Türkei: NACHBEREITUNG DER FÜNFUNDVIERZIGSTEN SITZUNG DES AUSSCHUSSES GEGEN FOLTER

AMNESTY INTERNATIONAL

Mai 2012, Index: EUR 44/007/2012

TÜRKEI: NACHBEREITUNG DER FÜNFUNDVIERZIGSTEN SITZUNG DES AUSSCHUSSES GEGEN FOLTER

Amnesty International hatte die Abschließenden Bemerkungen des Ausschusses gegen Folter (im folgenden „Ausschuss“) zur Türkei im November 2010 (UNdoc.CAT/C/TUR/CO/3) begrüßt und überreicht diesen Brief dem Ausschuss zur Kenntnisnahme, um fortbestehende Anliegen in Bezug auf die Prioritäten für die Nachbereitung zu illustrieren. Dieses Dokument konzentriert sich auf die Paragraphen 7, 8, 10 und 13 der Abschließenden Bemerkungen.

EINFÜHRUNG

Mit Ausnahme der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe durch die Türkei im September 2011 gab es sehr wenig Fortschritt bei der Bekämpfung von Folter und Straflosigkeit. Angehörige der Sicherheitskräfte wenden bei Demonstrationen weiterhin regelmäßig übermäßige Gewalt an. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde dies durch öffentliche Äußerungen aus höchsten Regierungskreisen offenkundig gebilligt. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle werden die Untersuchungen zu Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen nicht wirkungsvoll durchgeführt, und die Chancen bleiben gering, Angehörige der Sicherheitskräfte vor Gericht zu bringen.

PARAGRAPH 7: FOLTER UND STRAFLOSIGKEIT

Amnesty International ist besorgt, dass nach dem erfolgreichen Einlegen der Revision von 19 Beamten, die im Fall von Engin Çeber verurteilt worden waren, Verjährung eintreten kann. Im Februar 2012 begann ein neues Verfahren, das diese Möglichkeit eröffnet. Die Verantwortlichen für den Tod in Haft hätten dann keine Strafe zu erwarten. Der Kassationshof hat im September 2011 einstimmig das richtungsweisende Urteil vom Juni 2010 gegen die 19 Beamten wegen zwei Verfahrensfehlern aufgehoben:

Zum einen wegen Ungenauigkeiten im schriftlichen Urteil. Der Name der Schwester von Engin Çeber, die als Geschädigte am Verfahren teilnahm, wurde nicht aufgeführt, und das Datum des Urteils war fälschlicherweise als der 3. Juni 2010 anstelle des 1. Juni 2010 angegeben.

Zum zweiten wegen eines Interessenkonflikts auf Seiten der Strafverteidiger. Einige der Angeklagten wurden von demselben Anwalt vertreten. Der Kassationshof betrachtete das als Verletzung des Gesetzes über die rechtliche Vertretung, das bestimmt: „Ein Anwalt kann nicht die Verteidigung zweier Angeklagter übernehmen, deren Verteidigung sich gegenseitig negativ beeinflussen könnte“. Das Gericht verwies auf Artikel 6 der Europäischen Menschenrechts-Konvention über das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und argumentierte, diese Situation hätte das Recht der Angeklagten auf Verteidigung beeinträchtigen können. Anwälte berichteten Amnesty International, dass ihnen kein anderes Urteil des Kassationshofes bekannt sei, das einer Berufung aus diesem Grund statt gab.

In ihrer Eingabe zur fünfundvierzigsten Sitzung des Ausschusses hatte Amnesty International den scharfen Kontrast dargestellt, den die Ermittlungen und Strafverfolgung im Vergleich zu vielen anderen Fällen von Folter aufweisen. Im Fall von Engin Ceber waren unverzügliche und sorgfältige Ermittlungen erfolgreich und hatten zu Verurteilungen geführt. Das Folgeverfahren scheint nach dem Muster ineffektiver Strafverfolgung von Beamten zu verlaufen, die der Folter beschuldigt werden. Amnesty International ist besorgt wegen der unnötigen Verzögerungen. Es gab eine Verzögerung von zwei Monaten, bis das Urteil des Kassationshofes veröffentlicht wurde, eine weitere zweimonatige Verzögerung bis das neue Verfahren eingeleitet wurde, und eine darauf folgende Verschiebung der nächsten Verhandlung um erneut zwei Monate. Durch die Verzögerungen steigt das Risiko, dass Verjährung eintritt, und dadurch das Recht der Familie Çebers auf wirksamen Rechtsbehelf verletzt wird. Folter verjährt nach 15 Jahren, bei geringeren Vergehen nach fünf oder zehn Jahren.

PARAGRAPH 8: DAS FEHLEN WIRKSAMER, UNVERZÜGLICHER UND UNABHÄNGIGER UNTERSUCHUNGEN NACH STRAFANZEIGEN

Es gab keinen Fortschritt bei der Sicherstellung wirksamer, unverzüglicher und unabhängiger Ermittlungen nach Strafanzeigen. Wenn gegen Beamte Anklagen wegen Folter oder Misshandlung erhoben wurden, konnten diese durch verzögerte Gerichtsverfahren und Bewährungsstrafen einer Gefängnisstrafe entgehen und im Dienst bleiben.

Im Dezember 2011 unterließ es ein Gericht in Isparta, eine Freiheitsstrafe gegen einen Polizisten zu verhängen. Dieser war im Jahr 2009 gefilmt worden war, als er einen jugendlichen Demonstranten stellte und wiederholt mit dem Gewehrkolben auf den Kopf schlug. S.T., 14 Jahre alt, erlitt einen Schädelbruch und verbrachte nach dem Angriff sechs Tage auf der Intensivstation. Das Gericht reduzierte die Strafe, weil die Verletzung unbeabsichtigt war und sich aus den „Bedingungen in der Umgebung“ ergab. Der Beamte erhielt eine sechsmonatige Bewährungsstrafe und blieb im Dienst. Trotz der Empfehlungen des Ausschusses und der veröffentlichten Pläne des Innenministeriums ist Amnesty International besorgt darüber, dass immer noch keine wirksamen und unabhängigen Verfahren zur Behandlung von Anzeigen gegen die Polizei eingerichtet wurden, und keine weiteren diesbezüglichen Vorschläge bekannt sind.

PARAGRAPH 10: AUSSERGERICHTLICHE TÖTUNGEN

Amnesty International ist tief besorgt über die Ermittlungen im Fall der Bombardierung von Zivilisten durch ein türkisches Kampfflugzeug im Bezirk Uludere/Qileban in der südöstlichen Provinz Şırnak.

In der Nacht des 28. Dezember 2011 warf ein türkisches Kampfflugzeug im Bezirk Uludere/Qileban Bomben ab, durch die 34 Zivilisten, darunter 18 Kinder, getötet wurden. Die Behörden behaupteten zunächst, bewaffnete Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) getroffen zu haben. Später gaben die Behörden zu, dass es sich um zivile Schmuggler handelte, die aus dem benachbarten Irak kommend die Grenze zur Türkei überquert hatten.

Amnesty International begrüßt, dass finanzielle Entschädigung für die Familien der Getöteten bereitgestellt wurde. Die Organisation ist jedoch tief besorgt wegen der weiteren Entwicklungen seit der Ankündigung von Ermittlungen. Diese lassen bezweifeln, dass die Untersuchungen gründlich und unparteiisch durchgeführt werden und zu einer Aufklärung des Geschehens und zur Feststellung der Verantwortlichen führen können.

Aussagen von Zeugen gegenüber zivilgesellschaftlichen Delegationen – darunter politischen Oppositionsparteien, Rechtsanwaltskammern und eine Kommission von Menschenrechtsorganisationen – lassen darauf schließen, dass die Soldaten wussten, dass sich in Schmuggel verwickelte Ortsansässige an dem Ort aufhielten. Laut den Zeugenaussagen war den Soldaten bekannt, dass die Dorfbewohner gewohnheitsmäßig Schmuggel betrieben und tolerierten ihn. Sie wussten auch, dass am Tag der Bombardierung im Schmuggel tätige Dorfbewohner am Tatort waren. Des Weiteren deuten die Zeugenaussagen darauf hin, dass Dorfbewohner, die aus dem Irak gekommen waren, von Soldaten daran gehindert wurden, das Dorf Ortasu/Roboski wieder zu betreten. Die Soldaten forderten von ihnen, in der Gegend zu bleiben, die danach bombardiert wurde.

Menschenrechtsorganisationen, die den Vorfall untersuchen wollten, berichteten, dass ihren Mitgliedern von Soldaten die Genehmigung verweigert wurde, den Ort der Bombardierung zu besichtigen, aus „Sicherheitsgründen“. Regierungen dürfen Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen, zu deren Aufgaben die Beobachtung der Einhaltung von Menschenrechten oder humanitären Standards gehört, nicht daran hindern, Gebiete zu betreten, wenn es Grund zu der Annahme gibt, dass dort Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen humanitäres Recht begangen wurden. Amnesty International bat die Behörden um Erklärungen, warum den Delegierten der Zugang verweigert wurde, hat aber keine Antwort erhalten.

Die Art und Weise, wie die Ermittlungen von den Staatsanwälten durchgeführt werden, verstärkt Bedenken, dass die Umstände der Bombardierung nicht in vollem Umfang aufgeklärt werden.

Berichten zufolge haben die Staatsanwälte länger als einen Monat keine Zeugen vernommen. Weiterhin sollen sie keine Besichtigung des Tatorts durchgeführt haben, wegen „der Wut der dort versammelten örtlichen Bevölkerung und der Gefahr terroristischer Aktivitäten in der Gegend“. Diese Rechtfertigung erinnert an den Fall von Ceylan Önkol. Das Mädchen wurde im Jahr 2009 beim Viehhüten in der Nähe ihres Hauses getötet, vermutlich durch eine vom türkischen Militär abgefeuerte Mörsergranate. Auch hier wurde nicht sofort eine Tatortsbesichtigung durchgeführt. Mehr als zwei Jahre nach dem Tod von Ceylan Önkol sind die Ermittlungen immer noch nicht abgeschlossen.

Amnesty International ist ebenfalls besorgt über Berichte, wonach sich die Staatsanwälte auf Beweismaterial vom Ort der Bombardierung gestützt haben, das von Militäreinheiten bereitgestellt wurde. Die Unabhängigkeit der Ermittlungen wird dadurch in Frage gestellt.

Amnesty International hat die Behörden um Auskunft gebeten, warum die Untersuchungen als „Geheimsache“ eingestuft wurden und diese dadurch sowohl der Öffentlichkeit als auch den Anwälten der Familien der Opfer verschlossen blieben. Eine Antwort ist jedoch nicht eingegangen.

PARAGRAPH 13: ANWENDUNG ÜBERMÄSSIGER GEWALT DURCH SICHERHEITSKRÄFTE UND EINSATZ VON GEGENANZEIGEN ZUR EINSCHÜCHTERUNG VON PERSONEN, DIE ÜBER FOLTER UND MISSHANLDUNG BERICHTEN

Die Verurteilung von drei Transgender-Aktivisten im Oktober 2011 wegen „Widerstand gegen die Polizei“ und „Beleidigung der Polizei“ erregt ernste Bedenken bezüglich Gegenanzeigen, wenn Beschwerden gegen die Polizei eingereicht werden. Die Aktivisten waren nach einem Zwischenfall am 19. Juni 2010 festgenommen worden, als sie mit einem Auto durch Ankara fuhren. Nach ihren Angaben waren sie einer Aufforderung zum Anhalten gefolgt und wurden dann vom Auto weg gezerrt, von Polizisten misshandelt und willkürlich festgenommen. Bereits im Mai 2010 war ein ähnlicher Zwischenfall vorausgegangen, als zwei der drei Aktivisten festgenommen wurden und Angaben zufolge von der Polizei misshandelt wurden. In beiden Fällen erstatteten die Aktivisten Strafanzeige. Die Staatsanwälte entschieden jedoch, keine Verfahren einzuleiten.

Übersetzung durch die Türkei-Koordinationsgruppe, verbindlich ist das englische Original: Turkey: Follow-up procedure to the forty-fifth session of the Committee Against Torture