Urgent Action: Prof. Fincanci muss freigelassen werden

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Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau

Die Menschenrechtlerin Şebnem Korur Fincancı bei einer Demonstration in der türkischen Hauptstadt Ankara am 4. Februar 2022 © AP Photo/Burhan Ozbilic (Link auf amnesty.de)

 

+++ Update 12.1.23: Am Mittwoch, den 11. Januar, wurde Prof. Şebnem Korur Fincancı von einem Gericht in Istanbul für schuldig befunden, “Propaganda für eine terroristische Organisation” gemacht zu haben und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren, acht Monaten und 15 Tagen verurteilt. Amnesty kritisiert das Urteil als politisch motiviert. Die Gerichtsmedizinerin wurde für die Dauer des Berufungsverfahrens aus der willkürlichen Untersuchungshaft, in der sie seit dem 27. Oktober saß, freigelassen. +++
Die Vorsitzende der türkischen Ärzt*innenvereinigung, Prof. Şebnem Korur Fincancı, wird seit dem 27. Oktober 2022 in Untersuchungshaft gehalten. Die konstruierten Vorwürfe beziehen sich auf “Werbung für eine terroristische Vereinigung”. Anlass war ihre Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe, die türkischen Streitkräfte könnten in der irakischen Region Kurdistan chemische Waffen eingesetzt haben. Dies forderte sie in einem Live-Fernsehinterview. Prof. Fincancı ist somit allein wegen ihrer friedlichen Menschenrechtsarbeit in Haft und muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.

 

Appell an

Ankara Chief Public Prosecutor
Mr Ahmet Akça
Hacı Bayram Veli Mahallesi
Atatürk Bulvarı No:40 Sıhhiye/Ankara
Türkiye

Bitte abschicken bis: 30.11.2022

 

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Türkei
S. E. Herrn Ahmet Başar Şen
Tiergartenstr. 19-21
10785 Berlin

Fax: 030-275 90 915
E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

Amnesty fordert:

Ich fordere Sie höflich auf, umgehend die bedingungslose Freilassung von Prof. Fincancı zu veranlassen.

Musterbriefe und Online-Teilnahme

Urgent action auf amnesty.de

(Die Online-Teilnahme erfordert eine Registrierung)

Sachlage

Die bekannte Gerichtsmedizinerin Prof. Şebnem Korur Fincancı wurde in den frühen Morgenstunden des 26. Oktober bei sich zuhause in Istanbul festgenommen. Auf Antrag des Verteidigungsministeriums wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen Prof. Fincancı eingeleitet, weil sie eine unabhängige Untersuchung des mutmaßlichen Einsatzes chemischer Waffen in der Region Kurdistan im Irak gefordert hatte.

Am folgenden Tag kam sie in Untersuchungshaft, weil sie angeblich “Werbung für eine terroristische Organisation” gemacht hatte. Derzeit wird sie im Gefängnis von Sincan in Ankara festgehalten. Anfang Dezember nahm das Strafgericht für schwere Verbrechen Nr. 24 in Istanbul die Anklageschrift an und ihr Fall wurde von Ankara an Istanbul übergeben. Die erste Anhörung vor Gericht ist für den 23. Dezember um 9.30 Uhr Ortszeit anberaumt.

Die strafrechtliche Verfolgung von Prof. Fincancı stellt einen Missbrauch des Strafrechtssystems dar, da sie lediglich eine Untersuchung des Vorwurfs des Einsatzes verbotener Waffen gefordert hat. Die Ermittlungen sollen sie als Menschenrechtsverteidigerin zum Schweigen zu bringen, und verstoßen gegen die Pflicht der türkischen Behörden, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu wahren.

 

Hintergrundinformation

Prof. Şebnem Korur Fincancı ist Mitglied der Menschenrechtsstiftung der Türkei und Vorsitzende der türkischen Ärztevereinigung. Als Menschenrechtsverteidigerin war sie bereits in der Vergangenheit grundlosen strafrechtlichen Ermittlungen, Inhaftierungen und Strafverfahren ausgesetzt.

Im Jahr 2016 wurde Prof. Şebnem Korur Fincancı kurzzeitig in Untersuchungshaft genommen, als sie wegen ihrer symbolischen Rolle als Redakteurin der geschlossenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wegen “Werbung für eine terroristische Organisation” angeklagt wurde. Zusammen mit ihren beiden Mitangeklagten wurde sie 2019 freigesprochen, doch die Freisprüche wurden in der Berufung aufgehoben, und das Verfahren wird derzeit neu aufgerollt.

In den letzten sieben Jahren war auch die türkische Ärztevereinigung Gegenstand zahlreicher strafrechtlicher Ermittlungen auf der Grundlage der übermäßig weit gefassten Antiterrorgesetze der Türkei, und bekannte Mitglieder wurden inhaftiert und strafrechtlich verfolgt.

Am 19. Oktober kommentierte Prof. Fincancı in einer Live-Sendung des Fernsehsenders Medya TV die in den Sozialen Medien kursierenden Videobilder von bewaffneten PKK-Mitgliedern, die mutmaßlich unter den Folgen eines Chemiewaffenangriffs leiden. Prof. Fincancı erklärte daraufhin in wiederholten Kommentaren, dass sie lediglich eine unabhängige Untersuchung der Vorwürfe gefordert habe.

Am 20. Oktober beantragte das Verteidigungsministerium die Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung gemäß Paragraf 217/a des türkischen Strafgesetzbuchs, der die “absichtliche Verbreitung falscher Informationen in der Öffentlichkeit” unter Strafe stellt, Paragraf 216, der das “Anstiften der Öffentlichkeit zu Hass und Feindschaft” unter Strafe stellt, Paragraf 267/1 wegen “Verleumdung”, Paragraf 301 wegen “Verunglimpfung des Staates, staatlicher Einrichtungen und Organe” und Paragraf 7/2 des Antiterrorismusgesetzes wegen “Werbung für eine terroristische Vereinigung”.

Als die Anwält*innen von Prof. Fincancı am 21. Oktober von den Ermittlungen erfuhren, forderten sie die Akte bei der Generalstaatsanwaltschaft in Ankara an und teilten ihr mit, dass Prof. Fincancı ab Montag, dem 24. Oktober, nach ihrer Rückkehr von einem Besuch in Deutschland am 23. Oktober für eine Befragung zur Verfügung stehen würde. Die Akte wurde der rechtlichen Vertretung von Prof. Fincancı nicht zur Verfügung gestellt, als Prof. Fincancı nach einer Hausdurchsuchung der Polizei bei ihr in Istanbul am 26. Oktober festgenommen wurde. Sie wurde im Laufe desselben Tages nach Ankara gebracht. Dort inhaftierte man sie in der Antiterror-Abteilung der Sicherheitsbehörde. Am 27. Oktober wurde Untersuchungshaft gegen sie verhängt und sie wurde in das Sincan-Gefängnis in Ankara gebracht.

Nach den internationalen Menschenrechtsnormen und -standards obliegt dem Staat die Verantwortung für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte und folglich auch für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen, die auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Die Staaten haben die Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, die gegen Menschenrechtsverteidiger*innen begangen werden und mit ihrer Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger*innen zusammenhängen, und sicherzustellen, dass sie ihre Arbeit in einem sicheren und förderlichen Umfeld ausüben können.