Memorandum an die türkische Regierung Januar 2008 Übersetzung: Türkei-Koordinationsgruppe. Verbindlich ist das englische Original.
Einführung
Nach den Wahlen im Juli vergangenen Jahres hatte die Regierung ihre Entschlossenheit bekräftigt, weitere Gesetzesreformen und Schritte auf dem Wege zu verbesserten Garantien für die Menschenrechte und Freiheiten in die Wege zu leiten. Amnesty International begrüßt diese Absichtserklärung und erkennt die Schritte an, die von der vorherigen Regierung unternommen worden sind, um die Menschenrechtssituation in der Türkei zu verbessern.
Allerdings hat es 2007 Rückschritte im Bereich der Menschenrechte gegeben. Menschen¬rechts¬¬verletzungen nahmen zu und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung waren nicht aus¬reichend. Amnesty International hat im Folgenden Themenbereiche und Empfehlungen für Maßnahmen aufgeführt, die notwendig sind, um dauerhafte und substantielle Verbesserungen bei der Wahrung der Menschenrechte zu erreichen. Neben der praktischen Umsetzung der gegen¬wärtigen Gesetzesreformen müssen dringend weitere Gesetzesänderungen vorge¬nom¬men werden und die gegenwärtige Regierung sollte die Chance für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nutzen, in der die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten geschützt werden.
InhaltsverzeichnisFolter, Misshandlung und Straflosigkeit
Amnesty International begrüßt es, dass die gegenwärtige Regierung ihre Politik der “Null-Toleranz gegenüber Folter” erneut bekräftigt hat. Bereits unter der vorhergehenden Regierung waren Fortschritte erzielt worden. In der 2005 verabschiedeten Neufassung des türkischen Strafrechts wurden die Strafen für Folter und Misshandlung erhöht und die Verjährungsfrist verlängert; Maßnahmen zum Schutz von Festgenommenen wurden eingeführt. Dies führte ohne Zweifel dazu, dass die Zahl der Fälle von Folter und Misshandlungen an offiziellen Haftorten gesunken ist.
Einen weiteren Meilenstein in der Rechtsprechung stellte das Urteil des Kassationshofes im Fall Birtan Altınbas dar. Nach zahllosen Verzögerungen des Verfahrens in den letzten neun Jahren, werden vier Polizisten schließlich doch noch zur Rechenschaft gezogen für den Foltertod von Birtan Altınbas 1991 in Polizeihaft in Ankara. Die Tatsache, dass die Haftstrafen bestätigt wurden, ist im Hinblick auf den Kampf gegen Straflosigkeit eine wichtige Entscheidung.
Neben diesen Fortschritten hat es jedoch auch Rückschritte gegeben. In den Verfahren wegen Folter und Misshandlungen wurden unabhängige medizinische Gutachten selten von Gerichten akzeptiert und die in der neuen Strafprozessordnung vorgesehene Einrichtung einer Justizpolizei wurde nicht umgesetzt. Die Neufassung des Anti-Terror-Gesetzes vom Juni 2006 erlaubt es, den Zugang eines Rechtsbestandes zu einem Festgenommenen erst nach 24 Stunden zuzulassen und gibt den Sicherheitskräften bei Operationen gegen “terroristische Organisationen” das Recht “direkt und ohne zu zögern“ tödliche Gewalt anzuwenden.
Auch das im Juni 2007 geänderte Gesetz über die „Befugnisse und Aufgaben der Polizei“ erweitert die Befugnisse der Polizei, Menschen anzuhalten, zu durchsuchen und tödliche Waffen einzusetzen. Das Gesetz erlaubt Polizisten, auf flüchtende Verdächtige zu schießen, wenn ein Befehl zum Halten nicht befolgt wird. Das Gesetzt sieht zwar das Prinzip der Verhältnismäßigkeit vor, das Gebot der Verhältnismäßigkeit beim Einsatz tödlicher Waffen ist aber eher beschreibend und nicht als Vorschrift formuliert. In der aktuellen Form entspricht das Gesetz nicht internationalen Standards für den Gebrauch von Feuerwaffen durch Sicherheitskräfte.
Während die Zahl der Berichte über Folter und Misshandlungen in Polizeihaft generell abgenommen hat, gibt es weiterhin Berichte über Folter und Misshandlung außerhalb offizieller Haftorte, z.B. bei Demonstrationen, in Gefängnissen und bei Gefangenentransporten. Es gab kaum unabhängige und effektive Untersuchungen nach derartigen Beschwerden und in zu vielen Fällen wurden die Verantwortlichen nicht gerichtlich verfolgt.
Muammer Öz berichtete Amnesty International, er sei am 29. Juli 2007 von Polizisten misshandelt wurde. Muammar Öz, ein Anwalt, hielt sich mit Familienangehörigen im Bezirk Moda in Istanbul auf, als sich ihm Polizisten näherten und nach seinen Identitätspapieren fragten. Er wurde von zwei Polizisten zunächst auf der Straße und anschließend im Polizeifahrzeug auf dem Weg er zur Polizeistation geschlagen. Eine ärztliche Untersuchung wurde in Gegenwart der Polizisten durchgeführt. In einem später erstellten unabhängigen Attest wurde festgestellt, das seine Nase gebrochen war, was in den ersten Arztbericht nicht erwähnt wurde. Muammer Öz reichte mit Unterstützung der Anwaltskammer Istanbul Klage ein. Zunächst verweigerte der Gouverneur von Istanbul die Genehmigung sowohl für interne als auch für strafrechtliche Ermittlungen zu dem Vorgehen der Polizisten. In einer vom Polizeipräsidium herausgegebenen Erklärung wurde behauptet, Muammer Öz habe sich die Verletzungen selbst zugezogen, als er beim Versuch vor der Polizei zu fliehen gefallen sei. Inzwischen wurde jedoch gegen die beiden beteiligten Polizisten ein Verfahren eingeleitet.
Der nigerianische Asylsuchende Festus Okey starb im August 2007, nachdem in Polizeihaft mit einer Polizeipistole auf ihn geschossen worden war. Obwohl ein Polizist wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt worden ist, bleiben viele Fragen offen. Offensichtlich wurden während des Verhörs keine Aufzeichnungen gemacht und wichtige Beweismittel, insbesondere das Hemd, das Festus Okey zur Zeit der Schüsse getragen hatte, haben die Polizisten angeblich verloren. Im Verlauf von gewaltsamen Demonstrationen, die sich besonders auf Diyarbakir konzentrierten, kamen zehn Personen ums Leben und es wurden zahlreiche Vorwürfe über Folter und Misshandlungen erhoben. Ein Ermittler von Amnesty International, der Kinder interviewt hatte, die festgenommen worden waren, kam zu dem Ergebnis, dass diese Behauptungen wider¬spruchsfrei und glaubwürdig seien. 21 Monate nach den Vorfällen wurde zwar ein Verfahren gegen 463 Personen wegen durch die Demonstrationen verursachter Sachbeschädigungen eingeleitet, jedoch kein einziges gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte eingeleitet.
Amnesty International fordert die türkische Regierung dringend auf, konkrete Schritte einzuleiten, um die Straflosigkeit von Staatsbediensteten bei schweren Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen.
Die folgenden Maßnahmen könnten ein wirksamer Beitrag dazu sein:
- Zentralisierung und Verbesserung der Sammlung von Daten zu schweren Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte, um ein klares Bild von der Rechtspraxis zu erhalten.
- Präventive Mechanismen:
- Ratifizierung des Optionalen Protokolls der Anti-Folter-Konvention und praktische Umsetzung durch die Schaffung eines unabhängigen nationalen Kontrollgremiums, das regelmäßig und unangemeldet Besuche an allen Arten von Haftorten durchführt;
- Einführung von Video- und Tonaufzeichnungen aller Verhöre durch Polizei und Gendarmerie.
- Sicherstellung von unverzüglichen, unabhängigen, unparteiischen und sorgfältigen Untersuchung aller Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte:
- Entwicklung eines effektiven Beschwerdesystems;
- Untersuchung der Verantwortlichkeit von befehlshabenden Beamten durch die Staatsanwaltschaft;
- Suspendierung von Beamten, gegen die Ermittlungen eingeleitet wurde, vom aktiven Dienst und Entlassung im Fall der Verurteilung;
- Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
- Maßnahmen gegen fehlerhafte Gerichtsverfahren:
- Es muss sichergestellt werden, dass Prozesse unparteiisch und fair geführt werden;
- Verzögerungen bei Gerichtsverfahren müssen verhindert werden.
- Gesetzesänderungen:
- Aufhebung von Artikel 10b des revidierten Anti-Terror-Gesetzes um eine
- Rückkehr zur Incommunicado-Haft zu verhindern
- Änderung von Artikel 2 des Anhangs zum Anti-Terror-Gesetz von Artikel 4 des Änderungsgesetzes zu dem Gesetz über die “Befugnisse und Aufgaben der Polizei” um sicherzustellen, dass die Bestimmungen zum tödlichen Schusswaffengebrauch durch die Sicherheitskräfte mit internationalen Standards übereinstimmen;
- Aufhebung der Verjährungsmöglichkeit für den Straftatbestand der Folter
- Verbesserungen im Bereich ärztliche Atteste und Gerichtsmedizin:
- Unabhängigkeit der Gerichtsmedizin vom Justizministerium;
- Förderung der Akzeptanz von ärztlichen und psychiatrischen Gutachten unabhängiger Experten als Beweismittel an Gerichten;
- Sicherstellung, dass die medizinischen Untersuchungen aller Festgenommenen sorgfältig, unabhängig und unparteiisch durchgeführt werden.
Besorgnisse hinsichtlich der Fairness von Gerichtsverfahren
Amnesty International hat seit langem Besorgnisse hinsichtlich der Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren, insbesondere für diejenigen, die nach dem Anti-Terror-Gesetz angeklagt sind. In sich lange hinziehenden und unfairen Gerichtsverfahren werden immer noch Aussagen als Beweismittel benutzt, von denen die Angeklagten behaupten, sie seien unter Folter erpresst worden.
Im Juni 2007 wurden Mehmet Desde und sieben andere Personen auf der Grundlage nicht bewiesener Behauptungen über Beziehungen zur Bolschewistischen Partei (Nord-Kurdistan/Türkei) verurteilt. Die Partei hat weder Gewalt angewendet noch befürwortet. Die Verurteilung von Mehmet Desde beruht hauptsächlich auf Aussagen, die mit der Begründung zurückgezogen wurden, sie seien unter Folter erpresst worden.
Seit Dezember 2006 ist Selahattin Ökten in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl beruht auf einem einzigen Beweismittels, das mit dem Vorwurf der Folter zurückgezogen wurde. Er wird angeklagt, bewaffnete Aktionen für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) durchgeführt zu haben.
Amnesty International fordert die Regierung auf, folgende Schritte zu unternehmen:
- Beendigung der Verwendung von Beweismitteln vor Gericht , die unter Folter oder Misshandlung erlangt wurden:
- Es muss sichergestellt werden dass alle Beweismittel, die durch Folter oder Misshandlungen erpresst wurden, in Übereinstimmung mit Artikel 148 (1) der Türkischen Strafprozessordnung und der UN Konvention gegen Folter bei Gerichtsverfahren ausgeschlossen werden;
- Alle anhängigen Gerichtsverfahren sollten überprüft werden, um die Verfahren zu
ermitteln, in denen der Vorwurf erhoben wird, dass Aussagen von Angeklagten oder Zeugen gesetzeswidrig durch Folter oder Misshandlung erlangt wurden;
-
- Strafverfahren, in denen wesentliche Beweismittel gegen den Angeklagten auf Aussagen beruhen, die unter Folter erpresst worden sein sollen.
- Verbot der Incommunicado-Haft
- Incommunicado-Haft sollte unter keinen Umständen gestattet werden, da sie die Anwendung von Folter oder Misshandlungen erleichtert.
- Sicherstellung des Prinzips der “Waffengleichheit” und des Rechts auf eine effektive Verteidigung: Es muss garantiert werden, dass Anklage und Verteidigung vor Gericht so behandelt werden, dass sie während des gesamten Gerichtsverfahrens verfahrensrechtlich eine gleichwertige Position haben und die gleichen Chancen haben, ihre Position zu vertreten („Waffengleichheit“). Dies schließt das Recht auf angemessene Zeit und Möglichkeiten für die Vorbereitung der Verteidigung ein.
Konkrete Forderungen:
- Aufhebung der Änderungen des Anti-Terror-Gesetzes (Artikel 9(d) und 9(e) des Gesetzes 5532), die das Recht auf eine effektive Verteidigung und das Recht auf vertrauliche Treffen zwischen Anwalt und Mandanten beschränken;
- Maßnahmen, die sicherstellen, dass – wenn nötig – Angeklagte das Recht in Anspruch nehmen können, während aller Stufen der Ermittlungen und während der Gerichtsverhandlungen einen qualifizierten Dolmetscher hinzuzuziehen;
- Sicherstellung des Rechts des Angeklagten, Zeugen zu laden und zu befragen. Die Praxis der Gerichte, legitime Anträge der Verteidiger, eigene Zeugen oder Zeugen der Anklage vor Gericht zu laden und sie ins Kreuzverhör zu nehmen,
willkürlich die zurückzuweisen, muss beendet werden;
-
- Es sollte dafür gesorgt werden, dass Staatsanwälte nicht länger auf der Richterbank sitzen, sondern auch in der Sitzordnung mit der Verteidigung gleichgestellt werden.
- Beendigung überlanger Untersuchungshaft und verzögerter Strafverfahren
- Das Recht aller Personen, denen eine Straftat vorgeworfen wird, auf ein Verfahren ohne übermäßige Verzögerung muss respektiert werden.
- Es muss sichergestellt werden, dass gegen Angeklagte, die sich während des Gerichtsverfahrens in Untersuchungshaft befinden, innerhalb angemessener Zeit verhandelt wird oder dass sie während des laufenden Verfahrens auf freien Fuß gesetzt werden, wenn die Dauer der Untersuchungshaft sonst die Verhältnismäßigkeit überschreiten würde.
- Versäumnis der Gerichte, Wiederaufnahmeverfahren nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofes sorgfältig und unparteiisch durchzuführen
- Es muss sichergestellt werden, dass Wiederaufnahmeverfahren sorgfältig und unparteiisch geführt werden. Dazu gehört eine „de novo“ Untersuchung aller Beweismittel und ihre gesetzeskonforme Verwendung, sowie die erneute Vorladung aller Zeugen, damit sie aussagen und von der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen werden können;
- Gemäß dem Recht auf die Unschuldsvermutung muss sichergestellt werden, dass Personen, die auf die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens warten, nicht automatisch inhaftiert werden;
- alle Personen, in deren Verfahren der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Prinzipien eines fairen Gerichtsverfahrens feststellt hat, müssen das Recht auf ein Wiederaufnahmeverfahren in der Türkei erhalten. Dazu muss der Ausschluss von Wiederaufnahmeverfahren für diejenigen, deren Verfahren am 4. Februar 2003 vor Gericht anhängig waren, aufgehoben werden.
Menschenrechtsverteidiger
Amnesty International ist besorgt darüber, dass Menschenrechtsverteidigern bei ihrer Arbeit nicht akzeptable Hindernisse in den Weg gestellt werden, darunter Gerichtsverfahren auf der Grundlage verschiedener Artikel des Strafrechts. Insbesondere einige bekannte Menschenrechtsverteidiger wurden mit einer sehr großen Zahl von Gerichtsverfahren überzogen. Menschenrechtsverteidiger wurden auch von bestimmten Anwälten, der Polizei und anderen Sicherheitskräften bedroht und eingeschüchtert. Die Behinderungen reichen von Überwachung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Freiheit, Untersuchungen durchzuführen bis zur Inhaftierung oder gar Ermordung. Gesprächsforderungen von Nichtregierungsorganisationen sind von der Regierung ignoriert worden und es hat Versuche gegeben, Organisationen zu schließen. Zur Verschlechterung der Situation trugen auch Äußerungen offizieller Stellen bei, die als weitere Unterminierung der Stellung der Menschenrechtsverteidiger empfunden wurden.
Erst kürzlich wurden von dem Gouverneursamt in Istanbul Schritte eingeleitet, den Verein „Lambda“, der sich für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transsexuellen einsetzt, zu schließen. Damit werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Vereinigungsfreiheit bedroht. Das Gouverneursamt begründet die Verfolgung damit, dass die Organisation „Gesetz und Moral verletzt“. Die nächste Gerichtsverhandlung in dem Schließungsprozess ist am 31. Januar 2008.
Es müssen Schritte unternommen werden um sicherzustellen, dass Staatsbedienstete die Legitimität der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern anerkennen. Gegen Staatsbedienstete, die das Rechtssystem und/oder das Verwaltungssystem der Regierung mit der Absicht missbrauchen, Menschenrechtler zu drangsalieren oder ihre legitime Arbeit zu behindern, sollten Sanktionen verhängt werden. Die Regierung sollte sicherstellen, dass Menschenrechtsverteidiger nicht für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung, Organisations- oder Versammlungsfreiheit verfolgt werden. Alle anstehenden Verfahren für Handlungen, die nach internationalen Standards geschützt sind, sollten gestoppt werden. In Zukunft sollten alle Ermittlungen gegen Menschenrechtsverteidiger von der Regierung kontrolliert werden. Der Schutz der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern wird dazu beitragen, dass die Gesetzesreformen umgesetzt werden können.
Menschenrechtsverteidiger haben ein Recht auf den Schutz des Staates wie jeder andere Bürger. Ereignisse wie das Versäumnis, den Mord an dem Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 zu verhindern und die darauf folgenden Fehler bei den Ermittlungen dürfen sich nicht wiederholen. Hrant Dink hatte den Staatsanwalt in Şişli darüber informiert, dass er Morddrohungen erhielt. In der Anklageschrift im Mordverfahren wird festgestellt, dass einer der Angeklagten Polizeispitzel war und in den Monaten vor dem Mord die Polizei mehrfach über die Mordpläne gegen Hrant Dink informiert hatte. Dennoch wurden keine Maßnahmen zu dessen Schutz ergriffen. Die Äußerung des Istanbuler Polizeichefs nach dem Mord, der Todesschütze habe allein gehandelt und das Verhalten der Militärpolizisten, die mit dem mutmaßlichen Täter für Fotos posierten als ob er ein Held sei, zeigen die fehlende Bereitschaft offizieller Stellen, den gesamten Hintergrund des Verbrechens zu untersuchen und tragen zu dem Eindruck der Voreingenommenheit von Teilen der Sicherheitskräfte bei. Der Fokus der Ermittlungen muss erweitert werden, um zu untersuchen, ob sich Polizeistellen und die Militärpolizei mit ihrem Verhalten strafbar gemacht haben.
Meinungsfreiheit
Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Menschen weiterhin wegen der friedlichen Äußerung ihrer Meinung verfolgt werden. Damit wird das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Türkei regelmäßig verletzt. Dies liegt teils an Mängeln in der Gesetzgebung, teils an der willkürlichen Umsetzung der Gesetze durch Richter und Staatsanwälte. Die Regierung muss dringend Schritte einleiten um beide Probleme zu beheben.
Amnesty International hat wiederholt die Aufhebung von Artikel 301 des Türkischen Strafgesetzes gefordert, weil er aufgrund seiner weit gefassten und vagen Bestimmungen eine massive Bedrohung der Meinungsfreiheit darstellt. Amnesty International ist besorgt darüber, dass die Zahl der eingeleiteten Verfahren nach diesem Artikel offenbar 2007 zugenommen hat.
Außenminister Ali Babacan hat eingeräumt, dass die Einschränkungen der Meinungsfreiheit weit über Artikel 301 hinausgehen und dass viele weitere Artikel geändert werden müssten .
Besonders dringlich ist eine Änderung der folgenden Artikel:
Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuches stellt die Aufstachelung der Bevölkerung zu Feindschaft und Hass und Verunglimpfung unter Strafe. Amnesty International stellt nicht in Abrede, dass Staaten das Recht haben, die Propagierung von national, rassistisch oder religiös motiviertem Hass, mit dem zu Diskriminierung, Feindschaft und Gewalt aufstachelt wird, zu verbieten. Dieser Artikel ist jedoch weiter gefasst als die entsprechenden Vorschriften in der internationalen Menschenrechtsgesetzgebung und er ist extensiv angewandt worden, um abweichende Meinungen zu verfolgen und oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes stellt Propaganda für eine terroristische Organisation oder für deren Ziele unter Strafe. Nach internationalen Standards ist die Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, z.B. zur Wahrung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung, prinzipiell zulässig, es muss jedoch in jedem Einzelfall nachgewiesen werden, dass dies Einschränkung notwendig und angemessen ist. Das in Rede stehende Gesetz wurde jedoch auch dazu verwendet, die friedliche Äußerung von Meinungen, mit denen keine Gewalt propagiert wurde, unter Strafe zu stellen.
Flüchtlinge und Asylsuchende
Amnesty International ist besorgt darüber, dass Flüchtlinge und Asylsuchende zwangsweise in Länder abgeschoben werden, in denen für sie möglicherweise die Gefahr von schweren Menschenrechtsverletzungen besteht. Dies ist ein Bruch des internationalen Rechtsprinzips des non-refoulement und steht im Widerspruch zu den Verpflichtungen der Türkei aus verschiedenen internationalen Übereinkommen, einschließlich der Anti-Folter-Konvention und der Europäischen Menschenrechts-Konvention. Amnesty International ist auch besorgt darüber, dass Asylsuchende keinen Zugang zu einem fairen Verfahren haben, in dem sie einen Flüchtlingsstatus erlangen könnten.
Der iranische Staatsbürger Ayoub Parniyani, seine Frau Aysha Khaeirzade und ihr Sohn Komas Parniyani wurden Berichten zufolge im Oktober 2007 zwangsweise in den Irak abgeschoben, wo aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation möglicherweise Gefahr für ihr Leben bestand. Die Abschiebung erfolgte, obwohl die Familienmitglieder von dem Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Ankara 2003 als Flüchtlinge anerkannt worden waren und das Recht auf internationalen Schutz hatten. Nach diesem Vorfall wurden im August fünf weitere anerkannte iranische Flüchtlinge zwangsweise in den Irak abgeschoben. Nach Angaben des UNHCR wurden die fünf nach ihrer Rückkehr einen Monat lang inhaftiert. Die Vorfälle sind Beispiele für ein allgemeines Verfahrensmuster, Flüchtlinge, die nach dem Mandat des UNHCR anerkannt wurden, zwangsweise aus der Türkei abzuschieben.
Im Juli wurden 135 Iraker in den Irak abgeschoben, nachdem ihnen das Recht auf Asyl verweigert wurde. Amnesty International wendet sich wegen der extremen Gewalt und instabilen Lage und wegen der weit verbreiteten Verstöße gegen die Menschenrechte in dem Land gegen alle Abschiebungen in den Irak . Viele irakische Zivilisten sind von bewaffneten Gruppen, Koalitionstruppen oder bewaffnete kriminelle Banden in verschiedenen Teilen des Landes einschließlich des Nordens getötet worden.
Derartige Abschiebungen, die das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen bedrohen, stellen eine offensichtliche Verletzung der Verpflichtungen der Türkei nach dem Prinzip des non-refoulement dar. Die Türkei darf keine Flüchtlinge abschieben, über deren Flüchtlingsstatus noch nicht in einem fairen Verfahren entschieden wurde. Die Regierung sollte konkrete Schritte unternehmen, um ein faires und effektives nationales Asylverfahren einzuführen und Flüchtlingen in Übereinstimmung mit internationalen Standards die Möglichkeit geben, in der Türkei integriert zu werden. Auch bis zur Verabschiedung und praktischen Umsetzung eines solchen Gesetzes muss die Türkei die Rechte von Asylbewerbern und Flüchtlingen in vollem Umfang achten, dazu gehört es, die Verfahren des UNHCR zur Feststellung des Flüchtlingseigenschaften einer Person zu respektieren, die Ansiedlung von Flüchtlingen in Drittländern zu ermöglichen und das Prinzip des non-refoulement einzuhalten.
Wehrdienstverweigerung
Amnesty International ist besorgt darüber, dass die Türkei das Recht auf Wehrdienstweigerung nicht anerkennt und dass es keine zivile Alternative als Ersatz für den Militärdienst gibt. Gegen Wehrdienstverweigerer werden weiterhin immer wieder Verfahren eingeleitet. Oft werden sie jedes Mal inhaftiert, wenn sie sich weigern, den Militärdienst anzutreten und erhalten bei ihrer Entlassung gleich einen neuen Einberufungsbescheid.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte im April 2006 im Fall des Wehrdienstverweigerers Ülke fest, dass diese Praxis der wiederholten Gerichtsverfahren und Verurteilungen gegen das Verbot der erniedrigenden Behandlung in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Dieses Urteil wurde jedoch von der türkischen Regierung nicht umgesetzt. Osman Murat Ülke wurde aufgefordert sich zu stellen, um die Reststrafe aus einer vorherigen Verurteilung aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen abzusitzen.
Am 4. Oktober wurde Enver Aydemir wegen Wehrdienstverweigerung vor ein Militärgericht gestellt. Er wurde freigelassen mit der Auflage, sich bei den Militärbehörden zu melden um den Militärdienst abzuleisten. Er beharrt jedoch auf seiner Verweigerung des Wehrdienstes.
Die Türkei sollte ihre Bereitschaft zeigen, das Recht auf Wehrdienstverweigerung anzuerkennen und auf weitere Anklagen gegen Enver Aydemir verzichten. Außerdem muss die Türkei das Ülke Urteil umsetzen, wie es auch von dem EU-Ministerrat in seiner jüngsten Interims-Resolution gefordert wurde . Bei einem vorherigen Treffen des Ministerrats im Juni 2006 hatte die türkische Delegation die Erarbeitung eines Gesetzentwurfes zugesagt, der der im Fall Ülke festgestellten Verletzung ein Ende machen würde. Die Regierung sollte bestätigen, dass dieses Gesetz tatsächlich in Arbeit ist und es schnellstmöglich einer öffentlichen Beratung zugänglich machen.
Zur grundlegenden Lösung der Problematik müssen Gesetze verabschiedet werden, die das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkennen und garantieren und eine echte zivile Alternative zum Militärdienst eröffnen, die nicht durch ihre Länge eine Bestrafung impliziert.
“F-Typ”-Gefängnisse
In den 2000 eingeführten “F-Typ” – Gefängnissen wird für Gefangene, von denen eine Gefährdung der Sicherheit befürchtet wird, die Haft in kleineren Zellen vollzogen, die das alte System der großen Haftsäle ersetzt haben. Amnesty International ist seit langem besorgt über das System der „F-Typ“ – Gefängnisse, insbesondere über die dort praktizierten harten und willkürlichen Disziplinarmaßnahmen und die Isolation der Gefangenen.
In Reaktion auf Beschwerden, dass Gefangene in Isolationshaft gehalten werden und ihnen der Umgang mit anderen Gefangenen verweigert wird, hat die Regierung im Januar 2007 den Erlass 45/1 herausgegeben. Darin wird angeordnet, dass Gefangene die Gele¬gen¬¬heit er¬halten sollen, bis zu 10 Stunden in der Woche mit anderen Gefangenen gemein¬sam zu verbringen. Dieser Erlass wird jedoch in den einzelnen Gefängnisses unterschiedlich umgesetzt und vielen Gefangenen wurden die in dem Erlass geforderten Zusammenkünfte verweigert.
Amnesty International fordert die Regierung auf, die Einzelhaft und Kleingruppen-Isolation als Strafmaßnahme für Gefangene abzuschaffen und die Zeiten für Zusammenkünfte entsprechend den internationalen Standards zu erhöhen. Als ersten Schritt sollte die Regierung Maßnahmen ergreifen, um die volle Umsetzung des genannten Erlasses sicherzustellen, die Gründe untersuchen, warum er in einigen Gefängnissen nicht befolgt wird und diese Ursachen, die z. B. in logistischen Problemen oder fehlenden Ressourcen liegen können, zu beheben.
Tötungen unter zweifelhaften Umständen
Amnesty International ist besorgt über die Berichte über Tötungen von Zivilisten durch Sicherheitskräfte, die oft auf einen unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt zurückzuführen sind und in manchen Fällen sogar den Tatbestand des staatlichen Mordes erfüllen könnten. Untersuchungen waren von zweifelhaftem Wert, da sie heimlich und ohne Benachrichtigung der Familien durchgeführt wurden, in einigen Fällen hatten die Sicherheitskräfte Beweismittel „verloren“. Besonders besorgniserregend ist der Tod von Bülent Karakaş, der am 27. September 2007 in Hozat in der Provinz Tunceli von einem Militärpolizisten erschossen wurde, weil er angeblich eine Stopp-Aufforderung nicht befolgt hatte. Rıza Çiçek, der bei diesem Vorfall schwer verletzt wurde, gab eine Schilderung der Umstände zu Protokoll, die von der der beteiligten Soldaten erheblich abwich. Nach seinem Bericht wurden die beiden Männer von der Militärpolizei aufgefordert, ihre Kleidung abzulegen, bevor auf sie geschossen wurde.
Ebenfalls höchst besorgniserregend ist die Erschießung von Ejder Demir am 13. September 2007 in Özalp in der Provinz Van. Untersuchungen von Mazlum-Der und dem Menschenrechtsverein (IHD), ergaben, dass Ejder Demir in den Tagen vor seiner Erschießung Morddrohungen von der Militärpolizei erhalten hatte. Nach Aussagen von Dorfbewohnern kam am 13. September eine Gruppe von Militärpolizisten in Zivilkleidung und mit einem zivilen Fahr¬zeug in das Dorf Yukarı Koçkıran und suchte nach Ejder Demir. Es wurde der Vorwurf erhoben, Ejder Demir sei in den Rücken geschossen wurde – was auch durch den Autopsiebericht bestätigt wurde. Dorfbewohner berichteten, die Militärpolizisten hätten sie daran gehindert Ejder Demir zu helfen, indem die sie wahllos in die Luft schossen.
Amnesty International fordert die Regierung auf sicherzustellen dass jegliche Anwendung tödlicher Gewalt unter Beachtung des Prinzips von Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit und der Vorgaben von internationalen Standards, einschließlich der Grundprinzipien der Vereinten Nationen zum Einsatz von Gewalt und Feuerwaffen durch Sicherheitskräfte erfolgt. Alle Berichte über Erschießungen durch Sicherheitskräfte müssen vollständig, unverzüglich, unabhängig und unparteiisch untersucht werden.
Gewalt gegen Frauen
Amnesty International ist besorgt, dass nur unzureichende Maßnahmen ergriffen wurden um Gewalt gegen Frauen zu verhüten. Zwar gab es Bemühungen die Zahl der Frauenhäuser für Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt wurden, die Quote von Frauenhäusern pro Einwohner, die den Gemeinden in einem Gesetz aus dem Jahre 2004 vorgegeben wurde, ist jedoch bei weitem nicht erreicht. Darüber hinaus sind weitere Bemühungen erforderlich. Auch der telefonischen Notruf für Frauen, dessen Einrichtung der Ministerpräsident mit Juli 2006 mit einem Erlass angeordnet hatte, wurde nicht eingerichtet. Amnesty International fordert die Regierung auf, verlässliche zentrale Statistiken über Fälle von Gewalt gegenüber Frauen vorzulegen und die Anordnungen des Erlasses des Ministerpräsidenten und des Gemeindegesetzes von 2004 in der Praxis umzusetzen.