Türkei: Europäische Regierungen müssen ihren Druck erhöhen

Eine Gruppe von Personen steht vor dem Brandenburger Tor und trägt Pappmasken mit dem Gesicht von Eren Keskin und hält Schilderin den Händen.

Amnesty demonstrierte am 9. Aril 2019 in Berlin für die türkische Menschenrechtlerin Eren Keskin und die Pressefreiheit in der Türkei.

Die türkische Regierung verletzt fortwährend Menschenrechte und inhaftiert Personen, die ihr kritisch gegenüberstehen. Jüngst ignorierte sie ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, den bekannten Kulturförderer Osman Kavala freizulassen. Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International, fordert in seinem Beitrag von den europäischen Regierungen, endlich den politischen Druck auf die Türkei zu erhöhen.

Die Missachtung der Menschenrechte durch die Türkei ist in jüngster Zeit besonders schamlos geworden. Die Türkei steckt weiterhin zu Unrecht Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen, protestierende Studierende und Social-Media-Aktivist_innen ins Gefängnis. Gleichzeitig verschärft sie die politische Verfolgung und ignoriert Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), grundlos inhaftierte Personen freizulassen.

Es ist an der Zeit, dass europäische Regierungen den Druck erhöhen und von der Türkei die Einhaltung ihrer Verpflichtungen einfordern. Sie sollten sich nicht von den hochtrabenden Erklärungen in dem lang erwarteten Aktionsplan für Menschenrechte blenden zu lassen, den der türkische Präsident Erdoğan am 2. März 2021 angekündigt hat. Die umfassende Aushöhlung des Justizsystems lässt sich nur durch eine grundlegende Reform rückgängig machen.

Angehörige der türkischen Regierung haben sich lange Zeit bemüht, mit dem EGMR – dem in Straßburg ansässigen Gericht, das zum Europarat mit seinen 47 Mitgliedstaaten gehört – zu kooperieren. Auch wenn die Türkei weder ihre Gesetze noch ihre Vorgehensweise geändert hat, um wiederholte Verstöße zu verhindern, zeigte sie im Allgemeinen Respekt vor den Regeln. Sie achtete das  Ministerkomitee – das Gremium, das sich aus den Stellvertreter_innen der Außenminister_innen zusammensetzt und mit der Umsetzung von Urteilen des EGMR betraut ist – und kooperierte damit. Doch diese Zeiten sind vorbei.

Osman Kavala setzt sich für die Zivilgesellschaft in der Türkei ein (Archivfoto vom März 2017).

Ein deutliches Zeichen für die Abkehr der Türkei vom “business as usual” war ihre Weigerung, zwei führende Persönlichkeiten freizulassen, die seit mehr als drei bzw. vier Jahren zu Unrecht inhaftiert sind – Osman Kavala, Philanthrop und wichtiger Protagonist der türkischen Zivilgesellschaft, und Selahattin Demirtaş, ein Oppositionsführer. Beide kenne ich persönlich.

Der Europäische Gerichtshof, dessen Urteile die Türkei als bindend anerkannt hat, hat Urteile gefällt, in denen die sofortige Freilassung beider Männer gefordert wird. In den Urteilen, die eine Verletzung des selten angeführten Artikels 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention feststellen, befindet der Gerichtshof, dass ihrer Festnahme und Inhaftierung “ein Hintergedanke” zugrunde liegt, nämlich sie zum Schweigen zu bringen und den Pluralismus zu unterdrücken. Kurz gesagt, der EGMR ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich hier um Fälle politischer Verfolgung handelt.

Das Ministerkomitee hat bereits drei Mal die Freilassung von Osman Kavala gefordert, der sich seit Oktober 2017 in Haft befindet. Das Gleiche wird es wohl für Selahattin Demirtaş tun, wenn es im März wieder zusammenkommt.

Die Zeit des Zögerns und Zauderns ist vorbei.

Die Antwort der Türkei bestand darin, dem Rest Europas ins Gesicht zu spucken, indem sie neue, unbegründete Anklagen gegen beide Männer erhob, was den eindeutig politischen Charakter der Fälle zeigt. Zuerst beschuldigten die Behörden Osman Kavala, die Gezi-Proteste organisiert zu haben – Massendemonstrationen gegen ein städtisches Entwicklungsprojekt im Jahr 2013. Als Kavala von einem Gericht freigelassen wurde, nahmen die Behörden ihn umgehend wieder fest, weil er angeblich hinter dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 stehe.

Obendrein beschuldigten sie ihn auch noch der “Spionage”. Doch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist eindeutig – es gibt keine Beweise, um Osman Kavala wegen der ersten beiden Anklagen in Haft zu behalten. Was die jüngste Anklage wegen “Spionage” betrifft, so wurden bisher ebenfalls keine glaubwürdigen Beweise vorgelegt. Diese “fantasievollen” Anschuldigungen gegen Osman Kavala wären einfach nur lächerlich, würden sie nicht auf zutiefst ungerechte Weise dazu benutzt werden, ihn seiner Freiheit zu berauben.

Der Fall von Selahattin Demirtaş sieht ähnlich aus. Er ist ein führender Politiker der Demokratischen Volkspartei (HDP), der zweitgrößten Oppositionspartei, und befindet sich unter dem haltlosen Vorwurf des “Terrorismus” in Untersuchungshaft. Zur gleichen Zeit, als der Europäische Gerichtshof im Dezember 2020 sein endgültiges Urteil zu Selahattin Demirtaş’ Gunsten fällte, wurde eine neue, mehr als 3000-seitige Anklageschrift gegen ihn und 107 weitere Personen von einem türkischen Gericht angenommen. Die türkischen Behörden scheinen bereit zu sein, alles zu tun, um seine Freilassung zu verhindern, da der Wahlkampf bald beginnt und die regierende AKP darauf bedacht zu sein scheint, jegliche Konkurrenz auszuschalten.

 

Was können der Europarat und seine Mitgliedstaaten tun, wenn ein Land seine Verpflichtungen aus der Europäischen Konvention so schamlos missachtet? Ein Instrument – die Einleitung eines “Vertragsverletzungsverfahrens” gegen einen uneinsichtigen Staat – kam bisher nur einmal zum Einsatz, und zwar im Fall Ilgar Mammadov gegen Aserbaidschan. Amnesty International fordert alle EU-Mitgliedstaaten auf, ein solches “Vertragsverletzungsverfahren” gegen die Türkei einzuleiten, um ein entschlossenes Vorgehen der EU gegen politische Verfolgung zu zeigen.

Ein weiterer Schritt bestünde in der Einleitung einer Sonderuntersuchung durch die Generalsekretärin, die politische Spitze des Europarats, um festzustellen, warum diese Urteile nicht umgesetzt werden. Dieses Instrument wurde in den letzten 20 Jahren nur viermal eingesetzt, zuletzt wieder im Fall Ilgar Mammadov gegen Aserbaidschan.

Auch der Parlamentarischen Versammlung und den Kontrollmechanismen stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, um Druck auf einen uneinsichtigen Mitgliedstaat auszuüben. Den Mitgliedstaaten wird bewusst sein, dass die Türkei mit am stärksten von den Kooperationsmaßnahmen des Europarates profitiert, die sich jedes Jahr auf Millionen von Euro belaufen. Sie haben also die Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre finanziellen Beiträge sie nicht zu Komplizinnen einer Regierung machen, die das gesamte Menschenrechtssystem untergräbt und sich politischer Verfolgung schuldig macht.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, gegenüber einem großen Mitgliedstaat, der seine Verpflichtungen ernsthaft verletzt, eine konsequente Haltung einzunehmen. Ich war von 2012 bis 2018 Menschenrechtskommissar des Europarats. Als Kommissar habe ich nicht nur harte Diskussionen mit den türkischen Behörden geführt und eine Reihe von sehr kritischen Berichten verfasst, sondern auch versucht, die Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, härtere Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Türkei und andere Länder ihren Verpflichtungen nachkommen.

Diese als “konfrontativ” empfundene Taktik stieß häufig auf Widerstand. Die türkischen Behörden haben jedoch gezeigt, dass kein noch so umfassender Dialog diese Männer befreien wird. Sie sind unschuldig und müssen freigelassen werden. Die Zeit des Zögerns und Zauderns ist vorbei. Es ist unmöglich, so zu tun, als würde die Türkei weiterhin kooperieren und ihren Verpflichtungen nach bestem Wissen und Gewissen nachkommen.

 

 

15. März 2021