amnesty journal März 2007
Zum Wohle des Staates
Aus Rücksicht auf die nationalistischen Kräfte hat die türkische Regierung ihre Reformbemühungen im Bereich Demokratie und Menschenrechte praktisch eingestellt.
- Von Amke Dietert
Die tödlichen Schüsse auf den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink waren kaum verhallt, als erste Enthüllungen über die Tathintergründe die türkische Öffentlichkeit schockierte. Auf einer Video-Aufnahme war zu sehen, wie der mutmaßliche Täter stolz mit einer türkischen Flagge in einer Polizeistation posierte – und offensichtlich die volle Sympathie der anwesenden Beamten genoss. »Gut gemacht, mein Bruder«, soll Zeitungsberichten zufolge ein Beamter den 17-jährigen Schützen gelobt haben. Die nach und nach zutage tretenden Einzelheiten legen die Vermutung nahe, dass zumindest Teile des Staatsapparates in den Mord verwickelt waren.
Die Tat erscheint wie ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Nicht nur in der Türkei hatten viele gehofft, dass mit den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union, die offiziell Ende 2004 aufgenommen wurden, eine nachhaltige Demokratisierung des Landes einher gehen würde. Doch dass der Weg nach Europa alles andere als geradlinig verläuft, zeigen die Berichte der EU-Kommission über die Menschenrechtsentwicklung. Darin wird der Regierung in Ankara zwar bescheinigt, dass sie auf gesetzlicher Ebene die politischen Kriterien der EU erfüllt habe. Zugleich wird aber deren mangelhafte Umsetzung kritisiert.
Tatsächlich gab es im gesetzlichen Bereich zahlreiche Verbesserungen – zum Beispiel wurde ein Strafrechtsartikel abgeschafft, demzufolge jegliche Forderungen nach politischen oder kulturellen Rechten für die Kurden als »separatistische Propaganda« bestraft wurden. Ebenso wurde das Recht von Festgenommen in Polizeigewahrsam auf sofortigen Anwaltszugang festgeschrieben und die Strafverfolgung von Folterern erleichtert.
Dennoch existieren weiterhin Gesetze, die gewaltlose politische Aktivitäten und Meinungsäußerungen unter Strafe stellen. Auch das Folterverbot wird in der Praxis nicht durchgesetzt. In den vergangenen Jahren war Folter in der Türkei zwar noch immer weit verbreitet, doch zumindest war ein kontinuierlicher Rückgang der Brutalität der angewandten Methoden zu beobachten.
Die neuesten Berichte der »Türkischen Menschenrechtsstiftung« deuten allerdings auf eine gegenläufige Tendenz hin: Folter und Misshandlungen gehören wieder verstärkt zur routinemäßige Praxis der Polizei, und auch über schwere psychische Folterungen wird häufiger berichtet. Beamte, die deswegen angeklagt werden, gehen überwiegend straffrei aus. Besorgniserregend ist auch, dass Polizisten – vor allem in den kurdischen Gebieten – missliebige Personen verschleppen, misshandeln oder mit dem Tode bedrohen.
Im Sommer 2005 wurde in den türkischen Medien eine Kampagne gegen die »von Europa aufgezwungenen« Gesetzesänderungen geführt, die angeblich die Sicherheitskräfte bei der Bekämpfung des Terrorismus behindern. Eine Folge dieser Stimmungsmache ist ein neues Antiterrorgesetz, das im Juli 2006 in Kraft trat. Darin ist nicht nur die Definition terroristischer Straftaten sehr weit und ungenau gefasst. Zudem wurden Verbesserungen beim Schutz gegen Folter teilweise wieder rückgängig gemacht: Beschuldigte können länger in Polizeihaft gehalten, und der Kontakt zu einem Rechtsanwalt kann verzögert werden.
Während die Reformpolitik nachlässt, erhalten nationalistische Strömungen deutlichen Zulauf. Davon sind neben den Kurden zunehmend auch andere ethnische und religiöse Minderheiten betroffen. Tragische Höhepunkte dieser Entwicklung waren der Bombenanschlag auf eine Istanbuler Synagoge im November 2003, der zahlreiche Todesopfer forderte, die Ermordung eines katholischen Priesters in der Stadt Trabzon an der Schwarzmeerküste im Februar 2006 und schließlich der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink.
Wer auch immer hinter den jeweiligen Tätern stehen mag – der Boden für diese Attentate wurde von einer offiziellen Staatspolitik bereitet, die Angehörige von Minderheiten als potenzielle Verräter brandmarkt und die Forderung nach Rechten für Minderheiten weiterhin strafrechtlich verfolgt.
Ein Instrument dafür ist der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die »Verunglimpfung des Türkentums« unter Strafe stellt. Internationale Bekanntheit erlangte dieser Artikel durch die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den türkischen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der sich zu dem Völkermord an den Armeniern und massenhaften Morden an Kurden geäußert hatte.
Aufsehen erregte zudem ein Strafverfahren gegen zwei Mitglieder des Beirats für Menschenrechte des türkischen Ministerpräsidenten, die einen Bericht über die mangelnde Umsetzung von Minderheitenrechten in der Türkei vorgelegt hatten. Auch Hrant Dink wurde wegen seiner Artikel über den Völkermord an den Armeniern mehrfach wegen »Verunglimpfung des Türkentums« angeklagt und verurteilt. Ebenso werden Mitglieder türkischer Menschenrechtsorganisationen mit politischen Prozessen überzogen. Wenn sie Menschenrechtsverletzungen kritisieren, müssen sie häufig mit einer Anzeige wegen »Beleidigung der Sicherheitskräfte« rechnen.
Der Mord an Hrant Dink hat nun den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan unter Druck gesetzt, Schritte gegen das Geflecht von Polizei, Geheimdiensten und gewaltbereiten Nationalisten zu unternehmen, das von Kritikern in der Türkei als »derin devlet« (»tiefer Staat«) bezeichnet wird. Der Gouverneur und der Polizeichef von Trabzon sowie der Geheimdienstchef von Istanbul wurden ihrer Posten enthoben, da sie Informationen über die Mordpläne nicht weitergeleitet hatten. Mittlerweile besteht sogar der Verdacht, dass ein Polizeispitzel die Tat angeregt hat.
Sowohl die faktischen Machtverhältnisse als auch die im Mai beziehungsweise im November anstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen setzen diesen Bemühungen jedoch enge Grenzen. Das Stimmpotenzial der Nationalisten und ihr propagandistischer Einfluss sind zu stark, als dass Erdogan es sich mit ihnen verderben wollte.
Auch beim Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs ist Erdogan nur zu kosmetischen Korrekturen bereit. Selbst nach dem Mord an Dink hat er sich gegen dessen Abschaffung ausgesprochen. Stattdessen schlug er Änderungen vor, wie etwa die Reduzierung der Höchststrafe von drei auf zwei Jahre, was in der Praxis keine Auswirkungen hätte.
Ein Grund für diesen Stillstand oder gar rückläufige Tendenzen in der Reformpolitik liegt in einem Erstarken nationalistischer Strömungen, die in vielen Bereichen der türkischen Gesellschaft exisitieren: in fast allen politischen Parteien, im Bildungswesen, in der Justiz und unter den Sicherheitskräften. Vor allem das Militär fürchtet, dass durch die Reformen seine Position und die des türkischen Nationalstaates geschwächt werden könnten.
Hier liegt ein Dilemma der Regierung in Ankara. Denn ausgerechnet diejenigen Kräfte, die für eine tatsächliche Umsetzung der Reformen eine zentrale Rolle spielen, unterstützen den EU-Beitritt nicht, oder räumen ihm zumindest keine Priorität ein. Hinzu kommt, dass viele Menschen in der Türkei die Hoffnung auf eine EU-Mitgliedschaft verloren haben. Aktuelle Umfragen belegen, dass die Mehrheit nicht mehr überzeugt ist, dass die EU tatsächlich bereit ist, das Land aufzunehmen.
Trotz positiver Ansätze in den letzten Jahren geben die jüngsten Entwicklungen daher wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei verbessern wird. Sie zeigen vielmehr, dass die türkische Regierung zwar versucht, den EU-Vorgaben zumindest teilweise nachzukommen, sich aber gleichzeitig weigert, das traditionelle autoritäre Staatsverständnis abzulegen. Politische Positionen und Forderungen, die dem vermeintlichen »Wohl des Staates« zuwider laufen, werden nach wie vor rigoros bekämpft.
Das hat zuletzt der kurdische Autor und Journalist Ibrahim Güçlü erfahren müssen. Er wurde nach Artikel 301 wegen »Beleidigung des Türkentums« verurteilt, weil er einen Artikel über ein Massaker an Kurden im Jahre 1943 geschrieben hatte. Das Urteil wurde am 24. Januar 2007 verkündet – am Tag nach der Beerdigung von Hrant Dink.
- Die Autorin ist Mitglied der Türkei-Kogruppe der deutschen ai-Sektion.
Artikel 301, Strafgesetzbuch: »Beleidigung des Türkentums«
Es sollte sich positiv auf die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei auswirken. Das neue Strafgesetzbuch, das am 1. Juni 2005 in Kraft trat, schränkt jedoch die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung stark ein. Einer Verurteilung wegen »Beleidigung der Medien« kann auf Basis von Artikel 125 des Strafgesetzbuches stattgegeben werden. Zwischen sechs Monaten und drei Jahren Haft drohen Journalisten, wenn sie auf Basis des Artikels 301 wegen »Beleidigung des Türkentums, der türkischen Republik, des Staates und der Behörden« verurteilt werden.
Für Handlungen, die »grundlegenden nationalen Interessen« zuwiderlaufen, drohen nach Artikel 305 zwischen drei und zehn Jahre Freiheitsentzug. Unter Paragraph 305 fallen die Erwähnung des Genozids an den Armeniern und Forderungen nach einem Abzug türkischer Truppen aus Zypern.
Auszüge aus Hrant Dinks letztem Artikel: »Unruhig wie eine Taube«
»Der Richter hat im Namen des ›türkischen Volkes‹ entschieden und mich der ›Beleidigung des Türkentums‹ für schuldig erklärt. (…) Offenbar ist die Justiz dieses Landes nicht so unabhängig, was sich viele Staatsmänner und Politiker scheuen zu sagen. Die Justiz schützt nicht die Rechte der Bürger, sondern den Staat. Die Justiz steht nicht auf Seiten der Bürger, sie wird vom Staat verwaltet. Ich bin auch überzeugt, dass meine Verurteilung nicht ›im Namen des türkischen Volkes‹ ergangen ist, wie behauptet, sondern ›im Namen des türkischen Staates‹. (…) Diejenigen, die mich isolieren, die mich schwach und schutzlos machen wollen, haben es geschafft, soviel ist klar. Sie haben es mit ihren schmutzigen und falschen Informationen fertiggebracht, dass Hrant Dink nun von einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft als jemand betrachtet wird, der das Türkentum beleidigt. Mein Computerspeicher ist randvoll mit Protest- und Drohbriefen. (…) Wie realistisch sind diese Bedrohungen, wie unrealistisch? Ich kann es einfach nicht wissen.«