Aris Nalci: Wir sind nicht allein

amnesty journal September 2007

»Wir sind nicht allein«

Ein Gespräch mit Aris Nalci, Nachrichtenchef der türkisch-armenischen Wochenzeitschrift »Agos«.

Am 19. Januar 2007 wurde der armenische Journalist und Schriftsteller Hrant Dink, Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung »Agos«, in Istanbul auf offener Straße erschossen. Tatverdächtig ist der 17-jährige Arbeitslose Oğün Samast aus Trabzon an der Schwarzmeerküste, ein Jugendlicher aus dem Umfeld einer ultranationalistischen Organisation. Am 2. Juli begann der Prozess gegen Samast. Hrant Dink, der den Dialog zwischen Armeniern und Türken unterstützte, wurde im vergangenen Jahr zu Unrecht nach Paragraph 301, »Beleidigung des Türkentums«, verurteilt. In einer Hetzkampagne hatten Ultranationalisten den Journalisten verleumdet, in seiner Zeitung »antitürkische Hetzparolen« verbreitet zu haben.

Wie haben Sie den Prozessauftakt gegen den mutmaßlichen Mörder von Hrant Dink erlebt?

Da der Hauptangeklagte minderjährig ist, fand die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Trotzdem erregte der Prozess sehr viel Aufmerksamkeit in den Medien. Das ist für uns enorm wichtig. Wir müssen Öffentlichkeit schaffen. Die Anklage gegen Dink wegen »Beleidigung des Türkentums« hatte damals fatale Folgen. Er wurde von den Ultranationalisten beschimpft und tätlich angegriffen, es war für ihn ein entsetzlicher Spießrutenlauf. Jetzt müssen wir versuchen, die Hintergründe dieser Verleumdungskampagne aufzudecken, damit sich in der Türkei etwas verändern kann.

Werden die Mitarbeiter von »Agos« noch bedroht?

Mittlerweile haben die Drohungen etwas nachgelassen. Kurz nach dem Mord an Hrant gab es noch einmal eine Welle von Schmähbriefen und Drohungen, auch zum Prozessauftakt Anfang Juli kam noch einmal ein ganzer Schwung, per Post und per E-Mail.

Das ist jedoch nicht vergleichbar mit dem Druck, unter dem »Agos« zu dem Zeitpunkt stand, als Dink wegen »Beleidigung des Türkentums« angeklagt wurde. Wir haben jetzt viel mehr Unterstützung als damals. Hinter uns steht eine Öffentlichkeit, die durch den Mord schockiert ist und verstehen möchte, was passiert ist. Wir sind nicht allein: Über hunderttausend Menschen sind nach der Beerdigung mit uns durch die Stadt gezogen. Das hat uns Mut gemacht. Wir haben ein Gefühl dafür bekommen, wie viele Menschen sich hier ein friedliches Zusammenleben ohne Hass wünschen.

Wie kam es zur Anklage gegen Hrant Dink?

Es ging um einen Artikel, in dem er die armenische Diaspora-Gemeinde angesprochen hatte. Er rief sie auf, sich vom Gift des Türkenhasses zu befreien. Die Ultranationalisten verbreiteten daraufhin, er habe behauptet, die Türken hätten vergiftetes Blut. Ein linguistisches Gutachten kam zwar zum gegenteiligen Ergebnis, dennoch wurde Dink verurteilt. Danach war es schwer, die Leute davon zu überzeugen, dass er diese Aussage nicht in dem kolportieren Sinne gemacht hatte.

Wie viele Verfahren wurden gegen die Zeitung geführt?

Es gab insgesamt drei Verfahren. Eine Anklage drehte sich um eine von Dink in Urfa 2002 gehaltene Rede. Darin hatte er gesagt: »Ich bin kein Türke, sondern ein Armenier aus der Türkei.« Deswegen wurde er wegen »Beleidigung des Türkentums« angeklagt, anschließend aber freigesprochen. Ein weiteres Verfahren wurde eingestellt. Zur Zeit läuft noch ein Prozess gegen Arat Dink, den Sohn Hrants, sowie gegen den Besitzer der Zeitung, Sarkis Seropyan. Dabei geht es ebenfalls um einen Artikel von Hrant Dink. Arat war damals Chef vom Dienst, als der Text veröffentlicht wurde. Deshalb muss er sich zusammen mit dem Verleger vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet wieder »Beleidigung des Türkentums«.

Wie beurteilen Sie die Meinungsfreiheit in der Türkei?

Neben dem Paragraphen 301, »Beleidigung des Türkentums«, gibt es noch eine ganze Reihe von Zensur-Paragraphen, wie zum Beispiel »Beleidigung der Streitkräfte« oder anderer staatlicher Institutionen. Es wird einige Zeit dauern, bis diese Paragraphen abgeschafft werden. Die Regierung bereitet derzeit eine Verfassungsänderung vor. Wir müssen abwarten, ob sie sich an diese heiklen Themen heranwagen wird.

Die Anklagen richten sich gegen Personen aus allen politischen Lagern, im vergangenen Jahr waren es etwa dreihundert. Mittlerweile ist die Zahl der Anklagen rückläufig. Das liegt auch daran, dass nach dem Mord an Dink viel über diese Paragraphen diskutiert wurde.

Beunruhigt Sie der wachsende Nationalismus in der Türkei und die ablehnende Haltung gegenüber der EU?

Ich würde beides nicht unbedingt miteinander koppeln. Es gibt auch viele Personen außerhalb des nationalistischen Lagers, die gegen den EU-Beitritt sind. Das ist eine normale Entwicklung. Die Menschen haben Angst vor Veränderung. Das war auch in anderen Beitrittsländern nicht anders.

Der Nationalismus nimmt zu, das ist richtig. Aber ebenso wachsen die Aktivitäten der Zivilgesellschaft, die sich Demokratisierung und Entwicklung im Land wünscht. Beide Entwicklungen sind normal. Ich habe nichts gegen Patrioten und einen positiven Nationalismus. Entscheidend ist, dass keine gesellschaftliche Gruppe zum inneren Feind erklärt wird, wie dies bei den Armeniern oft der Fall ist.

Glauben Sie, dass sich diese Haltung verändern wird?

Auf politischer Ebene bemüht sich die Regierungspartei um eine integrative Politik. Etwa die Hälfte der armenischen Wähler haben deshalb bei den Parlamentswahlen am 22. Juli für die Regierungspartei AKP gestimmt. Der Ministerpräsident sagte kürzlich, dass die abfälligen Passagen über die Armenier aus den Schulbüchern entfernt werden sollen. Die Bildungspolitik ist innerhalb eines umfassenden Demokratisierungsprozesses ein zentrales Element. Bei den Wahlen haben die Armenier nicht nur für die AKP, sondern auch für viele unabhängige Kandidaten gestimmt, die nun im Parlament die Minderheitenrechte vertreten werden. Davon erhoffen wir uns einiges. Gleichzeitig müssen wir selbst aktiv werden. Die Einrichtung eines armenischen Radiosenders ist geplant, damit man mehr über Armenier und ihre Denkweise erfahren kann. Nur so können Vorurteile abgebaut werden.

Wie steht es mit den Rechten für die Minderheiten?

Wir erwarten in der nächsten Legislaturperiode ab März die Verabschiedung des neuen Stiftungsgesetzes. Momentan gibt es vor allem beim Erwerb und der Verwaltung von Immobilien zahlreiche Hindernisse. Davon sind Kirchen und Kultureinrichtungen betroffen. Wenn es eine Regelung gibt, die es Stiftungen erlaubt, als Rechtspersonen aufzutreten, werden unsere Stiftungen besser arbeiten können.

Welche Bedeutung hat der Prozess um den Mord an Hrant Dink für die Türkei und die Meinungsfreiheit?

Die Hintergründe dieses Mordes werden bestimmte Strukturen im System offen legen, deshalb ist er so wichtig. Wie kommt es zu ungerechten Verurteilungen? Wer ist für die Verleumdungen verantwortlich, die letztlich zu dem Mord führten? Das Gericht hat erste Schritte unternommen, um nicht nur den Attentäter, sondern auch sein Umfeld zur Verantwortung zu ziehen. Gleichzeitig fällt es den Richtern noch schwer, dieses Umfeld als organisiertes Verbrechen zu behandeln, wie wir es uns wünschen. Unsere Zeitung und alle Menschen, die sich eine Demokratisierung der Türkei wünschen, werden sich dafür einsetzen, dass die Öffentlichkeit informiert wird. Das ist der einzige Weg, um etwas zu verändern.

  • Interview: Sabine Küper

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