amnesty journal März 2007
»Sie wollten ihn nicht schützen«
- Ein Gespräch mit dem türkischen Journalisten Ömer Laçiner über die Motive für den Mord an Hrant Dink.
Warum wurde Hrant Dink ermordet?
Weil er ein Armenier, aber kein armenischer Nationalist war. Hrant wollte eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Armenier-Frage, aber nicht, um die Feindschaft zwischen Türken, Kurden und Armeniern zu vertiefen, sondern um das wechselseitige Verhältnis auf der Grundlage humanistischer Werte zu erneuern. Er wollte Versöhnung und Frieden und glaubte fest daran, dass dies trotz der tragischen und bitteren Vergangenheit möglich sei. Damit zog er den Zorn der Nationalisten auf sich, der armenischen und erst recht der türkischen. Ich glaube, Hrant könnte noch leben, wenn er ein armenischer Nationalist gewesen wäre. So einer wäre den türkischen Nationalisten gelegen gekommen, weil sie ihn als Beweis für die Feindseligkeit der Armenier hätten präsentieren können. Gerade deshalb, weil er um einen Ausgleich bedacht war, wurde er zum Angriffsziel. Darum wurde er auch als einziger nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches wegen »Verunglimpfung des Türkentums« verurteilt.
Sie sehen einen Zusammenhang zwischen der Verurteilung und seiner Ermordung?
Natürlich. Vielleicht hätte man ihn auch ohne diese Urteile eines Tages umgebracht. Aber die vielen Verfahren gegen ihn haben seine Feinde ermutigt, und spätestens mit dem Urteil des Berufungsgerichts war offiziell festgestellt, dass Hrant ein Feind der Türken war. So hatten die militanten Nationalisten eine Rechtfertigung dafür, zur Tat zu schreiten.
Halten Sie es für möglich, dass staatliche Stellen an dem Mord beteiligt waren?
Das weiß ich nicht, und darauf kommt es auch nicht an. Allein durch die Existenz des Artikels 301 ist der Staat mitverantwortlich. Denn dieser Artikel impft den Menschen den Glauben ein, dass das »Türkentum« gefährdet sei und des Schutzes bedürfe. Der Staat tut dies durch Gesetze, und andere glauben eben, das »Türkentum« mit Gewalt und Mord schützen zu müssen.
Hat der Staat alles in seiner Macht Stehende getan, um Hrant Dink zu beschützen?
Man hätte Hrants Arbeitsplatz und Wohnung unter besondere Aufsicht stellen können. Und die Verantwortlichen hätten ihm politischen und moralischen Beistand leisten können. Aber sie hatten nicht den Willen, Hrant zu schützen.
Nach dem Mord haben fast alle Politiker große Anteilnahme gezeigt.
Ja, aber die selben Massenmedien, die Hrant nie wertgeschätzt haben, die ihn immer wieder als Feind der Türken dargestellt haben, zeigten ihn plötzlich als sympathischen und gutwilligen Menschen. Den Massenmedien war klar, dass der Mord dem, was man gemeinhin »die Interessen der Türkei« nennt, einen immensen Schaden zufügen würde. Deshalb haben sie so entschieden reagiert. Das Gleiche gilt für die Politiker. Sie haben sich beeilt, die Tat zu verurteilen, weil ihnen klar war, dass der Mord alle Bemühungen, der türkischen Deutung der historischen Ereignisse internationale Geltung zu verschaffen, zunichte machen könnte.
Sie meinen den Massenmord an den Armeniern. Warum reagiert man in der Türkei bei diesem Thema so hysterisch?
Das ist nicht so einfach, denn mit einer offiziellen Entschuldigung wäre es nicht getan. So hat sich ein nennenswerter Teil der türkischen Mittelschicht Besitztümer angeeignet, die ursprünglich das Eigentum von Armeniern waren. Eine ernsthafte Beschäftigung mit der Vergangenheit hätte Folgen für die Gegenwart. Dabei müsste eine solche historische Auseinandersetzung sich gar nicht darum drehen, ob es ein Genozid war oder nicht. Schon wenn man danach fragen würde, was genau passiert ist, wenn man die einzelnen lokalen Geschichten aufarbeiten und sich mit den sozialen Folgen befassen würde, zöge dies Konsequenzen nach sich – nicht nur für den Staat, sondern auch für viele Bürger. Deswegen will niemand darüber reden.
Auf der Beerdigung riefen mehr als hunderttausend Menschen »Wir sind alle Armenier«. Danach gab es Kundgebungen, auf denen mit der Parole »Wir sind alle Türken« geantwortet wurde. Wer repräsentiert die Mehrheit der türkischen Gesellschaft?
Niemand kann derzeit sagen, was die Mehrheit überhaupt will. Aber ein nennenswerter Teil der Gesellschaft ist des Nationalismus überdrüssig, für den nicht nur rechtsextreme Parteien wie die MHP und BBP stehen, sondern auch Teile der sozialdemokratischen CHP und andere vermeintliche Linke und, in abgeschwächter Form, fast alle übrigen Parteien. Dann gibt es einen bedeutenden Teil, der zwar nationalistische Ansichten hat, den aber Gewalttätigkeiten abschrecken. Die Zukunft des Landes hängt davon ab, wie die Auseinandersetzung zwischen den humanistischen Kräften und dem nationalistischen Kern verläuft und wie sich jene verhalten, die dazwischen stehen.
Empfinden Sie und Ihre Freunde sich stärker bedroht?
Ich persönlich empfinde keine größere Bedrohung, jedenfalls keine größere als die, mit der zu leben wir gelernt haben. Und niemand von uns will sich von der Angst vor einem Mordanschlag leiten lassen, indem er vorsichtiger spricht und schreibt. Das hieße ja, genau das zu machen, was die wollen.
- Interview: Deniz Yücel
Ömer Laçiner
Ömer Laçiner lebt in Istanbul und ist Chefredakteur der gesellschaftskritischen Monatszeitschrift »Birikim«. Er hat unter anderem zahlreiche Beiträge zur Kurdenfrage publiziert und ist einer der profiliertesten kritischen Intellektuellen des Landes.