Kritische Meinungsäußerungen sind in den vergangenen Jahren in der Türkei immer riskanter geworden. Bereits die Teilnahme an einer Demonstration kann als terroristische Straftat gewertet und mit entsprechend hohen Strafen belegt werden.
Von Amke Dietert
Besondere Aufmerksamkeit erregen in der Türkei derzeit die sogenannten KCK-Verfahren, die sich gegen Mitglieder der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) richten. Sie werden vor Sondergerichten für schwere Straftaten geführt, die in der Regel für Anklagen nach dem Antiterrorgesetz zuständig sind. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins der Türkei sind wegen dieser Verfahren rund 8.000 Personen in Haft, einige mittlerweile seit drei Jahren. Die Zahl der Angeklagten ist noch weit höher.
Die KCK gilt als ziviler Arm der PKK – der sowohl in der Türkei als auch in vielen EU-Staaten als terroristische Organisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans. Juristisch und politisch ist umstritten, ob ein Staat eine solche politische Struktur tolerieren muss oder ob deren Verfolgung legitim ist. Zu kritisieren ist aber in jedem Fall, dass vielen Angeklagten eine Zugehörigkeit allein aufgrund legaler politischer Aktivitäten, Meinungsäußerungen oder ihrer anwaltlichen Tätigkeit unterstellt wird.
Die türkische Justiz setzt Aktivitäten für die KCK einer Mitgliedschaft in der PKK gleich. Damit drohen den Angeklagten – zum größten Teil gewählte Politiker und Mitglieder der legalen pro-kurdischen Partei BDP, Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, Gewerkschafter, Journalisten und Rechtsanwälte – Haftstrafen bis zu 15 Jahren, obwohl niemandem von ihnen Gewalttaten vorgeworfen werden.
In dem KCK-Verfahren in Istanbul ist etwa der Verleger Ragip Zarakolu angeklagt, der zuvor schon mehrfach wegen “Verunglimpfung der türkischen Nation” verurteilt worden war, da er Bücher zu Tabuthemen wie dem Völkermord an den Armeniern, Antisemitismus oder zur Minderheitenpolitik in der Türkei verlegt hatte. Seine Anklage im KCK-Verfahren gründet sich darauf, dass er an zwei Veranstaltungen einer politischen Bildungsakademie der BDP teilgenommen und dort Grußworte gesprochen hat.
Im November 2011 wurden in der Türkei im Rahmen der KCK-Operationen mehr als 40 Rechtsanwälte und mehr als 40 Journalisten festgenommen, die meisten von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft. Bei den Anwälten handelt es sich um Verteidiger des seit 1999 inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Befehle Öcalans für die PKK-Kämpfer übermittelt und seien deswegen für sämtliche Anschläge in der Zeit ihrer Mandatsausübung verantwortlich. Obwohl die Anwaltsgespräche mit Abdullah Öcalan unter staatlicher Aufsicht stattfanden und in Ton- und Bildaufzeichnungen festgehalten wurden, legte das Gericht weder diese Dokumente noch sonstige Beweise für diesen Vorwurf vor.
Die Arbeit der Verteidiger generell wird dadurch erschwert, dass die Ermittlungen in Verfahren nach dem Antiterrorgesetz geheim geführt werden; das heißt, die Anwälte haben bis zur Fertigstellung der Anklageschrift – und das kann in Verfahren mit vielen Angeklagten lange dauern – keinen Einblick in die Ermittlungsakten. Darüber hinaus arbeiten die Staatsanwaltschaften mit sogenannten geheimen Zeugen, die auch in der Gerichtsverhandlung von den Verteidigern und Angeklagten nicht befragt werden können. Nach einer Rechtsauslegung des Kassationshofes können Personen, die Straftaten im Namen einer illegalen Organisation begangen haben, wegen Mitgliedschaft in dieser Organisation verurteilt werden – ausdrücklich ohne tatsächlich Mitglieder zu sein. Für eine Verurteilung reicht etwa die Teilnahme an einer (verbotenen) Demonstration oder das Rufen politischer Parolen. Betroffen hiervon sind zum größten Teil Kurden, aber auch andere Bürger der Türkei.
So wurde im Mai 2012 der Student Cihan Kırmızıgül zu mehr als elf Jahren Haft verurteilt. Er war im Februar 2010 in Istanbul festgenommen worden, mehrere Stunden nach einer Demonstration, bei der auch Molotow-Cocktails geworfen wurden. Grund für die Festnahme war, dass er ein Palästinensertuch trug, wie es auch bei Teilnehmern der Demonstration gesehen wurde. Obwohl es keinerlei Beweise dafür gab, dass er überhaupt an der Demonstration teilgenommen hatte, wurde er wegen einer Straftat im Namen der Organisation, die für die Demonstration verantwortlich gemacht wurde, verurteilt.
Der britische Karikaturist und Collagen-Künstler Michael Dickinson wurde im Januar 2010 wegen Beleidigung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Jahr und zwei Monaten Haft verurteilt. Er hatte eine Zeichnung veröffentlicht, auf der US-Präsident Bush einem Hund, der den Kopf von Ministerpräsident Erdoğan trug, eine Auszeichnung umhängt. Damit sollte Erdoğans Unterstützung für Bush während des Irak-Krieges 2006 kritisiert werden. Das Verfahren ist jetzt vor dem Kassationshof anhängig – Dickinson lebe seit mehr als 20 Jahren in der Türkei und sei daher “mit den Sitten und Gewohnheiten” des Landes vertraut, lautet die Begründung. Der Artikel 125 des türkischen Strafgesetzes sieht für die Beleidigung oder Herabwürdigung einer Person eine Haftstrafe zwischen drei Monaten und einem Jahr vor. Der Schutz vor Beleidigung ist zwar ein legitimer Grund, um die Meinungsfreiheit einzuschränken. Problematisch ist jedoch, in welch extremem Maße dies in der Türkei angewendet wird.
Ein weiterer Strafrechtsartikel, der Meinungsäußerungen sanktioniert, ist Artikel 318, der die “Distanzierung der Bevölkerung vom Militärdienst” unter Strafe stellt. Nach diesem Paragraphen werden Menschen verurteilt, die sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzen oder sich öffentlich mit angeklagten Kriegsdienstverweigerern solidarisieren. Amnesty International hat mehrfach über Halil Savda berichtet – ein Aktivist der Verweigerer-Bewegung, der am 6. Dezember 2012 einen weiteren Prozesstermin hat.
Die Autorin ist Türkei-Expertin von Amnesty International Deutschland.
Schüler und Studenten
Mehr als 700 Studenten und Studentinnen sitzen derzeit in der Türkei in Untersuchungshaft. Zudem wurden nach offiziellen Angaben in den vergangenen Jahren fast 3.000 Schülerinnen und Schüler vorübergehend festgenommen. Den Schülern wie Studenten wird meistens Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Nach der türkischen Rechtsprechung genügt dafür etwa die Teilnahme an Demonstrationen, das Tragen des Palästinensertuches oder die Forderung nach dem Recht auf Unterricht in kurdischer Sprache. Viele Universitätsverwaltungen eröffnen gegen Studierende, die aus politischen Gründen angeklagt sind, zusätzlich Disziplinarverfahren, die oft zur Exmatrikulation führen. Studierende, die versuchen, vom Gefängnis aus ihr Studium fortzusetzen, sind mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert: So haben sie keinen Zugang zu Bibliotheken und können nur an Klausuren teilnehmen, wenn sie drastisch überhöhte Transportkosten vom Gefängnis zur Universität aufbringen können. Nach einer Verhaftungswelle im Rahmen der KCK-Verfahren im Oktober 2011 gründeten Wissenschaftler in Frankreich die Internationale Arbeitsgruppe “Freiheit von Forschung und Lehre in der Türkei” (GIT). Entsprechende Initiativen bildeten sich auch in anderen Ländern Europas, in Nordamerika sowie in der Türkei. Im Januar 2012 gründeten Wissenschaftler und Studierende in Berlin die “GIT-Germany”.