische Geschichte der Türkei“, „Ideologie der Befreiung der Frau“, Demokratische ökologische Gesellschaft“, „kapitalistische Moderne und demokratischer Föderalismus“.

Das einzige andere vorgelegte Beweismittel der Anklage ist die Aussage eines Zeugen, der offenbar durch das Zeigen von „wirksamer Reue“ bewirken wollte, dass seine Haftstrafe reduziert oder zurückgezogen wird. Dies kann der Verurteilte erreichen, indem er gegen andere aussagt. Der Zeuge behauptet, er habe als Student an der Politischen Akademie teilgenommen. Nachdem er jedoch die wahren Ziele (Unterstützung der PKK) erkannt habe, habe er sie verlassen. Der Zeuge behauptet in seiner Aussage, dass der Unterricht die Ideologie der PKK vermittelte, um so Mitglieder für die PKK zu gewinnen. Die Anklage erklärt darüber hinaus in Bezug auf die Aussage des Zeugen, dass dies so normal gewesen sei, wie Nägel für eine Wohnungsreparatur zu haben oder ein Mobiltelefon zu kaufen, und dass diese Gegenstände von der PKK benutzt werden könnten, um Explosionen durchzuführen. Der Staatsanwalt verglich dies mit den Vorträgen von Ragıp Zarakolu, die Ursache dafür seien, bewaffnete PKK Mitglieder in ihren städtischen Zellen zu rekrutieren.

Bei der Durchsuchung der Wohnung, dem Auto und dem Arbeitsplatz von Ragıp Zarakolu fand die Polizei handschriftliche Notizen über die Festnahme von Personen im Zusammenhang mit der Verfolgung der KCK vor seiner Inhaftierung und andere Notizen über Politik, ohne Beziehung zu Aktivitäten der KCK.

Büsra Ersanli wurde im Juli 2012 während des laufenden Verfahrens nach mehr als acht Monaten Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt. Ragıp Zarakolu wurde im April 2013 trotz des laufenden Verfahrens aus der Untersuchungshaft entlassen. Bis zum 8. März 2013 fanden in dem Verfahren 25 Gerichtstermine statt.

Von den 193 Angeklagten befanden sich noch 118 in Untersuchungshaft.

Der Fall von Sultani Acıbuca ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Ausübung der Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit als Beweis für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung betrachtet wird. Im Fall von Sultani Acıbuca geht es um die Teilnahme an friedlichen, prokurdischen Demonstrationen und der Mitwirkung in einer sozialen Bewegung für die Beendigung des bewaffneten Konflikts.

Die 62 Jahre alte Sultani Acıbuca ist Mitglied der „Friedensmütter“, einer Gruppe von Müttern, die (auf beiden Seiten des Konflikts mit der PKK) Söhne verloren haben oder deren Söhne im Gefängnis sind. Am 9. Juni 2010 wurde sie als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt, weil sie an sechs friedlichen Demonstrationen in Izmir teilgenommen hatte, und auf einer dieser Demonstrationen eine Rede gehalten hat. In der Rede rief sie zum Frieden und zu einem Ende des Konflikts zwischen der PKK und den türkischen Streitkräften auf. Die Angaben in der Anklageschrift beruhten auf Polizeiberichten von Demonstrationen, Fotos von den Demonstrationen und Tonaufnahmen. Das Verhalten, das als Beweismittel benutzt wurde, um Sultani Acıbuca zu verurteilen, wird durch das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Vereinigungsfreiheit und auf friedliche Versammlung geschützt.

Die Anklage gegen Sultani Acıbuca wurde 2008 erhoben. Die Anklageschrift zählt folgende Gesetzesverstöße auf: Mitglied einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314 des Strafgesetzbuchs), Propaganda für eine terroristische Organisation (Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes) und Verherrlichung einer Straftat oder eines Straftäters (Artikel 215 des Strafgesetzbuchs). Grundlage für die Anklage war der Beweis, dass Sultani Acıbuca zu einer Gruppe gehörte, die Parolen rief, welche nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der Meinungsfreiheit umfasst sind. Dazu gehörten „Lang lebe der Frieden, lang lebe Öcalan“ und „Frauen wollen Frieden und keinen Kampf“. In der Rede, welche laut Anklage strafrechtlich relevantes Verhalten verherrlichte, rief Sultani Acıbuca zu Frieden auf. Sie sagte, dass die Situation der Märtyrer (sie benutzte dabei die übliche Terminologie des Staates, der so die gefallenen Soldaten nennt) und die der Guerillas (bezogen auf die bewaffneten Kräfte der PKK) dieselbe sei und rief die türkischen und kurdischen Mütter dazu auf, sich zu vereinigen. Auch forderte sie Premierminister Erdogan auf, seinen Sohn zur Armee zu schicken, indem sie sagte: „Arme Familien schicken ihre Söhne zur Armee, wir wollen nicht gegen sie kämpfen. Sie sollen ihre eigenen Söhne zur Armee schicken, sie treiben uns weg aus unseren Dörfern, aus unserem Zuhause (sie bezog sich auf Zwangsvertreibung durch das Militär), unsere Bräute sind türkisch, wir gaben unsere Töchter den Türken“; „Lang lebe die Verbrüderung der Bevölkerung, lang lebe die Freiheit der Frauen“.

Sultani Acıbuca wurde letztlich nur wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht verurteilte sie nicht wegen Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Verherrlichung einer Straftat oder Straftäters, da dies Merkmale einer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung seien, die durch ihrer Verurteilung bereits abgegolten wurde. Grundlage für die Entscheidung stellte für das Gericht dar, dass sie Mitglied der Friedensmütter sei. Die Friedensmütter seien, ohne dass das Gericht hierfür einen gesicherten Beweis hatte, aus der PKK entstanden, um so für diese Propaganda zu betreiben. Darüber hinaus bezog sich das Urteil darauf, dass sie eine aktive Rolle bei den Demonstrationen spielte und Parolen rief, und dass sie die oben zitierte Rede – terroristische Propaganda – hielt. Letztlich war für das Gericht auch entscheidend, dass sie Parolen rief, damit andere sie nachrufen konnten.

Die Anklage hatte keine Beweise, die eine Verbindung zwischen der PKK und den Friedensmütter herstellten, außer der Tatsache, dass die Demonstrationen bei Roj TV stattfanden und dort veröffentlicht wurden. Roj TV ist ein ausländischer Fernsehsender, dem in anderen in diesem Bericht genannten Fällen eine Verbindung zur PKK unterstellt wird.

Das Gericht schlussfolgerte, dass Sultani Acıbucas gesamtes Verhalten Ausdruck einer „dauerhaften Beteiligung“ an verschiedenen Aktivitäten der Organisation sei und stellte unter Berücksichtigung „ihrer Führungsrolle innerhalb der Ansammlung der Demonstranten“ fest, dass sie Mitglied einer terroristischen Vereinigung sei. Im Februar 2013 war der Fall noch am Höchsten Berufungsgericht anhängig.

Artikel 220/6: Verbrechen im Namen einer terroristischen Vereinigung

Auf Grundlage von Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzes können Personen, denen nicht nachgewiesen wurde, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, als solche bestraft werden, wenn sie ein Verbrechen „im Namen einer Vereinigung“ begangen haben sollen.

Auf Grundlage dieses Artikels haben Gerichte ohne starkes Beweismaterial höhere Strafen für angebliche kriminelle Aktivitäten verhängt, und zwar sowohl für den Vorwurf von Straftaten wie für die Verbindung zu einer „terroristischen Organisation“. Wie bei den Fällen einer unmittelbarer Mitgliedschaft enthält das Beweismaterial häufig nicht mehr als die Teilnahme an Demonstrationen oder das Schreiben prokurdischer Artikel.

Das Verfahren von Vedat Kurşun zeigt beispielhaft die Bedrohungen der Meinungsfreiheit durch Anklagen nach Artikel 220/6. Die Anklage beruht ausschließlich auf dem Inhalt von Zeitungsartikeln, die zwischen Februar 2007 und Juni 2008 veröffentlicht wurden. Das Gericht stufte sie als „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ ein, doch sogar aus der Beschreibung des Gerichts geht hervor, dass der Inhalt keinen Aufruf zu Krieg oder eine andere Unterstützung von Gewalt darstellt.

Im Januar 2009 wurde Vedat Kurşun, verantwortlicher Autor und Herausgeber der einzigen Zeitung der Türkei in kurdischer Sprache, Azadya Welat, gemäß Artikel 220/6 wegen „Verbrechensbegehung im Namen einer terroristischen Vereinigung“ und gemäß Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes wegen mehrfacher „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ verurteilt. Nach Anklageerhebung kam er am 30. Januar 2009 in Untersuchungshaft, wo er die nächsten zweieinhalb Jahre verblieb. Das Gericht verband 33 einzelne Anklagen zu einer einzelnen strafrechtlichen Verfolgung. Im Mai 2010 wurde Vedat Kurşun wegen Verstoßes gegen beide Vorschriften verurteilt. Das Strafmaß betrug zwölf Jahre Gefängnis gemäß Artikel 220/6. Nach den Bestimmungen zur „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ verurteilte das Gericht Vedat Kurşun in 103 Fällen zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten für jeden Vorfall. Das Strafmaß betrug insgesamt 154 Jahre und sechs Monate Haft für Propaganda und zwölf Jahre Haft für die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung. Somit betrug die Gesamtstrafe von Vedat Kurşun 166 Jahre und sechs Monate.

Amnesty International hat nicht alle Zeitungsartikel, die dem Verfahren zu Grunde lagen, gelesen, aber sämtliche Auszüge, die die Strafverfolgungsbehörde als relevant einstufte und als Beweismittel in das Verfahren einbrachte, überprüft. Das Urteil vom 13. Mai 2010 im Fall des Vedat Kurşun verursacht Bedenken auf verschiedenen Ebenen. Vedat Kurşun wurde wegen „Verbrechensbegehung im Namen einer terroristischen Vereinigung“ ausschließlich auf Grundlage der Zeitungsartikel verurteilt und das, obwohl es keine Beweise für eine Verbindung zu einer verbotenen Organisation gab. Auch wurde er in mehreren Fällen wegen „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ verurteilt – ebenso auf Grund von Zeitungsartikeln, die zumindest nach den vorgebrachten Auszügen, keine Anstiftung zu Gewalt darstellen, sondern daher gerade von der Meinungsfreiheit geschützt sein sollten.

Das Gericht betrachtete diese Artikel als Propaganda für die PKK wegen ihrer Verweise auf Ost- und Südosttürkei als „Kurdistan“, wegen der Nennung von „Guerillas“ bezugnehmend auf die bewaffneten Mitglieder der PKK, und die Beschreibung Abdullah Öcalans als „Führer eines Volkes“ und „Führer der KCK“. Außerdem wurden als bedeutende Beweismittel Aussagen der PKK, die in den Artikeln veröffentlicht wurden, herangezogen, ohne dass der Kontext der Aussagen oder ob die Aussagen eine Anstiftung zu Gewalt darstellen, berücksichtigt wurde.

Im letzten Urteil zitierte das Gericht ein Urteil von 2008 der Kammer für allgemeine Strafsachen des höchsten Berufungsgerichtes mit folgendem Inhalt:

„Um die Beteiligung an Handlungen – in Form einer Veröffentlichung eines allgemeinen Aufrufs der Vereinigung in einem Medium dieser Vereinigung – als Handlung im Namen einer terroristischen Vereinigung nachzuweisen, ist es nicht erforderlich, dass es eine konkrete Anweisung an einen Einzelnen zu dieser Handlung gab. In solchen Fällen kann neben den allgemeinen einschlägigen Strafgesetzen dann auch nach den Bestimmungen über die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bestraft werden.“

Das Gericht führte fort, dass es den Inhalt der Artikel in Azadiya Welat für sich genommen bereits als ausreichenden Beweis erachtet, um Vedat Kurşun wegen eines Verbrechens im Namen einer terroristischen Vereinigung zu verurteilen – ohne zusätzliches Beweismaterial aufzubringen oder seine Absicht, zu Gewalt anzustiften oder an einer der Handlungen der PKK teilzunehmen, darzulegen.

Am 22. Februar 2011 wies das Höchste Berufungsgericht die Ansicht der unteren Instanz zu Artikel 220/6 zurück und entschied, dass die erbrachten Beweise (der Inhalt der Zeitungsartikel) nicht ausreichend seien, um eine Verurteilung wegen „Verbrechensbegehung im Namen einer terroristischen Vereinigung“ zu rechtfertigen. Jedoch hielt das Höchste Berufungsgericht Vedat Kurşuns Verurteilung nach Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes wegen „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ aufrecht – unter der Einschränkung, dass das Strafmaß nicht separat für jeden einzelnen der 103 Fälle festgelegt werden soll. Entsprechend dem Urteil des Berufungsgerichts erklärte das zuständige Gericht im Juni 2011, dass Vedat Kurşun nach Artikel 220/6 unschuldig sei und verurteilte ihn nach Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes zu zehn Jahren und sechs Monaten Gefängnis.

Nach mehr als zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis, im Juli 2012, bestätigte das örtliche Gericht das Urteil des Berufungsgerichts sowie die Haftstrafe zu 10 Jahren und sechs Monaten wegen „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“. Das Gericht entschied auch, dass Vedat Kurşun nach den Bestimmungen über die bedingte Aussetzung, die vom „dritten Gesetzespaket“ eingeführt wurde, aus der Haft entlassen werden soll.

Nach Auffassung von Amnesty International ist der Artikel 220/6 weder notwendig für die Strafverfolgung tatsächlich dem Terrorismus zuzurechnender Vergehen, noch wird er in der Praxis so eingesetzt, dass die Meinungsfreiheit erhalten bleibt. Amnesty International empfiehlt daher, den Artikel abzuschaffen und Anklagen auf bereits existierende Vorschriften des Strafrechts zu stützen, die den Beweis der Mitgliedschaft oder die Absicht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erfordern.

Artikel 220/7: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung

Anders als Artikel 220/6 sind Taten nach Artikel 220/7 eigenständige Vergehen ohne das Erfordernis einer weiteren Straftat. Wie bei Artikel 220/6 können jedoch Angeklagte verurteilt werden, als wären sie Mitglied einer terroristischen Organisation. (Wortlaut des Artikels im englischen Text).

Auch dieser Artikel wird häufig zur Strafverfolgung von Verhalten eingesetzt, das durch die Meinungsfreiheit sowie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit geschützt ist. Die Wahl von Artikel 220/6 oder 220/7 für Anklagen erscheint willkürlich, vergleichbares Handeln wird einmal nach dem einen, dann wieder nach dem anderen Artikel strafrechtlich verfolgt, und mitunter direkt nach Artikel 314 (Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation). Wie bei Artikel 220/6 werden von der Staatsanwaltschaft häufig keine Beweise für eine Verbindung zu einer terroristischen Organisation vorgebracht, auch wird nicht versucht, ein strafrechtliches Vergehen oder Beihilfe nachzuweisen. Der Vorwurf beschränkt sich auf die mutmaßliche Unterstützung der verbotenen Organisation.

Die türkischen Behörden müssen sicherstellen, dass Artikel 220/7 nicht für Strafverfolgung genutzt wird, bei der die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit oder andere Menschenrechte verletzt werden. Die Regierung sollte daher Richtlinien veröffentlichen, die klare Kriterien vorgeben, unter welchen Umständen die Unterstützung einer bewaffneten Gruppe strafbar ist. Dazu gehört, dass diese Unterstützung entweder selbst eine Straftat darstellt, oder direkt mit der Planung und Ausführung einer solchen verbunden ist. Fehlen solche Beweise, dürfen keine Indizien aus legalen Handlungen abgeleitet werden, zum Beispiel der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen. Das gilt auch dann, wenn solche legalen Handlungen Ziele unterstützen, die von einer terroristischen Organisation geteilt werden. Das Motiv ist irrelevant: Wer eine legale Handlung ausführt, die nicht Beihilfe zur Planung oder Ausführung eines Verbrechens leistet, darf nicht ausschließlich auf Grund seiner politischen Ansichten kriminalisiert werden.

Das Verfahren gegen Ahmet Şık und Nedim Şener ist ein weiteres Beispiel dafür, dass polemische, gegen die Regierung gerichtete Schriften, die von der Meinungsfreiheit geschützt sein sollten, als Beweise für die Teilnahme der Autoren an terroristischen Verbrechen herangezogen werden. Ahmet Şık und Nedim Şener sind unter den Journalisten, die gegenwärtig im „ODATV-Verfahren“ angeklagt sind. ODATV ist ein der Regierung kritisch gegenüberstehendes Internet-Nachrichtenportal, das beschuldigt wird, die Aktivitäten der „bewaffneten terroristischen Vereinigung Ergenekon“ als „Teil von deren Medienstruktur“ zu unterstützen.

Ahmet Şık und Nedim Şener sind beide Enthüllungsjournalisten, die früher bereits Missbrauch durch Staatsbedienstete aufgedeckt haben und deswegen strafrechtlich verfolgt wurden. Im ODATV-Verfahren sind Ahmet Şık und Nedim Şener nach Artikel 220/7 wegen „wissentlicher und willentlicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt. Sie wurden am 3. März 2011 festgenommen und am 12. März 2012 aus der Untersuchungshaft entlassen. Im März 2013 war das Verfahren noch im Gange.

Die Anklage beschreibt Ergenekon als bewaffnete terroristische Vereinigung mit dem Ziel, durch wirtschaftliche Krisen, ethnische Konflikte und Terrorismus Chaos und Unordnung zu stiften. Dies solle dazu dienen, den Staat zu schwächen und das Land unregierbar zu machen, um die Regierung mit Gewalt stürzen zu können. Die Anklage behauptet, mehrere Medien-Niederlassungen seien entweder zum Zweck der Unterstützung dieser Strategie gegründet, oder von Ergenekon übernommen und geführt worden. Es wird behauptet, dass das ODATV-Nachrichtenportal, unter der Leitung von Yalçın Küçük, einem der Angeklagten im Hauptverfahren gegen Ergenekon, seine Nachrichten zur Beeinflussung der Öffentlichkeit gemäß der Ziele der bewaffneten terroristischen Organisation Ergenekon verbreitete.

Die in der Anklage gegen Ahmet Şık aufgeführten Beweise stützen sich zum Großteil auf den Entwurf eines von ihm verfassten Manuskripts, das als Buch unter dem Titel „Die Armee des Imams“ (Imamın Ordusu) veröffentlicht werden sollte. In dem mittlerweile veröffentlichten Manuskript wird behauptet, dass es innerhalb der staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft ein Netzwerk von Anhänger des türkischen, im Exil lebenden islamischen Gelehrten, Fetullah Gülen, gibt. Dieser unterstütze die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Dem Buch wird nicht vorgeworfen, dass es Ergenekon oder dessen Strategie anpreist, noch dass es Beweise für eine aktive Rolle Ahmet Şıks in der Vereinigung enthält. Die Anklage behauptet, dass das Buch vorbereitet wurde, um die Ziele von Ergenekon zu fördern. Als Beweis wird angeführt, dass ein Entwurf des Buches auf Computern der ODATV gefunden wurde, und dass es zum selben Zeitpunkt in einem ebenfalls auf ODATV-Computern gefundenen Dokument mit dem Titel „nationale Medien 2010“ diskutiert wird.

Die Strafverfolgungsbehörden behaupten, dieses Dokument sei der Strategie-Plan Ergenekons. Die Journalisten, die für ODATV arbeiten und in dem Fall angeklagt sind, weisen diese Anschuldigungen zurück und bezweifeln zudem die Echtheit des Dokuments. Es sei ihnen vielmehr untergeschoben und auf dem Computer hinterlegt worden. Die Anklage wirft ihnen vor, das Buch sei von Ergenekon, einer terroristischen Vereinigung, in Auftrag gegeben worden und der Strategie-Plan verweise als Teil der Strategie auf den Versuch der Vereinigung Ahmet Şık zu beeinflussen. Allerdings enthält das Dokument kein einziges Indiz für eine aktive Rolle Ahmet Şıks innerhalb von Ergenekon.

Zusätzlich zu dem Manuskript und dem Word-Dokument hat die Staatsanwaltschaft als Beweis ein abgehörtes Telefongespräch präsentiert, in dem Ahmet Şık über seine mögliche Verhaftung spricht, nachdem Medien über die Durchsuchungsaktion, bei der sein Buchentwurf auf den ODATV-Computern gefunden wurde, berichtet haben.

Die Polizei durchsuchte sein Zuhause, die Büros seiner Anwälte, das Verlagshaus und die Räumlichkeiten der Zeitung Radikal, bei der zuvor arbeitete, um Kopien seines bis dato unveröffentlichten Buches zu konfiszieren. Es wurden weder bei den Durchsungen noch den abgehörten Telefongesprächen Beweise für eine Verbindung von Ahmet Şık zu Ergenkon oder auch nur zu ODATV gefunden.

Ahmet Şık sieht sich außerdem der Anklage ausgesetzt wegen einer Aussage nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft. Darin kritisierte er seine Anklage als politisch motiviert und ungerecht. Sie basiere zudem nur auf seiner Arbeit als Journalist. Laut Anklage habe er folgendes gesagt: „…Ich spreche ausschließlich darüber, wo wir waren und ich werde da weitermachen, wo ich aufhören musste. Ab jetzt beginnt der Krieg, falls es ein Krieg ist. Jeder sollte wachsam sein. Hier herrscht keine Gerechtigkeit. Diejenigen, die sich die Konspiration ausgedacht haben, landen im Gefängnis.“ Die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass diese Aussage als eine Drohung an das Justizwesens zu verstehen ist: „(…) in dem Zusammenhang mit der gesamten Ermittlung ist der oben genannte Ausschnitt der Äußerung des Angeschuldigten so zu verstehen, dass er damit die Grenzen der Kritik und der Meinungsfreiheit überschritten hat und dass die Drohung desjenigen, der als Mitglied einer terroristischen Vereinigung inhaftiert und angeklagt ist, über das hinausgeht, was individuelle Stärke ausmacht, indem er sich der furchteinflößenden Macht bedient, die von bestehenden oder vermeintlich bestehenden Vereinigungen ausgeht; mittels seiner Beleidigungen er greift er Ehre, Würde und Respekt von Amtsträgern an, die so Opfer der Verleumdungen werden, indem er ihnen eine konkrete Handlung oder Tatsachen zuschreibt. Die wiederholten Handlungen des Verdächtigen zeigen seine gefestigte Absicht, diese Straftat zu begehen. Dies alles ist beachtlich.“ Die Grundlage der Anschuldigung ist die Vermutung, Ahmet Şık sei Teil von Ergenekon, „einer bewaffneten terroristischen Vereinigung“, die sich gewalttätiger Methoden bedient, und dass er letztlich auf gewalttätiges Handeln anspiele, indem er das Wort „Krieg“ als Euphemismus für das Verhalten der Justiz benutzt. Die Anschuldigung berücksichtigt nicht seine Äußerung, er sei Opfer einer politisch motivierten Anklage auf Grund seiner Arbeit als Journalist.

Auf Grund seiner Äußerung wurde Ahmet Şık auch gemäß Artikel 106 des Strafgesetzbuchs wegen Drohungen, die Gewalt beinhalten, angeklagt, da die Äußerungen „Richter und Staatsanwälte als Ziel von Anschlägen oder Drohungen einer terroristischen Vereinigung kennzeichnen“.

Die Beweise für „vorsätzliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung”, die im Fall von Nedim Şener präsentiert wurden, bestehen aus einem abgehörten Telefongespräch mit einem Angestellten von ODATV, der ihn wegen einer Geschichte für die Zeitung anrief, und einem Gespräch zwischen Şener und den ODATV-Angeschuldigten Hanife Avcı und Soner Yalcin über Themen, die sich nicht auf Straftaten bezogen. Die Anklage behauptet auch, dass die Polizei in den elektronischen Archiven von ODATV eine Kopie des Buchentwurfs von Nedim Şener – “Fetullah Gülen und seine Anhänger laut der Ergenekon-Dokumente” – gefunden habe. Dies sei Beweis für seine Beteiligung an der medialen Struktur Ergenekons. Das bereits oben erwähnte streitgegenständliche Word-Dokument verweist auf „Nedim“, was als Bezug auf Nedim Şener verstanden wird und laut Anklage den Schluss zulasse, er mache bei der Ergenekon, der „bewaffneten terroristischen Vereinigung“, mit. Darüber hinaus wird Nedim Şener angeschuldigt, für Ergenekon am Buch der ODATV-Angeschuldigten Hanife Avcı „“Halicte yasayan Simonlar“, welches das Netzwerk der Fetullah Gülen-Anhänger im Staat aufdeckt, und an Ahmet Şıks Buch „Die Armee des Imams“ mitgewirkt zu haben.

Artikel 7/2: Propaganda für eine terroristische Organisation
Wortlaut des Artikels im englischen Text.

Durch die weitgefassten Formulierungen und die vorherrschenden Haltungen von Staatsanwälten und Richtern wird bei der Anwendung dieses Artikels häufig nicht zwischen der durch die Meinungsfreiheit geschützten Unterstützung politischer Ziele, die auch von terroristischen Organisationen verfolgt werden können, und richtigerweise strafbewehrten Äußerungen, die gewalttätige Handlungen und Methoden fördern, unterschieden.

Das „Vierte Gesetzes-Paket“ enthält Änderungen (Wortlaut im englischen Text), die den Anwendungsbereich des Artikels einschränken und manchen Arten von Missbrauch vorbeugen können. Die vorgeschlagene Formulierung enthält jedoch immer noch vage Konzepte zu Drohung und Nötigung ohne Verbindung zu Gewalttätigkeit. Es bleibt daher die Gefahr, dass der Artikel zur Verfolgung von Äußerungen benutzt wird, die keinen Aufruf zu Gewalt enthalten. Der höchst problematische Absatz b) bliebe in Kraft, und damit auch der heute möglichen Missbrauch, wie im Fall von Sultani Acıbuca (siehe oben).
Der Absatz b) sollte daher vollständig abgeschafft und der erste Absatz um die ausdrückliche Anforderung der Propagierung gewalttätiger strafbarer Methoden ergänzt werden.

In den von Amnesty International untersuchten Fällen stehen die Strafverfolgung von Journalisten in den wichtigen nationalen Medien häufig in Zusammenhang mit Kommentaren über Rechte von Kurden und Kurdenpolitik. Insbesondere führen mit der PKK verbundene Themen, Interviews mit PKK-Führern oder die Veröffentlichung von Äußerungen der PKK oder anderer bewaffneter Gruppen zu Strafverfolgung. Einige Herausgeber und Journalisten, die in pro-kurdischen Zeitungen veröffentlicht haben, wurden mehrfach nach Artikel 7/2 und anderen terrorbezogenen Vergehen wie dem Artikel 6/2 des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt, obwohl die Schriften weder Gewalt unterstützten noch zu Hass aufriefen. Gerichte haben Urteile nach Artikel 7/2 „Propaganda für eine terroristische Organisation“ verhängt, wobei die zulässigen Einschränkungen der Meinungsfreiheit im internationalen Recht falsch ausgelegt und die Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ignoriert wurden. (Beispiele im englischen Text)

Amnesty International fordert die türkischen Behörden auf, Artikel 7/2 zu ergänzen, so dass er in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards nur noch Unterstützung von Gewalt unter Strafe stellt.

2008 hat Aydin Budak, Bürgermeister von Cizre, einer Stadt im Südosten der Türkei, eine Rede gehalten. Darin schrieb er die verbesserte Situation in der Türkei der einseitig von der PKK erklärten Waffenruhe zu und bemängelte, dass der Staat nichts zur Verbesserung der Situation beitrage. Auch kritisierte Aydin Budak den Staat dafür, dass ihm das Aushandeln eines Friedensschluss misslungen sei, und dass er die von der PKK angebotenen Möglichkeiten zur Verhandlung übergangen hat. Am 20. Mai 2008 wurde Aydin Budak gemäß Artikel 7/20 des Anti-Terror-Gesetzes wegen „Propaganda für eine bewaffnete Organisation“ verurteilt. In der Urteilsbegründung schlussfolgerte das Gericht, dass die Rede (das einzige Beweisstück) einer öffentlichen Provokation zu einem terroristischen Angriff gleichkam und verwies auf die Vorgaben des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung von Terrorismus. Demnach setze auch das Übereinkommen keine direkte Befürwortung eines terroristischen Angriffs voraus. Allerdings lieferte das Gericht keinen Beweis für eine Absicht, zur Gewalt anzustiften, wie es das Übereinkommen vorsieht. Vielmehr berief es sich ausschließlich auf den Wortlaut der Rede, welcher ausdrücklich die Waffenruhe befürwortet.

Das Gericht entschied, dass die Rede Propaganda für die gewalttätigen Aktionen und Methoden der PKK darstelle, indem sie bezugnehmend auf Mitglieder der PKK von Friedensbotschaftern spricht und feststellt, dass eine Verhandlung mit Abdullah Öcalan unerlässlich sei. Das Gericht verurteilte ihn nach einer Reduzierung zu zehn Monaten Haft und sprach ihm seine Rechte ab, sich zur Wahl zu stellen und öffentliche Ämter innezuhaben. Die Verurteilung und das Strafmaß wurden vom höchsten Berufungsgericht im März 2012 bestätigt. Im Februar 2013 war der Fall noch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.

Artikel 6/2: Drucken oder Veröffentlichen von Erklärungen oder Äußerungen terroristischer Organisationen

Artikel 6/2 des türkischen Strafgesetzes stellt das „Drucken oder Veröffentlichen von Erklärungen oder Äußerungen terroristischer Organisationen“ unter Strafe . Das Strafmaß beträgt zwischen ein bis drei Jahren Gefängnis. Artikel 6/2 ist in der aktuellen Fassung noch breiter formuliert als Artikel 7/2. Er bezieht sich nicht auf den Inhalt der Äußerung der wie auch immer gearteten „terroristischen“ Organisation, oder die Absicht der veröffentlichenden Herausgeber. Der Artikel ist so unspezifisch gefasst, dass er zur Strafverfolgung jeder Äußerung eines Vertreters einer als „terroristisch“ angesehenen Organisation eingesetzt werden kann, unabhängig von ihrem Inhalt oder dem Kontext, in dem sie zitiert wird. Er stellt eine übermäßige Einschränkung der Meinungsfreiheit dar, und wird auch so angewendet.

Der Entwurf des „Vierten Gesetzes-Pakets“ enthält folgende Änderung des Artikel 6/2 (Änderungen in Fettschrift):
„Wer Erklärungen oder Äußerungen terroristischer Organisationen druckt oder veröffentlicht, die Nötigung, Gewalt oder Drohungen darstellen, indem sie die Anwendung dieser Methoden legitimieren oder preisen oder zu ihrer Anwendung ermutigen, wird mit Gefängnis von ein bis drei Jahren bestraft.“

Die vorgeschlagene Änderung spiegelt diejenige des Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes wider und hat dieselben Schwächen. Sie engt zwar die Vergehen ein, um der Strafverfolgung jeder Veröffentlichung beliebiger Äußerungen einer bewaffneten Gruppe, unabhängig von ihrem Inhalt, vorzubeugen, bleibt jedoch zu breit definiert und daher anfällig für Missbrauch. Die Anklage von Personen, die Äußerungen veröffentlichen ohne dabei zu Gewalt aufzurufen, wäre immer noch möglich. Auch in der geänderten Fassung würde der Artikel 6/2 Einschränkungen der Meinungsfreiheit enthalten, die nach internationalem Recht nicht zulässig sind. Amnesty International empfiehlt daher die Aufhebung dieses Artikels: Er kann missbraucht werden und verfolgt keinen legitimen Zweck, der nicht mit anderen Artikeln des Strafgesetzes erreicht werden könnte.

In verschiedenen von Amnesty International untersuchten Fällen, bei denen Anklage nach Artikel 6/2 wegen „Drucken oder Veröffentlichen von Äußerungen terroristischer Organisationen“ erhoben wurde, haben die Gerichte sich nicht bemüht, den Widerspruch zu den Kriterien der zulässigen Einschränkungen der Meinungsfreiheit im internationalen Recht zu rechtfertigen.

Der Fall von Ziya Çiçekçi ist ein typisches Beispiel für die mit dem internationalen Recht unvereinbare Anwendung des Artikels 6/2. Ziya Çiçekçi wurde für einen Zeitungsartikel verurteilt, der nicht zu Hass oder Gewalt aufrief.

2010 hat das 17. Istanbuler Sondergericht für schwere Strafen die Zeitungsredakteurin Ziya Çiçekçi wegen „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ gemäß Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt. Das Urteil bezog sich auf zwei Artikel, die die pro-kurdische Zeitung „Günlük“ veröffentlichte. Einer trug den Titel „Sagt Stopp zu den Militäroperationen“ und lehnte Militäroperationen gegen die PKK ab. Der andere hieß „PKK; Heißt es Pekeke oder Pekaka?“ und verwies auf die jeweilige kurdische und türkische Aussprache der PKK. Die Autorin vertrat die Ansicht, dass die, die Pekeke (kurdische Aussprache) sagen, eher für den Frieden sind als die anderen. Dieser Artikel stellt eine Analyse und Kritik dar, die nicht zu Gewalt aufrufen. Das Gericht zitiert „Sagt Stopp zu den Militäroperationen“:

„Sie [die Militäroperationen] unterstützen die Denkweise des Staates, die darauf abzielt, das Problem durch Zerschlagen der Kurdischen Freiheitsbewegung zu lösen. Die Haltung, dass dies seine Wurzeln im Hass Öcalans und der PKK habe, und die besagt, dass das Problem sehr viel leichter gelöst werden würde, „würde die PKK nicht existieren und die Guerilla nicht kämpfen“, ist grotesk.“

Das Gericht zitiert aus dem folgenden Abschnitt des Artikels „PKK; Heißt es Pekeke oder Pekaka?“, um das Tatbestandsmerkmal der „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ zu begründen:

„Es gibt tatsächlich diese Wahrheit: Die, die der Ansicht sind, dass die Kurdische Frage demokratisch gelöst werden oder dass die Rechte der Kurden durch Gesetz gewährleistet werden sollen, sprechen die PKK grundsätzlich Pekeke aus. Die, die nicht wollen, dass die Kurdische Frage gelöst wird, sprechen sie “Pekaka“ aus.“

Diese Aussagen dienten als Grundlage dafür, dass das Gericht Ziya Çiçekçi zu einer Haftstrafe auf ein Jahr und sechs Monate verurteilte. Im Februar 2013 war der Fall noch beim höchsten Berufungsgericht anhängig. Ziya Çiçekçi wurde außerdem nach Artikel 6/2 des Anti-Terror-Gesetzes wegen „Abdrucken und Veröffentlichen von Erklärungen oder Äußerungen einer terroristischen Vereinigung“ verurteilt Er ist zudem im Rahmen des KCK-Prozesses angeklagt, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Bei einer Anhörung im Februar 2013 wurde er nach 14 Monaten Untersuchungshaft entlassen.

Empfehlungen

Amnesty International drängt die türkische Regierung

• Artikel 301 des Strafgesetzes (Verunglimpfung der türkischen Nation) aufzuheben
• Artikel 318 des Strafgesetzes (Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst) aufzuheben
• Artikel 215 des Strafgesetzes (Loben eines Verbrechens oder eines Verbrechers) aufzuheben
• Artikel 125 des Strafgesetzes (Beleidigung als Straftat) aufzuheben
• In Artikel 216 des Strafgesetzes (Aufstachlung zu Hass oder Feindseligkeit) die Absätze 2 und 3 aufzuheben, um sicherzustellen, dass nur Aufstachlung zu Gewalt strafverfolgt wird
• Die Definition von „Terrorismus“ in Artikel 1 des Anti-Terror-Gesetzes zu ändern und sie in Übereinstimmung mit der vom Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte bei der Bekämpfung von Terrorismus vorgeschlagenen Definition zu bringen
• Artikel 220/6 des Strafgesetzes (Begehen eines Verbrechens im Namen einer Organisation) aufzuheben
• Artikel 6/2 des Anti-Terror-Gesetzes (Drucken oder Veröffentlichen von Erklärungen/Äußerungen einer terroristischen Organisation) aufzuheben
• Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes (Propaganda für eine terroristische Organisation) zu ändern, damit nur Aufstachlung zu Gewalt verboten wird
• Leitlinien für Staatsanwälte zur Anwendung von Artikel 220/7 des Strafgesetzes zu verabschieden mit klaren Kriterien, nach welchen die Unterstützung einer bewaffneten Gruppe strafverfolgt werden kann, wie beispielsweise dass eine solche Unterstützung entweder selbst eine Straftat darstellt oder direkt mit der Planung und Ausführung einer solchen verbunden ist.
• Artikel 26 der Verfassung so zu ändern, dass die zulässigen Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung internationalen Menschenrechtsstandards entsprechen