Amnesty International
AI Index: EUR 44/015/2011, 10. November 2011
TÜRKEI: KCK-Verhaftungen vertiefen Befürchtungen wegen Einschränkung der Meinungsfreiheit
Am 1. November 2011 ordnete ein Gericht in Istanbul an, im Rahmen laufender Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in der Union der kurdischen Gemeinschaften (KCK) 44 Personen in Untersuchungshaft zu nehmen. Die KCK hat Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Amnesty International hat in einem Schreiben an die Behörden Besorgnis wegen der Verhaftungen ausgedrückt. Unter den Festgenommenen sind der Schriftsteller, Verleger und Menschenrechtsaktivist Ragip Zarakolu und Professorin Büşra Ersanlı. Die Verhaftung dieser beiden Personen ist besonders beunruhigend, da der Grund offenbar ausschließlich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit und in Vorträgen zu suchen ist, die sie vor der Politik-Akademie der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hielten.
Ragip Zarakolu und Professorin Büşra Ersanlı und den weiteren 42 Personen wird „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ nach der unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sehr bedenklichen Anti-Terror-Gesetzgebung vorgeworfen. Die Verhaftungen sind die vorläufig letzten aus einer Serie seit dem Jahr 2009. Viele der betroffenen Tausende sind Mitglieder oder Funktionäre der prokurdischen BDP, einer legalen politischen Partei. Hunderte sind noch in verlängerter Untersuchungshaft,während sie auf den Ausgang ihrer Verfahren warten.
Protokolle der Vernehmungen durch die Staatsanwälte zeigen, dass sowohl Ragip Zarakolu wie Büşra Ersanlı wegen ihrer Beteiligung an der Politik-Akademie befragt wurden. Büşra Ersanlı wurde wegen Ansprachen während verschiedener wissenschaftlichen Veranstaltungen befragt, und Ragip Zarakolu wegen verschiedener nicht veröffentlichter Manuskripte, die er verfasst oder für die er als Herausgeber fungierte.
Ragip Zarakolu wurde schon häufig unter Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung strafrechtlich verfolgt, unter anderem nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes wegen „Verunglimpfung des Türkentums“.
Obwohl die Staatsanwaltschaft kein Beweismaterial für eine Verbindung von Ragip Zarakolu oder Büşra Ersanlı zur KCK oder zu Terrorismus-bezogenen Vergehen vorlegte, wurden sie angeklagt und müssen in Untersuchungshaft bleiben.
Amnesty International kritisiert seit langem die Anti-Terror-Gesetzgebung der Türkei und ihre Anwendung. Die Definition von „Terrorismus“ ist sehr breit, vage, und es mangelt ihr an der nach internationalem Menschenrecht erforderlichen Bestimmtheit. Terrorismus wird eher über die politischen Ziele als über die Vorgehensweise und angewandten Mittel bestimmt1. Die Vorschriften, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellen, wurden ebenfalls missbräuchlich angewendet. Personen können der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation für schuldig befunden werden, ohne der Organisation anzugehören, wenn sie ein Verbrechen „im Namen einer solchen Organisation“ begangen haben sollen.
Strafverfolgung nach der Anti-Terror-Gesetzgebung beruht häufig auf geheimen Zeugenaussagen, die von Verteidigern nicht geprüft werden können. Amnesty International ist weiterhin besorgt, dass Personen wegen terroristischer Vergehen verurteilt wurden, ohne dass verlässliche Beweise vorlagen.
Amnesty International fordert die türkischen Behörden auf, unfaire Strafverfolgung zu unterbinden, indem die Definition von Terrorismus in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht und internationalen Normen gebracht wird, insbesondere nach den Prinzipien der Rechtmäßigkeit und Bestimmtheit.
Die türkischen Behörden sollten unverzüglich die laufenden Verfahren nach der Anti-Terror-Gesetzgebung überprüfen und dabei Richtlinien für die Anwendung von internationalem Recht und internationalen Standards an Richter und Staatsanwälte ausgeben.
Amnesty International fordert die türkischen Behörden auf, Ragip Zarakolu, Büşra Ersanlı und die anderen unter der Anti-Terror-Gesetzgebung festgenommenen Personen unverzüglich frei zu lassen, wenn sie nicht glaubwürdige Beweise über Vergehen vorlegen können, deren Strafbarkeit nicht internationales Menschenrecht verletzt.