04. Juli 2015 – Amnesty International ist entsetzt von dem Vorgehen der türkischen Behörden, die am 28. Juni die jährlich stattfindende Pride Parade verhindert haben, nachdem auf dem Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls bereits Tausende zusammengekommen waren. Die Polizei hat gegen friedlich feiernde Demonstrant_innen willkürlich Gewalt eingesetzt und sie mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen traktiert.
Der Gouverneur von Istanbul hat gestern in einer Stellungnahme mitgeteilt, dass die Behörden die Parade verbieten ließen, um keine “Provokationen” mit Gegendemonstrierenden zu riskieren. Außerdem habe es an einer förmlichen Genehmigung gefehlt.
Die Entscheidung, die Parade zu verbieten, wurde den Veranstalter_innen nicht mitgeteilt, obwohl sie in den Tagen vor der Demonstration mit den Behörden in Verbindung waren und die Veranstaltung besprachen.
Diese Ereignisse sind der jüngsten Beweis für die Intoleranz der Behörden gegenüber friedlichen Protesten, was in einem scharfen Gegensatz zu der Verpflichtung der Türkei steht, das Recht auf Versammlungsfreiheit zu gewährleisten. Die türkischen Behörden müssen bezüglich der durch die Polizei ausgeübten Gewalt umgehend unabhängige und unparteiische Ermittlungen einleiten und sicherstellen, dass zukünftige Pride Paraden stattfinden können.
Seit 2003 finden Pride Paraden in Istanbul jährlich ohne Zwischenfälle statt. Im Jahr 2014 hatten ungefähr 90.000 Menschen an der Demonstration teilgenommen. Dass die Behörden das Versammlungsrecht von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und inter* (LSBTI) Aktivist_innen bisher respektiert haben, steht im starken Kontrast zu ihrer homophoben Rhetorik und ihrer Weigerung, Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität gesetzlich zu verbieten, was von LSBTI-Gruppen in der Türkei schon lange gefordert wird.
Durch das unangekündigte Auflösen der Parade am vergangenen Sonntag ist ein neuer Tiefpunkt hinsichtlich der Wahrung von LSBTI-Rechten in der Türkei erreicht.
Bereits vor Beginn der um 17 Uhr geplanten Parade waren tausende Polizist_innen im Einsatz. Gegen 16.30 Uhr begann die Polizei damit, die Demonstration aufzulösen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits 5.000 Menschen in der unmittelbaren Umgebung angesammelt. Die Polizei setzte vereinzelt Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen die friedliche Menge und gegen kleinere Gruppen von Demonstrierenden ein, die am Nachmittag und Abend in der Umgebung des Taskim-Platzes die Pride feiern wollten.
In der gestrigen Stellungnahme erwiderte der Gouverneur von Istanbul, dass keine förmliche Genehmigung für die Versammlung (wie nach türkischem Recht erforderlich) vorgelegen habe und dass die Behörden darüber informiert worden waren, dass Gegendemonstrierende die Pride Parade unterlaufen wollten. Er behauptete, dass ein verhältnismäßiger Einsatz von Gewalt erst erfolgte, nachdem sich die Demonstrierenden trotz Warnungen nicht auflösen wollten.
Amnesty International erinnert die Behörden daran, dass das Recht auf friedliche Versammlung den Staat u.a. dazu verpflichtet, angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und dass es Aufgabe der Behörden ist, sicherzustellen, dass friedliche Versammlungen stattfinden können. Genehmigungspflichten sollten von den Behörden nicht genutzt werden, um friedliche Versammlungen zu verhindern, sondern um sicherzustellen, dass die entsprechend notwenigen Vorkehrungen getroffen werden, um sie durchführen zu können.
Die Tatsache, dass bei einer seit langem geplanten und weitläufig angekündigten jährlichen Pride Parade eine förmliche Genehmigung fehlt, kann nicht als Rechtfertigung für die Auflösung der Demonstration angebracht werden. Das Verbot stellt eine unverhältnismäßige Einschränkung der Versammlungsfreiheit dar. Zwar kann das Recht auf friedliche Versammlung eingeschränkt werden, um einen legitimen Zweck, wie z.B. die öffentliche Sicherheit, zu erreichen, doch müssen solche Einschränkungen verhältnismäßig und notwendig sein.
Die Auflösung der Pride Parade erfolgte nur zwei Tage, nachdem die türkischen Behörden in ihrem Universal Periodic Review (UPR) vor dem UN Menschenrechtrat versprochen hatten, das Recht auf friedliche Versammlung und LSBTI-Rechte zu wahren.
Momentan wird noch in 45 Fällen von der Oya Ataman Gruppe, in denen der Europäische Menschenrechtsgerichthof eine Verletzung der Versammlungsfreiheit durch die Türkei festgestellt hatte, auf eine nationale Umsetzung gewartet. Durch die jüngste Verletzung der Versammlungsfreiheit ist wieder einmal deutlich geworden, dass die türkischen Behörden ihren Umgang mit Demonstrationen und ihre extrem restriktive Gesetzgebung in Hinblick auf Versammlungen völlig ändern müssen und den Einsatz von exzessiver Polizeigewalt während Demonstrationen beenden müssen.