Von Günter Seufert
“Wenn ich auch ängstlich wie eine aufgescheuchte Taube bin, so weiß ich doch, dass man in diesem Land die Tauben leben lässt.” Das schrieb der armenische Journalist Hrant Dink nur wenige Tage bevor ein türkischer 17-Jähriger ihn auf offener Straße erschoss. Die Hoffnung, dass eines Tages doch noch alles gut würde, hatte Hrant Dink getrogen. Dabei wusste er genau, wie negativ das Wort »Armenier« für viele türkische Ohren klingt und wie sehr er an türkische Tabus gerührt hatte. Sein Tod hat daran leider nichts geändert und auch die vielen hunderttausend Menschen nicht, die auf Hrant Dinks Beerdigung aus Solidarität mit ihm »Wir alle sind Armenier!« gerufen haben.
Wie ausgegrenzt Armenier sind, zeigt das Strafverfahren gegen die Mörder Dinks. Da sind zuerst die Sicherheitsbehörden: das Gouverneursamt, der Geheimdienst, die Polizei und die Gendarmerie. Obwohl die Polizei in Trabzon, woher der Mörder kam, und auch die Polizei in Istanbul, wo Dink ermordet wurde, die Absicht und die Identität der Täter kannten, unternahmen sie nichts, um das Attentat zu verhindern. Gleiches gilt auch für die Gendarmerie. Das »Hirn« der Bande stand als verdeckter Mitarbeiter auf der Gehaltsliste ihres Spitzeldienstes. Die Polizei ließ nach dem Mord Beweismittel verschwinden, Gendarmen feierten den Mörder als nationalen Helden. Anstatt Dink vor der Tat zu warnen, wurde er eingeschüchtert. Bis heute weigert sich das Gouverneursamt, mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten. Offiziell bestätigt wurde all das am 1. Oktober, dem zweiten Verhandlungstag im Mordprozess. Damit nicht genug: Der Hauptbeschuldigte wurde in einem Gefängnistransporter vorgefahren, der mit dem Aufkleber »Entweder liebst Du das Vaterland oder du gehst!« geschmückt war.
Wer gehofft hatte, dass Dinks Tod und die Entrüstung darüber im In- und Ausland an dieser Geisteshaltung etwas ändern würde, sah sich getäuscht. Denn Paragraph 301, der die »Beleidigung des Türkentums« unter Strafe stellt und bereits Nobelpreisträger Orhan Pamuk das Leben schwer machte, ist immer noch in Kraft. Nach diesem Paragraphen wurde Dink verurteilt, als er es gewagt hatte, mit Worten Atatürks zu spielen, der vom »edlen Blut der Türken« spricht. Die Pressekampagne, die daraufhin gegen Dink einsetzte, bereitete den Boden für den Mord. Ausgeführt haben ihn Unterschichtjugendliche ohne Perspektive.
Anstatt diesen Gesinnungsparagraphen zu streichen, wendet der türkische Staat ihn jetzt auch gegen Arat Dink, den Sohn des ermordeten Hrant Dink, an. Am 10. Oktober verurteilte das Strafgericht den jungen Dink wegen »Beleidigung des Türkentums« zu einer Bewährungsstrafe. Er hatte ein Interview seines Vaters nachgedruckt, in dem dieser die an den Armeniern vorgenommenen Gräueltaten während des Ersten Weltkriegs als »Völkermord« bezeichnet hatte. Viele Zeitungen hatten darüber berichtet. Doch nur Dinks Zeitung »Agos« wurde deswegen angeklagt, und nur ihr jetziger Redakteur Arat Dink wurde dafür verurteilt.
Aber nicht nur in der Armenierfrage und nicht nur wegen des Paragraphen 301 verschlechtert sich die Lage der Menschenrechte in der Türkei derzeit. Seit im Juni das Polizeigesetz geändert wurde, häufen sich Folter und Übergriffe. Gegen eine prokurdische Partei werden allwöchentlich politische Verfahren angestrengt. Je ferner die EU das Land hält, desto stärker werden die alten Kräfte.
Günter Seufert ist Korrespondent der »Berliner Zeitung« und lebt in Istanbul.