Türkei: Polizei schlägt friedliche Proteste gewaltsam nieder

Die türkische Regierung hat im Osten des Landes zwei gewählte Bürgermeister und eine Bürgermeisterin aus dem Amt enthoben. Friedliche Proteste gegen die willkürliche Absetzung schlägt die Polizei mit exzessiver Gewalt nieder.

Das türkische Innenministerium hat die gewählten Bürgermeister_innen der Provinzen Diyarbakır, Mardin und Van durch staatlich ernannte Verwalter_innen ersetzt. Die drei Provinzen sind wichtige Hochburgen der oppositionellen und prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi – HDP).

Das Ministerium berief sich in seiner Entscheidung vom 19. August auf Paragraf 47 des Gemeindegesetzes (Gesetz Nr. 5393), der es erlaubt, kommunale Vertreter_innen abzusetzen, wenn strafrechtliche Untersuchungen oder Verfahren gegen sie laufen. Gegen die drei abgesetzten HDP-Bürgermeister_innen laufen strafrechtliche Ermittlungen bzw. Verfahren nach den Antiterrorgesetzen. Diese Gesetze werden derzeit häufig genutzt, um gegen kritische Stimmen vorzugehen.

Am selben Tag teilte das Innenministerium mit, dass in Diyarbakır, Mardin, Van und 26 weiteren Provinzen 418 Menschen inhaftiert worden seien, darunter auch Mitglieder, Vertreter_innen und gewählte Ratsmitglieder der HDP.

Die Polizei setzte Wasserwerfer, Tränengas und Plastikgeschosse ein, um friedliche Proteste gegen die Amtsenthebungen aufzulösen. Einige Fälle exzessiver Polizeigewalt wurden aufgenommen und in den Sozialen Medien veröffentlicht. In den Videos ist zu sehen, wie Protestierende bei der Festnahme durch Polizeikräfte geschlagen oder anderweitig misshandelt werden. Im Zuge der Proteste sollen dutzende Personen willkürlich festgenommen worden sein. In vielen Provinzen wurden öffentliche Versammlungen für einen Zeitraum von 10 bis 30 Tagen verboten.

Amnesty International fordert seit langem ein Ende der missbräuchlichen Anwendung der türkischen Antiterror- und Demonstrationsgesetze, die häufig dazu eingesetzt werden, um legitimen politischen Dissens zu unterdrücken. Die türkischen Behörden müssen das politisch motivierte scharfe Vorgehen gegen kritische Stimmen beenden und die Gesetze sowie ihre Anwendung in Einklang mit internationalen Menschenrechtsnormen bringen.

Amnesty fordert darüber hinaus die sofortige Aufhebung des Versammlungsverbots sowie die umgehende und bedingungslose Freilassung aller Gefangenen, die nur deshalb in Haft sind, weil sie friedlich gegen die willkürliche Absetzung der gewählten Bürgermeister_innen in Diyarbakır, Mardin und Van protestiert haben.

Die Vorwürfe über unnötige und unverhältnismäßige Gewaltanwendung müssen umgehend unabhängig und unparteiisch untersucht und die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden.

Hintergrund

Nach dem Putschversuch von 2016 wurden in der Türkei im Rahmen des Ausnahmezustands Änderungen am Gemeindegesetz vorgenommen, um die Absetzung gewählter Bürgermeister_innen und ihre Ablösung durch staatlich ernannte Verwalter_innen zu erleichtern. Daraufhin wurden 99 Bürgermeister_innen abgesetzt und durch Verwalter_innen ersetzt. 94 von ihnen waren Mitglieder der Demokratischen Partei der Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi – DBP), der Schwesterpartei der HDP. Viele der entlassenen Bürgermeister_innen wurden festgenommen und über längere Zeit in Untersuchungshaft gehalten. Die an ihrer Stelle eingesetzten Verwalter_innen blieben bis zu den Kommunalwahlen im März 2019 im Amt. Die Bürgermeister_innen Adnan Selçuk Mızraklı (Diyarbakır), Ahmet Türk (Mardin) und Bedia Özgökçe Ertan (Van) gehören alle der prokurdischen und linksgerichteten HDP an. Sie sind die ersten, die seit der Wahl im März 2019 abgesetzt wurden.

Derzeit befinden sich zehn ehemalige Parlamentsabgeordnete der HDP und 46 Ko-Bürgermeister_innen in Haft, weil gegen sie im Rahmen der Antiterrorgesetze ermittelt wird. Im November 2018 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Inhaftierung des ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş politisch motiviert ist und ein Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt. Dies war der erste Fall dieser Art, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt wurde. In dem Urteil hieß es, seine Inhaftierung habe letztendlich dem Zweck gedient, “den Pluralismus zu unterdrücken und den freien politischen Diskurs einzuschränken”. Trotz dieses Gerichtsentscheids befindet sich Selahattin Demirtaş nach wie vor im Gefängnis.