Neue Gesetze gefährden Schriftsteller, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger

UA-121/2005 Index: EUR 44/016/2005 13. Mai 2005

Schriftsteller, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger

Eine Novellierung des türkischen Strafgesetzbuches, das dem türkischen Parlament zur Verabschiedung vorliegt, könnte dazu verwandt werden, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken und Personen als gewaltlose politische Gefangene zu inhaftieren. Das Gesetz birgt auch die Möglichkeit der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und behindert immer noch Anklagevertreter bei der strafrechtlichen Verfolgung der Folter.

Das neue Strafgesetzbuch wird von den türkischen Behörden als Reformmaßnahme zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes in der Türkei präsentiert, da damit eine Anpassung der nationalen Gesetze an die Anforderungen bei einem Beitritt zur Europäischen Union erreicht werden soll. Zwar enthält die Gesetzesnovelle viele positive Änderungen – so ist darin ein höheres Strafmaß für Folterer vorgesehen – gleichwohl sind darin zahlreiche Beschränkungen von Grundrechten enthalten. Bestimmungen in Bezug auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, die bislang dazu dienten, Regierungskritiker strafrechtlich zu verfolgen oder sie als gewaltlose politische Gefangene zu inhaftieren, sollen beibehalten werden. Paragraph 159 des alten Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung oder Verunglimpfung“ verschiedener staatlicher Institutionen unter Strafe stellte und dessen Abschaffung amnesty international wiederholt gefordert hatte, taucht im neuen Gesetz als Paragraph 301 im Abschnitt „Verbrechen gegen Symbole der staatlichen Souveränität und die Ehrung ihrer Organe“ (§§299 – 301) wieder auf. amnesty international befürchtet, dass diese Paragraphen auch in Zukunft dazu verwandt werden könnten, um legitime abweichende und kritische Meinungen zu kriminalisieren.

Darüber hinaus wurden neue Paragraphen hinzugefügt, welche die Grundrechte einschränken könnten. So stellt §305 des Gesetzentwurfes „Handlungen gegen fundamentale nationale Interessen“ unter Strafe. Die dem Entwurf beigefügten Kommentare für die erste Lesung im Parlament nannten als Beispiele für derartige Tatbestände „Propaganda für den Rückzug türkischer Soldaten aus Zypern oder die Akzeptierung einer für die Türkei abträglichen Einigung im Zypernkonflikt (…) oder die Anerkennung der These, entgegen der historischen Wahrheit, dass nach dem Ersten Weltkrieg ein Völkermord an den Armeniern begangen worden sei”. Nach Ansicht von amnesty international würde die strafrechtliche Verfolgung solcher Meinungsäußerungen, sofern sie nicht einen Aufruf zur Gewaltanwendung beinhalten oder nahelegen sollten, einen klaren Verstoß gegen internationale Schutzgarantien der Meinungsfreiheit darstellen.

Das neue Gesetz sollte am 1. April 2005 in Kraft treten, aber angesichts heftiger Einwände türkischer Journalisten gegen das novellierte Strafgesetzbuch, sie könnten damit in ihrer Arbeit erheblich eingeschränkt oder gar inhaftiert werden, willigte die Regierung ein, mit dem Inkrafttreten bis zum 1. Juni 2005 zu warten, um weitere Änderungen vorzunehmen. Am 3. Mai 2005 legte die regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AK) ihre Änderungsvorschläge vor. Sie beinhalten zwar einige kleinere Änderungen – hauptsächlich was die Abschaffung von Bestimmungen betrifft, welche ein höheres Strafmaß bei Verstößen gegen die Tatbestände durch Medienvertreter vorsahen – aber die Mehrzahl der restriktiven Paragraphen blieben unangetastet. In mindestens einem Fall versucht die Regierungspartei offenbar sogar zusätzliche Restriktionen hinzuzufügen. So soll nach ihrem Vorschlag §305 explizit dahingehend erweitert werden, dass er sowohl die strafrechtliche Verfolgung von türkischen Staatsbürgern als auch von „Ausländern“ vorsieht.

Paragraph 122 des Gesetzentwurfs, welcher die Diskriminierung auf der Grundlage von „Sprache, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, politischer Einstellung, philosophischer Überzeugung, Religion und Konfession und anderen Gründen“ verbietet, enthielt ursprünglich auch die „sexuelle Orientierung“ als zu verbietenden Diskriminierungsgrund. Diese Kategorie wurde aber zuletzt aus der Liste im Gesetzentwurf gestrichen. amnesty international befürchtet daher, dass eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung laut dem neuen Gesetz nicht unter Strafe gestellt werden soll.

Darüber hinaus betrachtet amnesty international mit Sorge, dass die Verjährungsvorschriften auch weiterhin für Prozesse gelten sollen, in denen sich Personen wegen Folter verantworten müssen. Zwar soll nach dem neuen Gesetz die Verjährungsfrist von siebeneinhalb auf zehn Jahre verlängert werden, aber da es in Folterprozessen gängige Praxis ist, das Verfahren bewusst in die Länge zu ziehen und mit Verweis auf die Verjährung schließlich einzustellen, ist damit zu rechnen, dass damit auch in Zukunft der Straflosigkeit Vorschub geleistet werden könnte. Angesichts der Häufigkeit solcher Fälle plädiert amnesty international für eine völlige Aufhebung der Verjährung für den Straftatbestand der Folter.

EMPFOHLENE AKTIONEN: Schreiben Sie bitte Telefaxe oder Luftpostbriefe, in denen Sie

  • sich angesichts der geplanten Novellierung des türkischen Strafgesetzbuches besorgt zeigen, die dazu führen könnte, dass Grundrechte unnötigerweise eingeschränkt und Personen wegen der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert werden;
  • die von der regierenden „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ eingebrachten Gesetzesänderungen begrüßen, aber darlegen, dass sie immer noch unzureichend sind, um das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Türkei zu gewährleisten;
  • die Behörden auffordern, die Anliegen von Pressevereinigungen und Menschenrechtsorganisationen zu berücksichtigen und problematische Paragraphen des Strafgesetzbuches wie §301 und §305 entsprechend abzuändern oder ganz abzuschaffen;
  • beanstanden, dass die Verjährungsvorschriften für Straftaten wie Folter und Misshandlung beibehalten werden sollen;
  • die Behörden auffordern, dafür Sorge zu tragen, dass es per Gesetz keine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gibt.

APPELLE AN:

Mr Recep Tayyip Erdogan, Office of the Prime Minister, Basbakanlik, 06573 Ankara, TÜRKEI
(Regierungschef – korrekte englische Anrede: Dear Prime Minister)
Telefax: (00 90) 312 417 0476

Mr Deniz Baykal, Leader of the Republican People’s Party, Cumhuriyet Halk Partisi, Çevre sokak No:38, Çankaya, Ankara, TÜRKEI
(Führer der oppositionellen Republikansichen Volkspartei – korrekte englische Anrede: Dear Sir)
Telefax: (00 90) 312 467 0996

KOPIEN AN:

Mr Abdullah Gül, Office of the Prime Minister, Basbakanlik, 06573 Ankara, TÜRKEI
(Außenminister und Minister für Menschenrechtsfragen)
Telefax: (00 90) 312 287 8811

Botschaft der Republik Türkei
S. E. Herrn Mehmet Ali Irtemcelik
Rungestraße 9, 10179 Berlin
Telefax: 030-2759 0915
E-Mail: turk.em.berlin@t-online.de

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 24. Juni 2005 keine Appelle mehr zu verschicken.

RECOMMENDED ACTION: Please send appeals to arrive as quickly as possible, in English or your own language:

– expressing concerns about the draft new TPC, much of which may be used to unnecessarily restrict fundamental human rights and which may lead to people being imprisoned for the peaceful exercise of their right to freedom of expression;

– welcoming the amendments tabled by the ruling AK party but stating that these seem to be insufficient to guarantee the right to freedom of expression in Turkey;

– urging the authorities to listen to the concerns of press and human rights groups, and take further steps to amend or abolish problematic articles of the TPC, such as Articles 305 and 301;

– expressing concern that the statute of limitations remains for crimes of torture and ill-treatment;

– asking the authorities to take steps to ensure that discrimination on the basis of sexual orientation is prohibited.