Amnesty International
3. Mai 2017
JOURNALISMUS IST KEIN VERBRECHEN
Die Meinungsfreiheit wird in der Türkei immer stärker eingeschränkt. Seit dem fehlgeschlagenen Umsturzversuch im Juli 2016 sind regierungskritische Akademiker, Journalisten und Schriftsteller von Strafverfahren Einschüchterungen, Drangsalierungen und Zensur betroffen. Die Unterdrückung der Medien durch die türkische Regierung hat ein Ausmaß angenommen, das von einigen als „Tod des Journalismus“ beschrieben wird.
Mindestens 156 Medienunternehmen sind seit Juli 2016 per Dekret geschlossen worden. Nach Informationen der Union der Journalisten in der Türkei haben infolgedessen schätzungsweise 2500 Journalisten und andere Medienschaffende ihre Jobs verloren. Weiterhin hat das Generaldirektorat für Presse und Information die Presseakkreditierung von 778 Journalisten annulliert.
Der Begriff des Terrorismus in den Anti-Terror-Gesetzen ist sehr breit und ungenau formuliert. Diese Gesetze werden herangezogen, um Journalisten und Medienschaffende wegen angeblicher Propaganda für terroristische Organisationen und die Mitgliedschaft in solchen zu verfolgen. Alle Medien, die abweichende Meinungen vertreten, wurden ins Visier genommen, darunter solche, die sich schwerpunktmäßig mit der Kurdenfrage beschäftigen, säkulare Medien und solche, denen die Unterstützung des im Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen vorgeworfen wird, einem ehemaligen Verbündeten der Regierung und Anführer der Gülen-Bewegung. Die türkischen Machthaber bezeichnen diese als „FETÖ“ (Fethullahische Terrororganisation) und machen sie für den fehlgeschlagenen Staatsstreich verantwortlich.
Mehr als 120 Journalisten wurden seit dem Putschversuch inhaftiert, einige befinden sich inzwischen (im April 2017) seit 9 Monaten ohne Verfahren in Untersuchungshaft. 2016 stellte das Komitee zum Schutz von Journalisten fest, dass die Türkei das Land mit den meisten inhaftieren Journalisten der Welt ist. Obwohl es klare Beweise für das Gegenteil gibt, behauptet die Regierung weiterhin, es gäbe in der Türkei keine Journalisten, die wegen ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnissen sitzen.
„Wir haben um die Liste gebeten … es ist sehr interessant. Man findet alles auf dieser Liste, Mörder, Diebe, Menschen, die Kinder missbraucht haben, Hochstapler. Die einzigen, die man nicht auf dieser Liste findet, sind Journalisten“. Präsident Erdogan zu inhaftierten Journalisten in einer Rede vor Mitgliedern der Anatolischen Verlegervereinigung am 22. März 2017.
Die in diesem Papier dargestellten Fälle zeigen, dass diese Aussage einer Überprüfung nicht standhält.
Die lange und routinemäßig verhängte Untersuchungshaft für Journalisten und andere Medienschaffende stellt nach Überzeugung von Amnesty International eine vorweggenommene Strafe ohne Verurteilung dar. Amnesty fordert, diese Personen aus der Haft zu entlassen und die gegen sie erhobenen Vorwürfe fallenzulassen, solange es keine Beweise dafür gibt, dass sie Vergehen begangen haben, die nach internationalen Rechtsstandards strafbar sind. Die Repressionen gegen die Medien finden in einem Umfeld deutlich angestiegener politischer Spannungen, einer Welle von Säuberungen des öffentlichen Dienstes von Regierungskritikern und glaubwürdigen Berichten über Folterungen und Misshandlungen in Polizeigewahrsam statt. Alle diese Maßnahmen verstärken sich gegenseitig in ihrem Effekt, den Spielraum für abweichende Meinungen dramatisch einzuschränken und die Selbstzensur in den zunehmend willfährigen Mainstream-Medien zu befördern.
HINTERGRUND
Am 15. Juli 2016 versuchte eine Gruppe innerhalb des türkischen Militärs, die Regierung zu stürzen. Der gewaltsame Putschversuch führte zu 240 Toten. Die Vorgänge in der Nacht wurden live übertragen und von Millionen Menschen in der Türkei und weltweit verfolgt.
Diese Bilder erinnerten viele Menschen stark an den (erfolgreichen) Militärputsch gegen die amtierende Regierung im September 1980. Diesem Staatsstreich folgte eine lange Phase massiver Repressionen, Masseninhaftierungen von Dissidenten, weit verbreiteter Folter, Hinrichtungen nach unfairen Gerichtsverfahren und der Schließung zahlreicher Medien, ziviler Organisationen und politischer Parteien.
Die allgemeine Erleichterung in der türkischen Gesellschaft über das Misslingen des Staatsstreiches im Juli 2016 erwies sich jedoch als kurzlebig.
Am 20. Juli 2016 wurde für drei Monate der Notstand ausgerufen. Das erlaubte der Regierung, per Dekret unter Umgehung des Parlamentes zu regieren. Zur Zeit der Abfassung dieses Berichtes war der Notstand dreimal verlängert worden und es wurden 22 Dekrete mit verheerenden Auswirkungen für die Zivilgesellschaft erlassen.
• Nach Informationen der Gemeinsamen Plattform für Menschenrechte (IHOP) wurden zwischen dem 21. Juli 2016 und dem 13. Februar 2017 vier Dekrete erlassen, mit denen 156 Fernseh- und Radiostationen, Zeitungen und Zeitschriften geschlossen wurden. Weitere 23 Medieneinrichtungen wurden im gleichen Zeitraum vom Hohen Rundfunkrat (RTÜK) geschlossen.
• Hunderte von Nichtregierungsorganisationen wurden geschlossen.
• Mehr als 100 000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wurden entlassen, darunter Lehrer, akademisches Personal, Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Angehörige des Militärs.
• Über 47 000 Menschen befinden sich in Untersuchungshaft. Ihre Rechte sind auf schwerwiegende Weise eingeschränkt − z. B. das Recht auf vertrauliche Gespräche mit einem Anwalt.
„Journalismus ist kein Verbrechen. Wir verteidigen die Grundlagen und die Ethik des Journalismus, während [die Regierung] versucht, diese zu zerstören.“ Fatih Polat, Chefredakteur der Zeitung Evrensel
DAS RECHT AUF FREIE MEINUNGSÄUSSERUNG
Die Türkei hat den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (ECHR) unterzeichnet. Damit hat sie sich verpflichtet, die dort festgeschriebenen Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu fördern.
Artikel 19 des ICCPR und Artikel 10 der ECHR beinhalten das Recht auf freie Meinungsäußerung, d.h. das Recht von jedermann, sich Informationen und Gedankengut aller Art zu beschaffen, zu erhalten und weiterzugeben. Die Medien spielen eine Schlüsselrolle dabei, Menschen zu ermöglichen, dieses Recht auszuüben, insbesondere, Informationen weiterzugeben, Angelegenheiten der Gesellschaft zu kommentieren und die Meinungsbildung der Öffentlichkeit zu unterstützen.
Das internationale Recht erlaubt es Staaten, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu beschränken, jedoch nur, wenn solche Einschränkungen in öffentlich zugänglichen und klar formulierten Gesetzen festgehalten sind, klar definierten legitimen Zwecken dienen (z.B. bei Gefahr für die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung), nachvollziehbar notwendig und verhältnismäßig sind (d.h. sie müssen die am wenigsten einschränkende Maßnahme sein, um den angestrebten Zweck zu erreichen). Ferner darf die Einschränkung das Recht in seiner Substanz nicht gefährden. In einer Notstandssituation dürfen bestimmte weitere Einschränkungen verhängt werden, aber nur in dem Maße, wie es als Reaktion auf den Notfall unbedingt erforderlich ist und unter Wahrung des oben genannten Prinzips der Verhältnismäßigkeit.
Das Ausmaß und die Intensität der Repressionen gegen die Medien, die in diesem Papier beschrieben werden, gehen weit über das hinaus, was nach internationalem Recht zulässig ist.
Die Angriffe auf die Meinungsfreiheit begannen bereits vor dem Putschversuch vom Juli 2016 − in besonders gravierender Weise während der Proteste um den Gezi-Park in Istanbul 2013, die sich über das ganze Land ausweiteten. Trotz einiger gesetzlicher Verbesserungen in den Jahren 2013 und 2014 blieben die Einschränkungen der freien Meinungsäußerung seitdem in der Praxis bestehen.
Während des zweijährigen Friedensprozesses zwischen der Regierung und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wurden nur wenige Menschen verfolgt, weil sie sich zur Kurdenfrage geäußert hatten. Dies änderte sich jedoch mit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Juli 2015, der eine neue Welle der Zensur nach sich zog. Soziale Medien wurden blockiert und Websites geschlossen. Die Regierung nahm direkten Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen der Medien und nahm Mediengruppen, denen Nähe zu Fethullah Gülen unterstellt wurde, wie z.B. Feza und Ipek, unter eigene Regie. Mehrere Personen, die sich kritisch äußerten, wurden strafrechtlich verfolgt.
KRITISCHE STIMMEN ZUM SCHWEIGEN BRINGEN
In den zunehmend willfährigen Medien können abweichende Stimmen immer weniger zu Gehör gebracht werden. Jeder, der Meinungen äußert, die von der Regierung kritisch gesehen werden, riskiert Drohungen, Einschüchterungen und Beschimpfungen im Netz, Strafverfahren, Haft, Entlassung oder Zensur.
„Ganz offen, es betrifft dich. Ich war sehr aktiv auf Twitter, bevor ich ins Gefängnis kam. Nun bin ich nicht mehr so mutig, ich habe das Gefühl, mich selbst zu zensieren, und das stört mich. Wenn du bestimmte Dinge nicht mehr schreiben oder sagen kannst, ist das so etwas wie eine Krankheit, eine Art Tod." Necmiye Alpay, eine Sprachwissenschaftlerin, die vom 31. August bis zum 29. Dezember 2016 für fast 4 Monate in Haft war, weil sie als Teilnehmerin einer Solidaritätsaktion symbolisch Gast-Chefredakteurin der jetzt geschlossenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem war.
Im Februar 2017 wurde Irfan Değirmenci, Moderator beim Fernsehsender Kanal D, entlassen, nachdem er auf Twitter angekündigt hatte, bei dem Verfassungsreferendum im April 2017 mit „nein“ zu stimmen. Für Fatih Çekirge hingegen, Kolumnist bei der Zeitung Hürriyet, hatte die Ankündigung mit „ja“ stimmen zu wollen, keine Konsequenzen für seinen Job. Sowohl Kanal D als auch Hürriyet gehören zur Mediengruppe Doğan.
Auch Journalisten, die für ausländische Medien arbeiten und ausländische freiberufliche Journalisten sind nicht verschont geblieben. Einige wurden ausgewiesen oder die Einreise in die Türkei wurde ihnen verwehrt, anderen wurde die staatliche Presseakkreditierung entzogen. So wurde Dion Nissenbaum, Auslandskorrespondent für The Wall Street Journal, am 27. Dezember inhaftiert und für 2 ½ Tage ohne Zugang zu seinem Anwalt und seiner Familie in Polizeigewahrsam gehalten. Am 14. Februar 2017 wurde Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der deutschen Zeitung Die Welt, als erster ausländischer Journalist seit dem Putschversuch in Untersuchungshaft genommen (siehe S.13 im Originaltext).
POLIZEIGEWAHRSAM
Im Gegensatz zu Gefängnissen sind Polizeistationen nicht dafür ausgestattet, Inhaftierte für längere Zeit in Gewahrsam zu halten. Vor dem versuchten Staatsstreich im Jahre 2016 sah das Gesetz eine maximale Polizeihaft von vier Tagen vor. Am 23. Juli 2016 wurde die maximale Länge des Polizeigewahrsams auf 30 Tage erhöht. Darüber hinaus konnte das Recht auf Zugang zu einem Anwalt in den ersten 4 Tagen verwehrt werden.
Am 23. Januar 2017 wurde die Dauer der Polizeihaft auf 7 Tage begrenzt, allerdings mit der Möglichkeit einer Verlängerung um weitere 7 Tage. Die Beschränkung des Anwaltszugangs wurde aufgehoben. Das kam jedoch zu spät, um eine Reihe von Medienschaffenden zu schützen, die schon vorher festgenommen worden waren, wie z.B. jene, die im Rahmen der sogenannten „Red Hack“-Untersuchung festgenommen worden waren (Siehe S. 12 des Originals).
Metin Yoksu, ein Journalist und Fotograf der inzwischen geschlossenen Nachrichtenagentur Dicle, beschrieb die Bedingungen, unter denen er 24 Tage in Polizeihaft verbrachte:
„Wir wurden alle getrennt untergebracht, aber zusammen mit anderen Gefangenen. Wir waren mit 4 oder 5 Personen in einem Raum, der für höchstens 2 Menschen Platz bot. Es gab keine Fenster, keine Luft, keine Betten … Das Essen war schrecklich, viele von uns hatten Durchfall. Wir hatten etwa 4 Toiletten für ungefähr 150 Häftlinge, nach Mitternacht durften wir sie nicht mehr benutzen. Nachts haben wir oft Wasserflaschen benutzt.“
UNTERSUCHUNGSHAFT
Die lange und routinemäßig verhängte Untersuchungshaft von Journalisten und sonstigen Personen, die für Medien arbeiten stellt eine vorweggenommene Strafe dar und verletzt das Recht auf Freiheit und das Gebot der Unschuldsvermutung.
Mehr als 120 Medienschaffende befinden sich zurzeit in Untersuchungshaft. Unter ihnen ist Şahin Alpay, seit mehr als 30 Jahren Journalist und bis kurz vor seiner Festnahme Kolumnist bei der inzwischen geschlossenen Zeitung Zaman. Er wurde am 27. Juli 2016 festgenommen und wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung („FETÖ“) angeklagt. Seit dem 30. Juli 2016 befindet er sich im Hochsicherheitsgefängnis Silivri in der Nähe von Istanbul in Untersuchungshaft.
Die monatelange Untersuchungshaft unter den restriktiven Bedingungen, die der ausgerufene Notstand erlaubt, ist hart für die Betroffenen. Die Untersuchungshäftlinge, darunter auch die inhaftierten Journalisten, dürfen nur Besuche ihrer engsten Angehörigen empfangen, und das auch nur einmal wöchentlich für eine Stunde. Während der Besuche sind die Verwandten in der Regel von den Gefangenen durch eine Glaswand getrennt, die Kommunikation erfolgt per Telefon. Offene Besuche sind selten.
Untersuchungsgefangenen dürfen nur einmal pro Woche für eine Stunde ihre Anwälte sprechen. Die Gespräche werden durch Gefängnisbeamte überwacht. Das verletzt das Recht der Gefangenen auf vertrauliche Gespräche mit ihrem Rechtsbeistand. Diejenigen, die sich in Silivri befinden, wo viele Journalisten inhaftiert sind, dürfen keine Briefe schicken oder empfangen, der Kontakt zu anderen Gefangenen ist beschränkt auf die beiden anderen Personen, mit denen sie die Zelle teilen.
DAS RECHT AUF FREIHEIT
Internationale Menschenrechtsstandards sehen im Prinzip vor, dass Menschen, die einer Straftat beschuldigt werden, während des Verfahrens nicht inhaftiert werden.
Angeklagte in Untersuchungshaft haben das Recht auf einen Prozess innerhalb einer angemessenen Zeit. Anderenfalls müssen sie aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Ferner haben sie das Recht auf eine regelmäßige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft in angemessenen Zeitabständen durch ein unabhängiges Gericht oder eine andere juristische Institution. Dabei obliegt es den staatlichen Stellen zu beweisen, dass die Untersuchungshaft immer noch notwendig und verhältnismäßig ist und dass die Ermittlungen mit besonderer Sorgfalt durchgeführt werden.
Wenn diese Erfordernisse nicht eingehalten werden, ist das gleichbedeutend mit einer Bestrafung ohne Verurteilung, was unvereinbar ist mit allgemein anerkannten Rechtsprinzipien.
GEHEIMHALTUNGSAUFLAGEN
Eine grundlegende Voraussetzung für ein faires Verfahren ist es, dass jeder, der während eines Strafverfahrens inhaftiert ist, Zugang hat zu allen Informationen, die notwendig sind, um die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entkräften.
In der Türkei können Gerichte jedoch beschließen, dass die Ermittlungen geheim geführt werden. Das bedeutet, dass Anwälte nicht überprüfen können, ob die Behörden genügend Beweise haben, um eine Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Geheimhaltungsauflagen können angewendet werden, wenn „Akteneinsicht oder das Kopieren von Unterlagen das Ziel der Ermittlungen behindern können.“ (Artikel 153 der Strafprozessordnung). Obwohl das Gesetz vorsieht, dass Geheimhaltungsauflagen nicht zulasten von Verteidigungsrechten angewendet werden dürfen, erhalten in der Praxis viele Verteidiger von Journalisten in Untersuchungshaft keinen Zugang zu Informationen, die sie brauchen, um die Inhaftierung ihrer Klienten erfolgreich anfechten zu können.
VERSTÄRKUNG DER REPRESSION GEGEN DIE MEDIEN
DER FALL CUMHURIYET
„Wenn es Beweise für die Anschuldigungen gegen uns gäbe, hätte der Prozess schon längst begonnen. Die Zeit vergeht, unsere Inhaftierung wird zur Bestrafung“ Kadri Gürsel, Journalist der Cumhuriyet
Am 31. Oktober 2016 wurden 13 Kolumnisten und leitende Angestellte der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet von der Polizei festgenommen. Cumhuriyet, was auf Türkisch „ Republik“ bedeutet, war seit ihrer Gründung kurz nach der Ausrufung der Türkischen Republik im Jahre 1923 immer eine säkulare und unabhängige Stimme. Dass Cumhuriyet ins Visier genommen wurde, wird von vielen als Zeichen für einen neuen Kriegsschauplatz in der Unterdrückung der Medien gesehen.
Am 5. November 2016 wurden 5 der 13 Festgenommenen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die übrigen 8 und 2 Personen, die später im Jahr verhaftet wurden, blieben in Untersuchungshaft im Gefängnis Silivri. Anwälte haben im Namen der 10 inhaftierten Cumhuriyet-Mitarbeiter den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen wegen der Verletzung von Artikel 5 (Recht auf Freiheit) und 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Unter den Festgenommenen befinden sich der Chefredakteur, Murat Sabuncu, der langjährige Kolumnist Kadri Gürsel, sowie der Karikaturist Musa Kart. Nach 5 Tagen Polizeihaft beantragte der Staatsanwalt Untersuchungshaft und erhob den Vorwurf, sie hätten im Auftrag einer terroristischen Vereinigung gehandelt und Propaganda für diese Organisation gemacht (Artikel 220/6 und 220/8 des türkischen Strafgesetzbuchs). Zentraler Anklagepunkt ist der Vorwurf, die politische Linie und die Inhalte von Cumhuriyet seien von der Gülen-Bewegung gesteuert worden, um den Staat zu unterminieren.
„In meiner 30 Jahre währenden journalistischen Karriere habe ich immer gemäß meines eigenen freien Willens und der Prinzipien und ethischen Grundsätze meines Berufes gehandelt. Ich habe immer meine ethische Integrität bewahrt. Ich habe niemals etwas im Auftrag von jemand anderem geschrieben." Kadri Gürsels Aussage vor Gericht am 5. November 2016 „Der Staatsanwalt, der diese Ermittlungen führt, sogenannte Beweise gegen uns sammelte und unsere Inhaftierung beschloss, steht selbst unter Anklage wegen FETÖ-Mitgliedschaft. Es ist klar, dass eine solche Person keine Untersuchung gegen uns leiten kann … Ich glaube, dass unser Recht auf ein faires Verfahren verletzt wird und dass wir auf ungesetzliche Art und Weise unserer Freiheit beraubt werden.“ Eidliche Aussage vor Gericht von Murat Sabuncu, Chefredakteur von Cumhuriyet, 5. November 2016
Kadri Gürsel wurde zu einer seiner Kolumnen befragt, die am 12. Juli 2016 erschienen war − 3 Tage vor dem Putschversuch. In der Kolumne mit dem Titel „Erdoğan möchte unser Vater sein“ schrieb er: “Angesichts der Situation, dass Erdoğan sich uns als unser Vater aufdrängen will, ist alles, was die Türkei braucht, ein rebellischer Sohn wie Muhammed Bouazizi, von dem der Funke für den Sturz des Diktators in Tunesien ausging. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich möchte nicht nahelegen, (dass dieser rebellische Sohn) sich opfern sollte wie Bouazizi. Er sollte eine Zigarette anzünden und sie nicht ausdrücken.“ Der Staatsanwalt argumentierte, dieser Kommentar „habe verdeckt oder durch eine unterschwellige Botschaft auf den (bevorstehenden) Staatsstreich hingewiesen“. Kadri Günsel weist diese Anschuldigung zurück.
Musa Kart, dessen Karikaturen etwa 15 Jahre lang täglich auf der Titelseite der Cumhuriyet zu finden waren, wurde befragt zu Äußerungen früherer Mitarbeiter der Zeitung, zu Schlagzeilen und Artikeln anderer Journalisten und sogar zu einer Protestaktion vor dem Zeitungsgebäude am 3. November 2016, als er sich bereits in Polizeigewahrsam befand.
Weitere Verhaftungen von Personen, die mit Cumhuriyet in Verbindung standen, folgten.
Akın Atalay, ein Mitglied des Vorstands und Anwalt der Zeitung, wurde am 16. November festgenommen. Gegen ihn war ein Haftbefehl erlassen worden und er stellte sich nach einem Auslandsaufenthalt den Behörden.
Der investigative Journalist Ahmet Şık wurde am 29. Dezember inhaftiert und am folgenden Tag in Untersuchungshaft genommen. Ihm wird vorgeworfen, er habe Propaganda sowohl für die „FETÖ“ als auch die PKK gemacht. Der Vorwurf der Propaganda für die PKK stützt sich auf ein Interview, das er im März 2015 mit einem PKK-Führer gemacht hatte.
Ahmet Şık hat bereits Erfahrungen mit politisch motivierter Verfolgung und Inhaftierung: Von März 2011 an war er über ein Jahr in Untersuchungshaft aufgrund seines Buches Die Armee des Imam, in dem er den Vorwurf erhoben und detailliert begründet hatte, Personen, die gegenüber dem Kleriker Fethullah Gülen loyal seien, hätten staatliche Institutionen unterwandert. Fethullah Gülen war zu dieser Zeit noch eng mit der regierenden „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) verbunden.
2014 klagte Ahmet Şık vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgreich gegen seine Inhaftierung. Der Gerichtshof befand, sein Recht auf Freiheit, auf Meinungsfreiheit, sowie sein Recht auf Beschwerde gegen seine Inhaftierung seien verletzt worden. Am 30. Januar 2017 erhoben die Anwälte von Ahmet Şık Klage vor dem Verfassungsgericht. Sie beantragten, die Feststellung, dass seine gegenwärtige Inhaftierung unrechtmäßig ist und sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt wurde. Zur Zeit der Abfassung dieses Berichts lag noch keine Entscheidung des Gerichts vor.
„Ich weise die Anklagen, die gegen mich erhoben werden, zurück. Gegenstand der Untersuchungen sind meine beruflichen Aktivitäten, mit anderen Worten: Journalismus.“ Aussage von Ahmet Şık vor Gericht am 30. Dezember 2016
Am 4. April 2017 wurde schließlich eine 306 Seiten starke Anklageschrift gegen die Journalisten und die Leitung der Cumhuriyet veröffentlicht. Insgesamt 19 Personen, einschließlich jener, die sich im Gefängnis Silivri befinden, wird gemäß Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches vorgeworfen, „eine terroristische Vereinigung unterstützt zu haben“. Musa Kart und dem Vorstandsmitglied und Anwalt Akın Atalay wird darüber hinaus „Vertrauensbruch“ (Artikel155/2 türk. StGb) vorgeworfen.
Die Anklageschrift enthält keinerlei Belege für Verbindungen zu terroristischen Organisationen oder für irgendwelche Handlungen, mit denen deren Ziele unterstützt wurden. Der größte Teil der Anklageschrift besteht aus Auflistungen regierungskritischer Artikel, Tweets oder investigativer Artikel, die sich voll und ganz im Rahmen des Rechts auf freie Meinungsäußerung bewegen. So werden zum Beispiel 8 Tweets, 2 Interviews und ein Artikel von Ahmet Şık als Beweis für seine Unterstützung der PKK/KCK, der DHKP-C und FETÖ/PDY angeführt ‒ drei Organisationen, die nichts miteinander zu tun haben und die völlig unterschiedliche, teilweise sogar entgegengesetzte Ziele verfolgen.
JOUNALISTEN; DIE WEGEN IHRER ANGEBLICHEN NÄHE ZU FETHULLAH GÜLEN VERFOLGT WERDEN
„Heutzutage bedeutet, Journalist in der Türkei zu sein, sehr unglücklich zu sein.“ Mikail Hasbek, Anwalt von Nazlı Ilıcak.
Nazlı Ilıcak, eine prominente Journalistin und politische Kommentatorin, befand sich im Urlaub im Süden der Türkei, als sie aus den Medien erfuhr, dass gegen sie ein Haftbefehl erlassen wurde. Nach Aussage ihres Anwalts wurde Nazlı Ilıcak am 26. Juli 2016festgenommen, als sie gerade auf dem Weg war, sich bei einer Polizeiwache zu melden. Sie wurde nach Istanbul in das Polizeipräsidium Gayrettepe gebracht.
Am 29. Juli wurde sie in Untersuchungshaft genommen mit der Begründung, sie sei an ihrer Ferienadresse nach Erlass des Haftbefehls nicht angetroffen worden. Daraus wurde geschlossen, es bestehe Fluchtgefahr und es wurde der Verdacht geäußert, sie könne Beweismittel manipulieren und Zeugen unter Druck setzen.
Zusätzlich zu dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der „FETÖ“ wurde Nazlı Ilıcak am 4. Oktober 2016 vom Staatsanwalt zu dem Vorwurf vernommen, sie habe versucht, “die Regierung zu schwächen oder sie daran zu hindern, ihre Aufgaben zu erfüllen“. Dies würde – im Falle einer Verurteilung – gemäß Artikel 312 türk. StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Bewährung führen. Darüber hinaus wurde ihr vorgeworfen, sie habe „Propaganda für eine terroristische Organisation“ gemacht. „ (Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes). Sie wurde zu einer Fernsehsendung befragt, die sie am Tag vor dem Putsch moderiert hatte.
"Ich begann für Can Erzincan TV (inzwischen wegen angeblicher Verbindungen zu „FETÖ“ per Dekret geschlossen) zu arbeiten, nachdem für den Sender Bügün TV (jetzt ebenfalls geschlossen) vom Staat Bevollmächtigte eingesetzt wurden und ich entlassen wurde. Am 14. Juli war ich gemeinsam mit Mehmet Altan Moderatorin einer Sendung, an der auch Ahmet Altan als Gast teilnahm. Während der Sendung habe ich nichts gesagt, was einen Putschversuch legitimieren könnte. Vor dem Putschversuch hatte es Gerüchte über einen möglichen Putsch gegeben. Ich erinnere mich, dass der Chef des Generalstabs diese Gerüchte zurückwies und sagte, er habe die Kommando-Strukturen innerhalb der Armee unter Kontrolle … Meine Aufgabe in dem Fernsehsender war es, eine Sendung zu moderieren – nicht mehr und nicht weniger." Nazlı Ilıcak
Zur Zeit der Abfassung dieses Berichts befand sich Nazlı Ilıcak immer noch im Frauengefängnis Bakirköy – seit über 9 Monaten. Sämtliche Anträge auf Entlassung auf Kaution wurden abgelehnt. Die Anklageschrift gegen Nazlı Ilıcak und 16 weitere Angeklagte wurde am 11. April 2017 veröffentlicht. Sie kann weder Briefe schicken noch empfangen, Besuche sind nur für eine Stunde pro Woche von nahen Angehörigen erlaubt. Über ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung ihres Rechts auf Freiheit (Artikel 5 des ECHR) und auf freie Meinungsäußerung (Artikel 10 des ECHR) wurde noch nicht entschieden.
Şahin Alpay, Journalist seit 30 Jahren und früherer Kolumnist der Zeitung Zaman, ist 73 Jahre alt und in schlechtem Gesundheitszustand. Er befindet sich seit dem 30. Juli 2016 in Untersuchungshaft und wird der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung („FETÖ“) beschuldigt.
„Als ich gebeten wurde, für Zaman zu schreiben, wurde die Gülen-Bewegung in politischen Kreisen noch positiv gesehen … Ich schrieb über die Notwendigkeit, ein ziviles Regierungssystem und eine Demokratie zu etablieren … Ich wollte auch wissen, warum Fethullah Gülen auf viele Menschen so anziehend wirkt, deshalb habe ich mich damit beschäftigt. Mein Resümee war noch bis zu den jüngsten Ereignissen, dass er eine moderne Version des Islam bot.“ Aussage von Şahin Alpay vor Gericht am 30. Juli 2016
Ein Antrag an das Verfassungsgericht auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Haftentlassung für Şahin Alpay aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands wurde abgelehnt. Ein Antrag auf eine vorrangige Prüfung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist noch anhängig. Zur Zeit der Erstellung dieses Berichts befand sich Şahin Alpay seit über 8 Monaten in Haft. Die Anklageschrift gegen ihn und 29 weitere Angeklagte wurde am 10. April 2017 veröffentlicht.
DIE ‚RED HACK‘ – ERMITTLUNGEN
„Meine Hände wurden auf dem Rücken gefesselt und ein Polizist der Sondereinheit war auf mir. Ich rief „meine Frau ist im neunten Monat schwanger, warum verlangen Sie, dass sie sich auf die Erde legt“ und versuchte aufzustehen. Es gab ein Handgemenge, jemand trat mir ins Gesicht.“ Mahir Kanaat, Beschreibung seiner Festnahme 25. Dezember 2016 um 4 Uhr morgens.
Mahir Kanaat ist Journalist bei der linksgerichteten Zeitung Birgün. Er war einer von 6 Journalisten, die am 16. Dezember verhaftet und 24 Tage im Polizeipräsidium in der Vatan Straße in Istanbul in Polizeihaft gehalten wurden. Seine Frau brachte ihr 2. Kind zur Welt, während er in Polizeigewahrsam war.
Nach Angaben seines Anwalts wurden Mahir Kanaat und die anderen Journalisten nicht verhört, ihnen wurde auch nicht der Grund ihrer Festnahme mitgeteilt. Als er schließlich nach 24 Tagen von einem Polizeiinspektor verhört wurde, wurde er gefragt, ob er die Mitglieder von „Red Hack“ kenne, (Ende von Blatt 12) einer Gruppe von Hackern, die im September 2016 Zehntausende von E-Mails veröffentlicht hatten. Einige sollen sie sich beschafft haben, indem sie die Mail von Berat Albayrak gehackt haben, dem Minister für Energie und Bodenschätze und Schwiegersohn von Präsident Erdoğan. Über die E-Mails wurde damals ausführlich berichtet, auch in Birgün.
Mahir Kanaat und die anderen fünf verhafteten Journalisten waren einer Twitter-Gruppe zugeordnet worden, die regelmäßig die gehackten E-Mails geteilt hatten. Sein Anwalt teilte Amnesty International mit, dass Mahir Kanaat selbst nicht über die gehackten E-Mails geschrieben hatte, aber über Twitter einen Artikel darüber geteilt hatte, der in Birgün erschienen war. Am 17. Januar 2017 wurden Mahir Kanaat und die anderen 5 Journalisten von einem Staatsanwalt vernommen.
„Schließlich saßen wir vor dem Staatsanwalt, dem das Protokoll meiner Vernehmung durch die Polizei nicht vorlag. Mein Anwalt übergab es dem Staatsanwalt, der mir die gleichen Fragen stellte. Zusätzlich befragte er mich zu meinen Verbindungen zur MLKP (der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei). Er verhörte mich nicht zu den (gehackten) E-Mails, die der Grund für unsere Inhaftierung waren. Der Staatsanwalt brauchte nur 15, höchstens 20 Minuten, um alle Aussagen zu lesen und Untersuchungshaft für uns zu beantragen.“
Das Gericht verhängte Untersuchungshaft für 3 der 6 Journalisten – Mahir Kanaat, Tunca Öğreten, den früheren Redakteur der Website Diken, sowie Ömer Çelik, den Nachrichtenchef der Nachrichtenagentur Dicle in Diyarbakir. Sie wurden der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Die 3 anderen Journalisten wurden freigelassen.
Deniz Yücel, der Türkei-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt, wurde am 14. Februar2017 festgenommen. Er war einer der Journalisten, die der Twitter-Gruppe zugeordnet wurden, die die gehackten E-Mails verbreitet hatte. Nach 13 Tagen in Polizeigewahrsam wurde Deniz Yücel vom Staatsanwalt verhört, der Untersuchungshaft für ihn beantragte. Er wurde der “Propaganda für eine terroristische Organisation“ und „Anstachelung der Öffentlichkeit zum Hass“ angeklagt.
Vom Staatsanwalt und dem Gericht wurde Deniz Yücel zu 7 Artikeln zu unterschiedlichen Themen vernommen, die nichts mit den gehackten E-Mails zu tun hatten. In seiner Aussage vor Gericht am 27. Februar 2017 legte er dar, dass die Fragen, die man ihm stellte, auf fehlerhaften Übersetzungen und unvollständiger Kenntnisnahme seiner Artikel basierten.
„Ich werde gut behandelt, aber die Einzelhaft, ist eine Art von Folter … Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich nur eine 6 m hohe Mauer. Aber trotz allem bin ich bei guter Gesundheit und Stimmung.“
Diese Nachricht gab Deniz Yücel über die Abgeordnete Şafak Pavey am 5. März 2017 weiter. Parlamentarier sind außer nahen Verwandten und Anwälten die einzigen Personen, die Gefangene besuchen dürfen, die unter den Notstandsbedingungen inhaftiert sind. Deniz Yücel ist weiterhin im Gefängnis Silivri inhaftiert. Der Antrag seiner Anwälte auf Freilassung wurde am 13. März 2017 abgelehnt mit einer Begründung, die in eklatanter Weise das Prinzip der Unschuldsvermutung verletzt. Das Gericht erklärte „die Texte des Angeklagten, die Gegenstand der Ermittlungen sind, verzerren willentlich und bewusst die Wahrheit um den Zielen einer ungesetzlichen bewaffneten Organisation zu dienen“.
DIE VERNICHTUNG DER KURDISCHEN MEDIEN
Im Juli 2015 brach der fragile Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK zusammen. In der Folge kam es zu bewaffneten Zusammenstößen und es wurden 24-stündige Ausgangssperren über Städte im Südosten der Türkei verhängt. Dies machte es sehr schwierig, Informationen aus der Region zu bekommen.
Die gravierenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit nach dem Putschversuch betrafen die Menschen besonders hart, die sich mit der Kurdenfrage und Menschenrechten befassen. Fast alle kurdischen Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen wurden inzwischen geschlossen.
DER FALL “JINHA”
„Sie sagen dir „Ich glaube, dass Sie Propaganda betrieben haben, jetzt verteidigen Sie sich mal“. Es sieht so aus, dass man beweisen muss, nicht gegen das Gesetz verstoßen zu haben, sie müssen dir keinen Gesetzesverstoß nachweisen.“ Beritan Canözer, Journalistin der Nachrichtenagentur JINHA
Beritan Canözer wurde festgenommen, als sie am 16. Dezember 2015 eine Protestveranstaltung gegen die Ausgangssperre in Diyarbakir beobachtete. Man warf ihr vor, sie habe sich „verdächtig verhalten“ und habe sich „der ungesetzlichen Demonstration angeschlossen“. Sie wurde zu der Anti-Terror-Einheit in Diyarbakir gebracht, wo sie drei Tage lang festgehalten wurde. Dann wurde sie wegen Mitgliedschaft in und Propaganda für eine Terrororganisation angeklagt und kam in das Gefängnis von Diyarbakir. Die Untersuchungshaft wurde begründet mit Einträgen in ihrem Notizbuch und der Tatsache, dass sie bei JINHA angestellt war, einer Nachrichtenagentur, die ausschließlich von Frauen betrieben wird und der man vorwirft, Propaganda für die PKK zu betreiben. JINHA wurde am 29. Oktober per Dekret geschlossen.
Am 13. März 2016 wurde Beritan Canözer nach mehr als 3-monatiger Untersuchungshaft in das Frauengefängnis Bakırköy in Istanbul überstellt. Sie erzählte Amnesty International: “Die Fahrt nach Istanbul in einem Transporter dauerte 25 Stunden. Neben mir waren noch vier andere Personen in dem Wagen. Wir waren die ganze Zeit mit Handschellen gefesselt. Eine von ihnen wurde noch einen Monat später wegen der durch die Handschellen verursachten Verletzungen behandelt. In der ganzen Zeit haben wir nur zweimal angehalten. Es war furchtbar.“
Beritan Canözer wurde zu Beginn ihres Prozesses am 29. März aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 10. Mai sprach das Gericht sie von dem Vorwurf der „Mitgliedschaft“ frei, verurteilte sie jedoch „wegen Propaganda für eine terroristische Organisation“. Grundlage des Urteils waren ihre Notizen, Mitteilungen in den sozialen Medien und Fotos auf ihrem Handy. Das Gericht stellte fest, ihre Mitteilungen in den sozialen Medien „legitimierten und lobten die Gewaltanwendung der terroristischen Organisation“. Keine dieser Mitteilungen enthielten eine Aufforderung zur Gewalt. Sie wurde zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt, die für 5 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Zehra Doğan, die Redakteurin bei JINHA, wurde am 21. Juli 2016 in Mardin im Südosten der Türkei festgenommen und am 23. Juli in Untersuchungshaft genommen unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in und Propaganda für eine terroristische Organisation.
„Nach meiner Festnahme in Mardin wurde ich (von zwei Polizistinnen) nackt durchsucht. Sie brachten mich zu der Anti-Terror- Einheit, wo ich wurde noch einmal nackt durchsucht wurde. Die Polizisten sagten mir: ‚Es gibt jetzt einen Notstand, alle Rechte sind auf unserer Seite, wir können machen, was wir wollen‘. Sie drohten mir Folter an. Einer von ihnen bot mir an, seine Geliebte zu werden, dann würde er mich retten. Es war schrecklich. Ich habe immer wieder gesagt, dass ich Journalistin bin.“ Zehra Doğan
Das Verfahren gegen Zehra Doğan basierte auf Zeugenaussagen von 9 Personen, die angeblich gesehen hatten, wie sie während der Ausgangssperre in Nusaybin (Provinz Mardin) mit Mitgliedern der YPS, der Jugendorganisation der PKK, gesprochen hatte. Ihr Verhör durch den Staatsanwalt dauerte nicht mehr als 10 Minuten. Sie sagte: “Der Staatsanwalt hatte bereits beschlossen, mich dem Richter zu überstellen und mich in Untersuchungshaft nehmen zu lassen“.
Im Gefängnis von Mardin wurde Zehra Doğan mit 51 anderen Frauen in einem Trakt des Gefängnisses untergebracht, (Ende von Blatt 14) der nur für 30 Personen ausgelegt war. Monatelang schlief sie auf Wolldecken auf dem Fußboden. Zugang zu Wasser gab es nur dreimal pro Tag für jeweils eine Stunde. Ihre Hände begannen zu zittern und ihre Haare fielen aus, was sie der schlechten Ernährung ohne genügend Nährstoffe zuschreibt.
Zehra Doğan wurde am 9. Dezember 2016 aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 3. März 2017 wurde sie von der Anklage der „Mitgliedschaft“ freigesprochen, aber verurteilt wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ auf der Basis von Mitteilungen in den sozialen Medien, von denen keine Anstachelung zur Gewalt enthielt. Sie wurde zu 2 Jahren, 9 Monaten und 22 Tagen Gefängnis verurteilt. Zur Zeit der Erstellung dieses Berichts war sie in Freiheit und wartete auf das Ergebnis ihres Berufungsverfahrens.
ÖZGÜR GÜNDEM
Die seit 25 Jahren wichtigste pro-kurdische Tageszeitung in der Türkei, Özgür Gündem, wurde per Dekret am 16. August 2016 zunächst vorübergehend und am 29. Oktober endgültig geschlossen. Die Tageszeitung war die einzige Zeitung in der Türkei, die aus einer linken kurdischen Perspektive berichtete und Erklärungen der PKK auf Türkisch veröffentlichte.
Die Schließung im August ging einher mit der Festnahme von 24 Journalisten und anderen Mitarbeitern, zu denen auch die Schriftstellerin Aslı Erdoğan und die Sprachwissenschaftlerin Necmiye Alpay gehörten, die sich an einer Solidaritätsaktion für Özgür Gündem beteiligt hatten. Der Herausgeber Zana Kaya und der Chefredakteur Inan Kızılkaya wurden am 22. August in Untersuchungshaft genommen. Zana Kaya, Aslı Erdoğan und Necmiye Alpay wurden am ersten Prozesstag, dem 29. Dezember 2016, freigelassen. Inan Kızılkaya befand sich jedoch zur Zeit der Erstellung dieses Berichts noch in Haft. 9 Personen sind in dem Verfahren angeklagt; ihnen wird die Herausgabe und Arbeit für eine Zeitung vorgeworfen, die „unter der Direktive der Terrororganisation steht, in ihrem Namen spricht und offen Propaganda für sie macht“. Zu den in der Anklageschrift aufgeführten Beweismitteln gehört eine Liste von über 100 Artikeln. Es wird jedoch nicht dargelegt, welche Aspekte in den Artikeln den Tatbestand der vorgeworfenen Straftaten erfüllen.
SCHLUSSFOLGERUNG
Lebendige und pluralistische Medien sind wichtig dafür, dass alle Mitglieder der Gesellschaft ihre Menschenrechte wahrnehmen können. Das betrifft nicht nur das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit, sondern auch diverse andere Menschenrechte. Das Recht auf Meinungsfreiheit beschränkt sich nicht darauf, offen sprechen zu können, sondern umfasst auch das Recht, sich Informationen zu beschaffen, sie zu erhalten und sich eine eigene Meinung auf der Grundlage frei verfügbarer Informationen zu bilden. Die Auswirkungen der sich dramatisch verschlimmernden Situation für die Meinungsfreiheit in der Türkei greifen nicht nur in das Leben derjenigen ein, die im Fokus der Regierungsangriffe auf die Medien stehen. Die lange Inhaftierung von Journalisten bringt ihre Stimmen zum Schweigen, hat einen einschüchternden Effekt auf andere und schafft eine große Lücke in der öffentlichen Debatte. Für die Freilassung der inhaftierten Medienschaffende zu sorgen, spielt also eine Schlüsselrolle bei der Schaffung einer besseren Zukunft für die Menschenrechte in der Türkei.
Offene Kritik des Menschenrechtsbeauftragten des Europarats, des UN-Sonderberichterstatters für die Meinungsfreiheit, sowie des OSZE-Beauftragten für die Freiheit der Medien haben dazu beigetragen, das Ausmaß und die Schwere der Verletzungen des Rechts auf Meinungsfreiheit in der Türkei deutlich zu machen. Kritik anderer Staaten kam dagegen nur zögerlich und begrenzt, abgesehen von wenigen wichtigen Ausnahmen, z.B. der deutlichen Worte der deutschen Kanzlerin zu der Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel von Die Welt.
Alle, die die Möglichkeit haben, Einfluss auszuüben ‒sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei‒ tragen eine Verantwortung und sollten Druck auf die Türkei ausüben, die katastrophale, sich in den letzten Monaten und Jahren immer weiter zuspitzende Unterdrückung der Medien zu beenden.
EMPFEHLUNGEN AN DIE TÜRKISCHE REGIERUNG
1. Journalisten und Medienschaffende, die verhaftet wurden, nur weil sie ihre journalistische oder sonstige Arbeit im Medienbereich ausgeübt haben, müssen freigelassen und die Anklagen gegen sie fallen gelassen werden. Die Verfolgung und Inhaftierung von Journalisten und Medienschaffenden muss beendet werden.
2. Sorgen Sie dafür, dass Medienschaffende ohne Drohungen, Drangsalierungen oder Einschüchterungen ihrer Aufgabe nachgehen können, gesellschaftliche Themen zu kommentieren, die Öffentlichkeit zu informieren, Informationen und Ideen weiterzugeben, und nicht für Meinungsäußerungen, verfolgt werden, solange sie damit nicht zu Gewalt aufrufen.
3. Sorgen Sie dafür, dass Medienschaffende nur für konkrete Straftaten angeklagt werden. Diese Straftatbestände müssen in den Gesetzen eindeutig formuliert sein, so dass für jeden ersichtlich ist, was erlaubt ist und was nicht. Die Definition der Straftatbestände darf nicht unnötig und unverhältnismäßig in das Recht auf Meinungsfreiheit eingreifen.
4. Beenden Sie die routinemäßige Praxis langer Untersuchungshaft. Stellen Sie sicher, dass jede verhängte Untersuchungshaft regelmäßig von unabhängigen und unparteiischen Gerichten überprüft wird und dass Untersuchungsgefangene ausreichend Zugang zu Informationen haben, mit denen sie ihre Inhaftierung effektiv anfechten können.
5. Stellen Sie sicher, dass Medienschaffende in der Lage sind, ihren journalistischen Aufgaben ohne Drohungen oder Einschüchterungen nachzugehen.
6. Nehmen Sie die Dekrete Nr.668, 675, 677 und 683 zurück, die zur Schließung von 156 Medieninstitutionen geführt haben und geben Sie den geschlossenen Medien die Möglichkeit, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Jegliche Schließung oder andere Einschränkung von Medien muss sich in Übereinstimmung befinden mit den Verpflichtungen der Türkei, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu respektieren. Betroffene Medien müssen die Möglichkeit haben, derartige Maßnahmen vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht anzufechten.
7. Ändern Sie Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes („Propaganda für eine terroristische Organisation“) so, dass er klar und präzise formuliert ist und nur den Aufruf zu Gewalt unter Strafe stellt.
8. Stellen Sie sicher, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit auch unter Notstandsbedingungen darauf beschränkt werden, was angesichts der Situation unbedingt erforderlich ist und im Einklang stehen mit den Verpflichtungen der Türkei zur Einhaltung der internationalen Menschenrechtsstandards.
Übersetzung aus dem Englischen durch die Türkei-Koordinationsgruppe von Amnesty International. Verbindlich ist das englische Original ‚Journalism is not a crime‘