Ihre Nachricht vom: Ihr Zeichen: Unser Zeichen: Berlin, den: 31.05.2005 A 5 K 10656/04 EUR 44-05.020 20.09.2005
Sehr geehrte Damen und Herren,
zu Ihren Fragen bezüglich einer zu erwartenden Festnahme von Herrn A. nach einer Abschiebung in die Türkei und drohender Folter oder Misshandlung in diesem Zusammenhang nehmen wir wie folgt Stellung: Zu Ihrer Frage bezüglich der Gefahr einer Festnahme:
Da das „Gericht für schwere Straftaten“ in Ankara einen Haftbefehl gegen Herrn A. erlassen hat, ist davon auszugehen, dass dieser bei Einreise in die Türkei festgenommen und an das Gericht überstellt wird.
Der Grund für den Haftbefehl ist nach den vorliegenden Informationen das Sicherstellen des Erscheinens des Angeklagten vor Gericht, damit er eine für das Verfahren notwendige Aussage macht. In dem Moment, wo er dem Gericht überstellt worden ist und seine Aussage gemacht hat, wäre der Grund für eine weitere Inhaftierung rechtlich entfallen. Allerdings ist es möglich, dass auf der Grundlage des bestehenden, aber noch nicht rechtskräftigen Urteils ein erneuter Haftbefehl wegen Fluchtgefahr erlassen wird. Die vorausgegangene Flucht nach Deutschland könnte dafür als Begründung herangezogen werden.
Der dem Urteil zu Grunde liegende § 169 des alten türk. StGB ist in dem neuen Strafgesetzbuch in seiner bisherigen Form nicht mehr enthalten. Der an seine Stelle getretene § 315 tStGB n. F. stellt nur noch die Bereitstellung von Waffen für eine illegale Organisation unter Strafe, dies aber mit einem sehr viel höheren Strafmaß (10-15 Jahre Haft). Bezüglich des Umgangs der türkischen Gerichte mit noch anhängigen Verfahren des alten § 169 tStGB liegen uns noch keine Erfahrungen vor. Theoretisch wäre – je nach Fallkonstellation – die Anwendung von Art. 7 des Gesetzes zur Bekämpfung des Terrorismus (ATG) möglich.
Sie fragen weiter, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit nach einer Festnahme Misshandlungen seitens türkischer Sicherheitskräfte zu erwarten sind, und bitten um Stellungnahme zur Einschätzung des Auswärtigen Amts im Lagebericht 2005
Die Einschätzung des Auswärtigen Amts im Lagebericht zur Türkei vom 3. Mai 2005, es gehe „davon aus, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei nur aufgrund von vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten […] äußerst unwahrscheinlich ist“ (S. 34), ist unserer Ansicht nach nicht richtig. Auch wenn im Vergleich zu früheren Jahren von einer Reduzierung dieser Gefahr ausgegangen werden kann, werden Folter und Misshandlungen von den türkischen Polizeibehörden nach wie vor weit verbreitet praktiziert, und zwar aus verschiedenen Beweggründen. Dazu gehören: Erzwingung von Geständnissen, Erzwingung von belastenden Aussagen gegen bzw. Informationen über andere Personen oder Organisationsstrukturen, Hass gegen Personen, die von der Polizei aufgrund ihrer Aktivitäten, Ansichten, ethnischen Zugehörigkeit oder Organisationszugehörigkeit als Feinde angesehen werden sowie allgemein Machtdemonstration und Einschüchterung.
Im Falle der Abschiebung von Mitgliedern militanter politischer Organisationen gehen wir nach wie vor von einer Gefahr der Folter aus, vor allem wenn bei ihnen Kenntnisse über Organisationsstrukturen im Ausland oder in der Türkei vermutet werden.
Wir möchten weiter darauf hinweisen, dass die Formulierung des Auswärtigen Amtes im genannten Lagebericht, dass die Bekämpfung von Folter und Misshandlung „noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt [sei], dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen“ (S. 7) oder „Es ist der Regierung bis Ende 2004 noch nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden“ (S. 28), der Realität in der Türkei keinesfalls gerecht wird.
Dem Menschenrechtsverein IHD wurden für das Jahr 2004 insgesamt 843 Fälle von Folter und Misshandlung gemeldet. Auch amnesty international hält aufgrund der Informationen, die die Organisation erhält, Folter und Misshandlung in der Türkei immer noch für weit verbreitet.
Leider sind auch auf der rechtlichen Ebene erhebliche Rückschritte zu beobachten, indem die neue Strafprozessordnung, die am 1.6.2005 in Kraft trat, mehrere Verbesserungen rückgängig gemacht hat. Wir verweisen hierzu auf die beiliegenden aktuellen ai-Berichte („Memorandum on AI’s recommendations to the government to address human rights violations“ und Länderkurzbericht vom 31. Juli 2005).
Mit freundlichen Grüßen
Amke Dietert-Scheuer
– Länderkogruppe Türkei –
Für die Richtigkeit
Annelie Evermann
Länder und Asyl
Referentin Türkei