Asylgutachten: Mitgliedschaft bei der PKK

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13.10.2005 	        VG 36 X 4.03 	EUR 44-05.036 	10.05.2006

Sehr geehrter Herr Samel,

vielen Dank für Ihre Anfrage. Ihre Fragen aus dem Beweisbeschluss vom 5. Oktober 2005, beantworten wir wie folgt:

Frage 3) Ist es denkbar, dass Personen, die wegen des Verdachts der Mitgliedschaft und Unterstützung/Unterschlupfgewährung angeklagt worden sind und deren Verfahren unter Anwendung der Regelungen des Gesetzes 4616 ausgesetzt worden ist, weiter mit Schwierigkeiten, Repressionen durch Polizei und Justiz zu rechnen haben?

Schwierigkeiten mit der Justiz sind in einem derartigen Fall nicht zu erwarten, solange keine neuen Tatvorwürfe vorliegen. Es kommt jedoch weit verbreitet vor, dass Personen, die als Regimegegner bekannt sind und der möglichen Unterstützung oppositioneller (bewaffneter) Organisationen verdächtigt werden, immer wieder Repressionen durch Polizei oder Gendarmerie ausgesetzt sind, bis hin zu Festnahmen oder auch Folterungen oder Misshandlungen außerhalb regulärer Polizeihaft.

Frage 4) Wie ist in diesem Zusammenhang der Umstand zu bewerten, dass im Falle der Klägerin zu 1) die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, die Klägerin wegen Beweismangels freizusprechen?

Wie in der Antwort zu Frage 3) erläutert, setzen Repressalien durch die Polizei nicht unbedingt voraus, dass gegen die betreffende Person gerichtsfeste Belege für einen bestimmten Tatvorwurf existieren.

Frage 5) Ergibt sich in diesem Zusammenhang etwas anderes daraus, dass der Ehemann der Klägerin während dieser Zeit eine neuneinhalbjährige Haftstrafe wegen der Mitgliedschaft in einer illegalen, bewaffneten, separatistischen Terrororganisation verbüßte?

Diese Tatsache könnte einen Verdacht auf sie lenken, sie bietet aber keinen Anhaltspunkt für eine Strafverfolgung (s. auch Antwort zu Frage 6).

Frage 6) Ergibt sich etwas anderes für den Fall der Abschiebung in die Türkei. Müssen die Klägerinnen auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Ehemann und Vater nach der Verbüßung seiner Haftstrafe ausgereist und in der Schweiz als Asylberechtigter anerkannt wurde und/oder der Bruder der Klägerin nach den Angaben der Klägerin derzeit eine Haftstrafe im Gefängnis von Kocaeli wegen der Unterstützung der PKK verbüßt, mit Repressalien rechnen?

Aus der Falldarstellung entsteht der Eindruck, dass die Klägerin zu 1) sich zumindest unterstützend an Aktivitäten der PKK beteiligt hat und mehrere Personen aus ihrer eigenen und der Familie ihres Mannes ebenfalls diesem politischen Umfeld zuzurechnen sind, bzw. in weit intensiverem Maße als die Klägerin aktiv waren (oder ggf. sind). Die Folterungen und permanenten Repressionen gegen die Klägerin zu 1) erfolgten offenbar – abgesehen von den entsprechenden endemischen Verhaltensmustern der türkischen Polizei und den dort verbreiteten Hassgefühlen gegen PKK-Anhänger – mit dem Ziel, aus der Klägerin Informationen über ihr politisches Umfeld zu pressen, möglicherweise auch in der Annahme, die Klägerin sei in weit stärkerem Maße in die Organisation eingebunden als es ihr nachweisbar war. Aus diesen Umständen allein ergibt sich nicht die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung. Repressalien durch die Polizei sind jedoch weiterhin denkbar. Angesichts der zwar begrenzten, aber doch unbestreitbaren Fortschritte im Menschenrechtsbereich sowie der zwischenzeitlichen Entwicklungen in der Auseinandersetzung zwischen türkischem Staat und PKK allerdings wahrscheinlich nicht in der Intensität und Brutalität wie in den 1990er Jahren. Es ist aber davon auszugehen, dass die Klägerinnen bei einer Abschiebung in die Türkei einem polizeilichen Verhör unterzogen werden wird, was – auch ohne physische Misshandlungen – auf die Klägerin zu 1) sicherlich ein höchst traumatisierende Wirkung haben könnte.

Frage 7) Ist es denkbar, dass einer Person in der Situation der Klägerin zu 1) durch die türkischen Behörden ein Reisepass ausgestellt wird, bzw. im Jahre 2001 ausgestellt wurde und sie mit einem deutschen Schengen-Besuchsvisum über den Flughafen Istanbul ausreisen konnte?

Da gegen die Klägerin zu 1) gemäß der Falldarstellung 2001 weder eine Verurteilung noch ein Haftbefehl vorlag, war rechtlich die Ausstellung eines Reisepasses und eine legale Ausreise möglich. Wahrscheinlich war es aber auch zu der Zeit in der Türkei für Personen, die als „verdächtig“ galten, mit Schwierigkeiten verbunden, einen Reisepass zu erhalten. Derartige Schwierigkeiten können und konnten aber oft mit Zahlung von Bestechungsgeld behoben werden.

Frage 8) Wie ist die soziale und materielle Situation alleinstehender Mütter und Kinder, die sich (im Ausland) von ihrem Ehemann getrennt haben und sich nicht auf den Rückhalt ihrer Familie bzw. der Familie des Ehemannes verlassen können, im Falle einer Rückreise in die Türkei zu beurteilen?

Diese Situation ist äußerst problematisch, da die Klägerin zu 1) angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in der Türkei und ihrer gesundheitlichen Situation kaum eine Chance haben wird, eine Arbeit zu finden. Wie weit eine konkrete Verfolgungsgefahr (Ehrenmord) durch die Familie des Ex-Mannes besteht, geht aus der Falldarstellung nicht hinreichend deutlich hervor, um dazu Stellung nehmen zu können, aber theoretisch ist auch diese Gefahr gegeben.

Frage 9) Wie stellt sich die derzeitige Versorgungssituation für psychiatrische Patienten bzw. Folteropfer, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkrankt sind, in der Türkei dar? Ist die Situation von solchen aus dem Ausland in die Türkei zurückkehrenden Personen anders zu beurteilen? Gibt es Besonderheiten für alleinstehende Mütter?

Grundsätzlich ist amnesty international der Auffassung, dass Personen, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen – wie die Klägerin zu 1) – traumatisiert sind, nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden dürfen, da sie damit einer Retraumatisierung und damit einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt werden.

Für Menschen mit psychischen (und physischen) Erkrankungen aufgrund erlittener Folter stehen die Behandlungszentren der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) in Ankara, Adana, Istanbul, Izmir und Diyarbakir zur Verfügung. Für Menschen, die nicht in oder in der Nähe von einem dieser Orte leben, ist eine Behandlung natürlich mit organisatorischen und finanziellen Schwierigkeiten verbunden. In Notfällen übernimmt die TIHV zwar auch die Reisekosten für Patienten, dies kann jedoch im Falle der Notwendigkeit einer längeren psychotherapeutischen Behandlung sowohl aus finanziellen Gründen als auch vor allem wegen der damit verbundenen Belastung für die Patienten kaum eine Lösung sein.

Zumindest in größeren Städten gibt es in der Türkei niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten, bei denen aber eine Behandlung in der Regel nur gegen private Zahlung möglich ist.

Türkische Staatsangehörige, deren Einkommen ein Drittel des gesetzlichen Mindestlohnes (der Mindest­lohn liegt derzeit bei monatlich 190 Euro) nicht überschreitet, die keinen Anspruch auf Leistungen irgend­einer Sozialversicherung haben und über kein Vermögen verfügen, haben Anspruch auf Aus­stellung einer „Yeşil Kart“ (Grüne Karte), die zu kostenloser ambulanter und stationärer Behandlung in staatlichen Krankenhäusern, Kostenübernahme für lebensnotwendige Medikamente, Zahnbehandlung (nur Ziehen und notwendige Füllungen oder Prothesen einfacher Ausführung) und Versorgung mit Sehhilfen berechtigt. Diese Karte ist aber sehr schwierig zu erlangen (dazu siehe unten Länderkurzbericht von ai vom Juli 2005).

Die Übernahme psychiatrischer Behandlungen ist im Gesetz und den Ausführungsbestimmungen nicht aufgeführt. Es ist anzunehmen, dass eine Intervention bei akuten, schweren psychotischen Krisen durch medikamentöse Behandlung auch im Rahmen der Behandlung mit der Yeşil Kart vorgenommen wird, die Übernahme einer längeren psy­cho­therapeutischen Behandlung ist jedoch schwer vorstellbar, da die Bestimmungen über die Versor­gung mit der Yeşil Kart generell auf eine Minimalversorgung ausgerichtet sind.

Konkrete Informationen hierzu liegen jedoch nicht vor. Von den Ärzten und Psychiatern der TIHV konnte amnesty international bisher niemand über Erfahrungen mit der Behandlung Traumatisierter in staatlichen Krankenhäusern berichten. Sie sagten, Menschen mit Traumatisierungen durch Folter würden sich nicht an die staatlichen Gesundheitsinstitutionen wenden, da sie in diese kein Vertrauen hätten. Die dort tätigen Ärzte seien Staatsbeamte und sie könnten nicht sicher sein, dass ihre Geschichte vertraulich behandelt würde und sie müssten evtl. damit rechnen, gegenüber Oppositionellen oder Kurden feindselig eingestellte Ärzte zu treffen.

Die Frage, ob eine psychiatrische Behandlung von traumatisierten Folteropfern in staatlichen Krankenhäusern und für mittellose Patienten möglich ist, kann also nicht auf der Grundlage konkreter Erfahrungen beantwortet werden.

In den staatlichen Krankenhäusern gibt es außerdem normalerweise keine Ärzte, die auf die Behandlung von Folteropfern spezialisiert sind.

Einschub aus dem Länderkurzbericht vom Juli 2005:
Für viele Menschen ist es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, sich die Grüne Karte ausstellen zu lassen. Der Antrag muss in dem Ort gestellt werden, in dem die Person registriert ist. Menschen, die in ihrer Heimatregion politische Verfolgung zu fürchten haben, im Asylverfahren aber auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen wurden, sind somit vor die Alternative gestellt, entweder auf medizinische Versorgung oder auf die angebliche inländische Fluchtalternative verzichten zu müssen. Außerdem wird in der Presse und in den Berichten der Menschenrechtsstiftung der Türkei immer wieder berichtet, dass vor allem Kurden, bei denen von einer oppositionellen Einstellung ausge­gan­gen wird, die Ausstellung der Grünen Karte verweigert wird. Nach Berichten der TIHV betrifft dies vor allem Mitglieder der pro-kurdischen Partei DEHAP und Angehörige von PKK-Mitgliedern.

Kurden, die aus ihren Dörfern fliehen mussten, haben oft auch das Problem, dass im Grundbuch Häuser oder Land auf ihren Namen eingetragen ist. Dies führt dazu, dass ihnen die Grüne Karte verweigert wird, auch wenn ihr Haus zerstört und ihr Land von Dorfschützern in Beschlag genommen wurde, sodass sie ihren auf dem Papier existierenden Besitz real nicht nutzen können. Erhebliche Probleme haben auch Menschen, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden und nirgends einen registrierten Wohnsitz haben. Nach Aussage der TIHV bekom­men in den kurdischen Gebieten ca. 70 % der Antragsteller die Yeşil Kart nicht.

Ergänzung:

Im Fall der Klägerin zu 1) wäre es möglich, dass ihr eine Grüne Karte verweigert wird, falls ihre Eltern noch irgendwo in einem Dorf auf ihren Namen registrierten Grundbesitz haben.

Der Antrag auf eine Grüne Karte muss in dem Heimatort gestellt werden. Da in der Türkei die Menschen generell auf nach Umzügen in ihrem Geburtsort registriert sind, wäre dies im Fall der Klägerin zu 1) wahrscheinlich A. in der Provinz Tunceli. Der Antrag auf die Grüne Karte muss nach der Beschaffung der Nachweise über die Mittellosigkeit und darüber, dass kein Versicherungsverhältnis besteht, von der zuständigen Polizei- oder Gendarmeriestation gegengezeichnet werden. Auch dieses Procedere zu durchlaufen, wird für die Klägerin angesichts ihrer psychischen Situation kaum möglich sein.

Die Ärzte und Psychiater der TIHV betonten, dass es eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie sei, dass die Patienten ein Gefühl der Sicherheit entwickeln können. Dies ist natürlich auch bei den Patienten, die die Türkei nie verlassen haben, oft gegeben, für Abgeschobene kommt aber die erneute Konfrontation mit der traumatisierenden Situation und die soziale Entwurzelung hinzu.

Mit freundlichen Grüßen
Amke Dietert
Koordinationsgruppe Türkei

Für die Richtigkeit
Dr. Julia Duchrow
Türkeireferentin

– Anlage Länderkurzbericht zur Türkei von amnesty international vom Juli 2005