Asylgutachten: Verfolgungsgefahr bei exilpolitischen Aktivitäten

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12.07.2006 	        1 E 1455/06.A 	EUR 44-06.018 	30.11.2006

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihre Fragen aus dem Beweisbeschluss vom 12.07.2006, beantworten wir wie folgt:

Die Beantwortung der Frage, ob Herr X in Deutschland im Vorstand des „Mesopotamisch-Kurdischen-Kulturzentrums e.V.“ in Gießen ist, ist amnesty international nicht möglich, da uns diesbezüglich keine Informationen vorliegen. Auch können wir nicht mit Sicherheit bestätigen, dass Herr X im Rahmen einer politischen Sendung des Kurdischen Sender ROJ-TV zu Wort kam und sich ausführlich für die Arbeit des Senders in Kurdistan bedankte.

amnesty international liegen ebenfalls keine Informationen darüber vor, ob Herr X als Verantwortlicher für den Bereich Gießen, Wetzlar, Siegen, Marburg, Biedenkopf und Stadtallendorf als Vertreter am dritten Kongress der kurdischen Organisation CDK teilgenommen hat.

Für den Fall, dass die oben genannten Aktivitäten durchgeführt wurden, ist jedoch davon auszugehen, dass sie seitens der türkischen Behörden registriert wurden.

Es ist bekannt, dass die von kurdischen Exilorganisationen unternommenen Aktivitäten vom türkischen Geheimdienst beobachtet werden. Ebenfalls bekannt ist die Tatsache, dass der türkische Geheimdienst die auf ROJ-TV ausgestrahlten Sendungen mitschneidet und beobachtet.

Der kurdische Fernsehsender ROJ-TV, der (bis 2004 unter dem Namen Medya-TV aus Frankreich sendete und nun seinen Sitz in Kopenhagen hat, wird von der türkischen Regierung als Sprachrohr der PKK betrachtet.

In der Türkei wurden und werden fortlaufend Ermittlungsverfahren gegen Personen eingeleitet, die sich in Beiträgen auf ROJ -TV geäußert haben. In vielen dieser Fälle kommt es auch zu Anklagen und Verurteilungen.

So verurteilte das Amtsgericht in Cizre den Bürgermeister Aydin Bucak zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Seine Botschaft zum Opferfest, in der er davon gesprochen hatte, dass die Isolation von Abdullah Öcalan eine Provokation sei, war auf dem Fernsehsender ROJ-TV ausgestrahlt worden. Die Strafe wurde nach Artikel 220 (türkisches Strafgesetzbuch) tStG verhängt (Radikal vom 10.06.2006; siehe Anlage).

Auch wurde der Vorsitzende der DTP in Batman am 23.03.2006 unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation in Untersuchungshaft genommen. Er hatte in einem Fernsehprogramm auf ROJ-TV vom „verehrten Öcalan“ gesprochen. (Özgür Gündem/ANF vom 24.03.2006; siehe Anlage).

Gegen den Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir lief im Juni 2006 ein Strafverfahren am 5. Gericht für schwere Straftaten in Diyarbakir. Das Verfahren war wegen einer Rede im Fernsehsender ROJ-TV eingeleitet worden, die im Juni 2005 im Ausland gehalten wurde. Der Staatsanwalt forderte in seinem Plädoyer, dass eine Verurteilung nach

Art. 220/8 TStG, „Propaganda für eine illegale Organisation“ ergehen solle (Yeniden Özgür Gündem vom 22.06.2006; siehe Anlage). Das Verfahren wurde nach Presseinformationen zunächst auf den 14.11.2006 vertagt.

Schon aus der Fülle der Verfahren gegen Personen, die sich auf ROJ-TV geäußert haben, wird erkennbar, dass die Sendungen beobachtet und mitgeschnitten werden.

Allein die Tatsache, überhaupt auf einem pro-kurdischen Sender aufgetreten zu sein, kann als Unterstützung der PKK angesehen werden und zu Strafverfolgung führen. Je nach den Äußerungen in dem Redebeitrag kann es zu einer Anklage nach Art. 301 tStG (Verunglimpfung des Türkentums), nach Art. 216 tStG (ehemals 312 tStG; Aufstachelung zum Rassenhass) oder nach Art. 7 ATG bzw. 220/8 tStG (Propaganda für eine illegale bzw. kriminelle Organisation) kommen.

Im Falle einer erzwungenen Rückkehr in die Türkei wird die Flughafenpolizei, wie bei abgeschobenen Asylsuchenden üblich, Erkundigungen bei der Behörde des Heimatortes einholen. Dort wird das frühere Verfahren gegen Herrn X aktenkundig sein, so dass auch die Flughafenpolizei von einem möglichen Verfahren Kenntnis erlangen wird.

Im Falle einer Vernehmung wegen der vorher genannten Aktivitäten besteht weiterhin die Gefahr von Misshandlung oder Folter.

Die im Zusammenhang mit dem angestrebten Beitritt zu Europäischen Union eingeleitete Reformprozesse, welche eine Verbesserung der menschenrechtlichen Rahmenbedingungen zum Ziel hatten, sind in der letzten Zeit durch erhebliche Rückschritte gekennzeichnet.

So kam es kürzlich zu schweren polizeilichen Übergriffen in den kurdischen Provinzen.

Durch Schüsse der Polizei anlässlich von Demonstrationen kamen im April 2006 mehrere Personen ums leben (Hürriyet-Milliyet-Radikal-Özgür vom 01.-05. 04. 2006; siehe Anlage), eine Vielzahl von Personen wurde verhaftet, viele berichteten über Folter und Misshandlungen, darunter viele Kinder (Özgür Gündem vom 07./08.04.2006; Özgür Gündem vom 04.-06.04.2006; siehe Anlage).

Auch werden einige Änderung der türkischen StPO und des türkischen StGB unterlaufen und teilweise gar revidiert. So ist beispielsweise die mit dem neuen türkischen StGB eingeführte Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert worden, indem Folter und Misshandlung neuerdings einen allgemeineren Straftatbestand der „Qual“ darstellen, dessen geringerer Strafrahmen bloße Geld- und Bewährungsstrafen ermöglicht. Auch wurde die Möglichkeit der Straffreiheit bei Handeln auf Befehl eingeführt.

Diese Maßnahmen verdeutlichen, dass eine nachhaltige Verbesserung der menschenrechtlichen Rahmenbedingungen in der Türkei nicht gewährleistet ist.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Julia Duchrow
Türkeireferentin