Nils Muižnieks Europa-Direktor bei Amnesty International und ehemaliger Menschenrechtskommissar des Europarats
In der Londoner Zentrale von Amnesty International prangt ein großes Schild im Flur, das dazu auffordert, “Unrecht persönlich zu nehmen”. Für Aktivist_innen bedeutet dies zuzulassen, dass das Unrecht gegen andere uns persönlich berührt. Es ist dieses persönliche Gefühl von Unrecht, das uns motivieren sollte, unsere Stimme überall dort für Menschen zu erheben, deren Menschenrechte verletzt werden.In Europa gibt es einen prominenten Betroffenen von Unrecht, dessen Fall ich persönlich nehme. Die türkische Staatsführung scheint das auch zu tun, und um dies zu beweisen, hält sie ihn schon absurd lange hinter Gittern. Es geht um den Philanthrop Osman Kavala, einer der bekanntesten Menschenrechtsaktivist_innen der Türkei, der seit mehr als vier Jahren zu Unrecht inhaftiert ist.
Ich habe Osman Kavala nicht nur in meinem früheren Büro in Straßburg getroffen, als ich dort noch für den Europarat tätig war – dem die Türkei angehört –, sondern auch bei regelmäßigen Besuchen in der Türkei. Als prominenter Vertreter der seit längerem angeschlagenen türkischen Zivilgesellschaft und mit seinem umfassenden Wissen über die Vielfalt und Geschichte der Türkei war es immer eine Inspiration, mit ihm zu sprechen.
Osman Kavalas Analysen und sein Verständnis der Türkei waren für die Vertreter_innen internationaler Gremien von großem Wert, doch bekannt und geschätzt ist er vor allem als Förderer von Kunst und Kultur. Osman Kavala ist zudem Gründer der Türkischen Akademie für Politikwissenschaft in Istanbul, die Mitglied einer Vereinigung von 21 dem Europarat angeschlossenen Demokratieakademien ist. Wie es der Zufall will, bin ich der Präsident dieser Vereinigung.
Ich werde oft gefragt: Warum ausgerechnet Osman Kavala? Warum wird er mit einer unbegründeten Anschuldigung nach der anderen herausgegriffen?
Es ist allein Sache der türkischen Behörden, diese Frage zu beantworten. Aber die Fakten sprechen für sich, und der Straßburger Gerichtshof stellte dazu fest, dass Osman Kavala für seine Menschenrechtsarbeit bestraft und zum Schweigen gebracht werden soll. Dies ist eine deutliche Warnung an die türkische Gesellschaft: Unabhängig davon, wie legitim oder rechtmäßig eure Arbeit ist, könnt ihr für Jahre inhaftiert werden, ohne dass ein Schuldspruch ergeht.
Seit November 2017 sieht sich Osman Kavala einer abstrusen Anschuldigung nach der anderen gegenüber. Zuerst sollte er die Gezi-Park-Proteste organisiert und finanziert haben. Die Massenproteste richteten sich im Frühjahr 2013 gegen ein Stadtentwicklungsprojekt. Als ein Gericht ihn 2020 von dieser Anklage freisprach, wurde er sofort wieder festgenommen, weil er angeblich hinter dem gescheiterten Putschversuch von 2016 steckte, eine Anklage, die bald durch “militärische und politische Spionage” ersetzt wurde.
Im vergangenen Sommer wurden die drei Anklagepunkte gegen ihn in einer Abfolge von Ereignissen, die in einem Roman unglaubwürdig wären, in eine Anklage zusammengeführt, die 51 weitere Personen betraf. Dazu gehören 35 Fußballfans, deren Freispruch aus dem Jahr 2015 wegen “versuchten Umsturzes” während der Gezi-Proteste im April dieses Jahres, also sechs Jahre später, vom türkischen Kassationsgerichtshof aufgehoben wurde.
Im August wurde dieser längst vergessene Fall, der in keinem Zusammenhang mit Osman Kavala steht, mit den beiden bestehenden Verfahren gegen ihn – dem Gezi-Verfahren, in dem sein Freispruch in der Berufung aufgehoben wurde, und dem “Spionage”-Prozess – zu einem neuen Sammelverfahren zusammengelegt. Nun ließ sich kaum noch verschleiern, dass die türkischen Behörden versuchten, seine ungerechtfertigte Inhaftierung zu verlängern.
Die Form der “Gerechtigkeit”, die in der Anklage von Osman Kavala zum Ausdruck kommt, erinnert an den berühmten Satz aus Stalins Zeiten: “Zeige mir den Mann, und ich finde das Verbrechen.” Die türkische Führung hat ihren Mann gefunden und sucht weiter nach einem Verbrechen, das sie ihm anhängen kann. Die Türkei ist ein Land, in dem bereits Tausende von Richter_innen und Staatsanwält_innen aufgrund vager Anschuldigungen im Rahmen der Antiterrorgesetze entlassen bzw. inhaftiert wurden. Erst in der vergangenen Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Türkei die Freiheit und Sicherheit von 427 Richter_innen und Staatsanwält_innen verletzte, als diese nach dem Putschversuch von 2016 inhaftiert wurden.
Nicht nur ich finde die Anschuldigungen gegen Osman Kavala absurd. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Urteile die Türkei als verbindlich anerkannt hat, forderte in einem Urteil aus dem Jahr 2019 seine sofortige Freilassung, da seine Inhaftierung einen “Hintergedanken” verfolge – Osman Kavala zum Schweigen zu bringen. Seitdem hat das Ministerkomitee des Europarats – das Gremium, das sich aus den Stellvertreter_innen der Außenminister_innen der 47 Mitgliedsstaaten zusammensetzt und für die Umsetzung von Urteilen des Gerichtshofs zuständig ist – bereits sieben Mal die Freilassung von Osman Kavala gefordert.
Diese Woche können dieselben Mitgliedsstaaten bei ihrem Treffen zeigen, dass sie es ernst meinen, indem sie den Druck auf die Türkei erhöhen. Wenn sich die Türkei hartnäckig weigert, ihren Verpflichtungen nachzukommen und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen, könnten – und sollten – sie ein “Vertragsverletzungsverfahren” einleiten. Das bedeutet, dass das Urteil an den Europäischen Gerichtshof zurückverwiesen wird, um die Weigerung der Türkei zu verurteilen, dem verbindlichen Urteil nachzukommen. Dies ist in der Geschichte des Gerichtshofs erst ein einziges Mal geschehen, und zwar in der Rechtssache Ilgar Mammadov gegen Aserbaidschan, die schließlich zur Freilassung von Ilgar Mammadov führte.
Nach vier Jahren hinter Gittern, ohne strafrechtliche Verurteilung, mit absurden Anklagen ohne jede Beweisgrundlage, ist die Freilassung von Osman Kavala längst überfällig. Die Vertreter_innen der anderen 46 Mitgliedsstaaten des Europarates sollten die Türkei dazu bewegen, das Richtige zu tun, indem sie darauf beharren, dass die Menschenrechte eine gemeinsame Verantwortung sind und dass die Türkei die Regeln nicht länger missachten kann. Die Freund_innen der Menschenrechte müssen für ein Vertragsverletzungsverfahren stimmen, da eine Stimmenthaltung in dieser Woche praktisch bedeutet, dass die Türkei sich ihrer Verantwortung entziehen kann.
Schauen wir, wie es um das Gewissen Europas steht. Wird es die Rechte von Osman Kavala persönlich nehmen?