Ihre Nachricht vom: Ihr Zeichen: Unser Zeichen: Berlin, den: 25.07.2006 AN 16 K 03.30309 EUR 44-06.019 29.10.2006
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Ihre Fragen aus dem Beweisbeschluss vom 22. Juni 2006, eingegangen bei amnesty international am 26. Juli 2006, beantworten wir wie folgt:
Der kurdische Fernsehsender ROJ-TV, der bis 2004 unter dem Namen Medya-TV aus Frankreich sendete und nun seinen Sitz in Kopenhagen hat, wird von der türkischen Regierung als Sprachrohr der PKK betrachtet. Die türkische Regierung hat fortlaufend versucht, gegen Medya- und ROJ-TV vorzugehen. Zuletzt wurde die dänische Regierung aufgefordert, ROJ-TV zu schließen.
56 kurdische Bürgermeister, die sich mit der Bitte an die dänische Regierung gewendet hatten, den Sender nicht zu schließen, wurden von der Staatsanwaltschaft angeklagt. Die Anklage stützt sich auf Artikel 220 des Strafgesetzbuches, der die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung mit hohen Haftstrafen bedroht.
Es ist bekannt, dass pro-kurdische Zeitungen und Fernsehsender von türkischen Sicherheitskräften beobachtet werden. Weiterführend hierzu: Osman Aydin, Sachverständigengutachten für VG Greifswald vom 20.4.2004.
In der Türkei wurden und werden fortlaufend Ermittlungsverfahren gegen Personen eingeleitet, die sich in Beiträgen auf Sendern wie Medya -TV oder ROJ -TV geäußert haben.
In vielen dieser Fälle kommt es auch zu Anklageerhebungen und Verurteilungen.
So verurteilte das Amtsgericht in Cizre den Bürgermeister Aydin Bucak zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Seine Botschaft zum Opferfest, in der er davon gesprochen hatte, dass die Isolation von Abdullah Öcalan eine Provokation sei, war auf dem Fernsehsender ROJ-TV ausgestrahlt worden. Die Strafe wurde nach Art. 220 TStG verhängt (Radikal vom 10.06.2006, siehe Anlage).
Gegen den Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir lief im Juni 2006 ein Strafverfahren am 5. Gericht für schwere Straftaten in Diyarbakir. Das Verfahren war wegen einer Rede im Fernsehsender ROJ-TV eingeleitet worden, die im Juni 2005 im Ausland gehalten wurde. Der Staatsanwalt forderte in seinem Plädoyer, dass eine Verurteilung nach Art. 220/8 TStG, „Propaganda für eine illegale Organisation“, ergehen solle (Yeniden Özgür Gündem vom 22.06.2006; siehe Anlage). Das Verfahren wurde nach Presseinformationen auf den 14. November 2006 vertagt.
Auch wurde der Vorsitzende der DTP in Batman am 23.03.2006 unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation in Untersuchungshaft genommen. Er hatte in einem Fernsehprogramm auf ROJ-TV vom „verehrten Öcalan“ gesprochen (Özgür Gündem/AFN vom 24.03.2006; siehe Anlage).
Auch wegen Redebeiträgen in Fernsehsendungen, die auf dem Fernsehsender Medya-TV vor dessen Schließung ausgestrahlt wurden, kam es regelmäßig zu Verfahrenseinleitungen und Verurteilungen.
So wurde am 13.08.2002 die Vorsitzende der Frauenabteilung bei der HADEP vom Staatssicherheitsgericht Diyarbakir zu einer Haftstrafe von 45 Monaten verurteilt. Sie soll durch eine Rede auf Medya TV die PKK unterstützt haben (Yedinci Gündem vom 18.08.2002, siehe Anlage).
Auch die Vorsitzende des IHD Istanbul wurde vom Staatssicherheitsgericht Istanbul zu einer Haftstrafe von 45 Monaten verurteilt. Die Verurteilung erging wegen eines Interviews mit Medya- TV (Evrensel vom 06.11.2002; siehe Anlage).
Schon die Fülle von Verfahren gegen Personen, die sich bei Medya- oder ROJ-TV geäußert haben, verdeutlicht, dass die Sendungen beobachtet und mitgeschnitten werden.
Allein die Tatsache, überhaupt in einem der pro-kurdischen Sender aufgetreten zu sein, kann als Unterstützung der PKK angesehen werden und zur Strafverfolgung führen. Weiterführend auch hier: Osman Aydin Sachverständigengutachten für VG Greifswald vom 20.04.2004.
Je nach den Äußerungen in dem Redebeitrag kann es auch zur Anklage nach Art. 301 (Verunglimpfung des Türkentums), nach Art. 216 (ehemals 312; Aufstachelung zum Rassenhass) oder nach Art. 7 ATG (Propaganda für eine illegale Organisation) kommen.
Die Aktivitäten kurdischer Organisationen in Deutschland werden vom türkischen Geheimdienst beobachtet. Sollte die Klägerin neben dem Beitrag in Medya-TV weitere politische Aktivitäten in Organisationen, die von türkischer Seite der PKK zugerechnet werden, ausgeübt haben, könnte dies den Verdacht der Unterstützung oder der Mitgliedschaft in der PKK verstärken.
Bezüglich interner Vorgehensweisen der türkischen Polizei und des türkischen Geheimdienstes betreffend der Weitergabe von Informationen liegen amnesty international keine Erkenntnisse vor. Insofern kann die Frage, ob der Name der Klägerin bereits an alle Grenzstationen und Polizeidienststellen weitergeleitet wurde, nicht beantwortet werden.
Wie oben bereits dargelegt, kommt es jedoch regelmäßig zu Einleitungen von Verfahren gegen Personen, die sich auf Medya – TV in Redebeiträgen geäußert haben.
Es kann weiterhin nicht ausgeschlossen werden, dass es während der Haft/Untersuchungshaft zu Misshandlungen und Folter kommen kann.
Die im Zusammenhang mit dem angestrebten Beitritt zu Europäischen Union eingeleitete Reformprozesse, welche eine Verbesserung der menschenrechtlichen Rahmenbedingungen zum Ziel hatten, sind in der letzten Zeit durch erhebliche Rückschritte gekennzeichnet
So kam es kürzlich zu schweren polizeiliche Übergriffen in den kurdischen Provinzen.
Durch Schüsse der Polizei anlässlich von Demonstrationen kamen im April 2006 mehrere Personen ums leben (Hürriyet-Milliyet-Radikal-Özgür vom 01.-05.04.2006; siehe Anlage), eine Vielzahl von Personen wurde verhaftet, viele berichteten über Folter und Misshandlungen, darunter viele Kinder (Özgür Gündem vom 07./08.04.2004; Özgür Gündem vom 04.-06.04.2006 siehe Anlage).
Auch werden einige Änderungen der türkischen StPO und des türkischen StGB unterlaufen und teilweise gar revidiert. So ist beispielsweise die mit dem neuen türkischen StGB eingeführte Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert worden, indem Folter und Misshandlung neuerdings einen allgemeineren Straftatbestand der „Qual“ darstellen, dessen geringerer Strafrahmen bloße Geld- und Bewährungsstrafen vorsieht. Auch wurde die Möglichkeit der Straffreiheit bei Handeln auf Befehl eingeführt.
Diese Maßnahmen verdeutlichen, dass eine nachhaltige Verbesserung der menschenrechtlichen Rahmenbedingungen in der Türkei nicht gewährleistet ist.
Dr. Barbara Neppert
Türkei Kogruppe
Für die Richtigkeit
Dr. Julia Duchrow
Türkeireferentin